- „Ich wollte den Menschen hinter der Maske“
Bekannt wurden sie, als sie mit Hack-Attacken gegen Internetzensur protestierten. Erkennbar sind sie durch die Guy-Fawkes-Masken. Wer aber steckt hinter der dubiosen Fassade? Das Enthüllungsbuch „Inside Anonymus“ vermittelt erstmals die menschliche Seite der Hacker. Cicero Online sprach mit Autorin
Was hat Sie dazu bewegt, über Anonymous zu
schreiben?
Geheime Gesellschaften haben mich schon immer fasziniert. Ich
verspüre außerdem den Drang zu verstehen, was Menschen dazu bringt,
Verbrechen zu begehen. Über Anonymous zu schreiben, versprach mir
all diese Elemente.
Als ich 2010 anfing, mich etwas intensiver mit Anonymous zu beschäftigen, fiel mir auf, wie wenig sich die Medien mit der Bewegung auseinandergesetzt hatten. Es gab so gut wie gar keine Interviews mit Leuten von Anonymous, niemand hatte versucht, die Charaktere hinter der Maske und den Computern richtig zu verstehen.
Ich wollte eine menschliche Geschichte hinter der Maske, hinter der Anonymität erfassen. Ich wollte die Kultur hinter der Bewegung verstehen, verstehen, wie die Welt der Anonymous ins Leben gerufen wurde.
Wie würden Sie Anonymous beschreiben? Als
Organisation?
Es ist
schwierig sie zu beschreiben, weil es so etwas wie Anonymous noch
nie zuvor gab. Ich beschreibe Anonymous gerne als Marke. Das
funktioniert, weil man sich mit Anonymous wie mit einer Marke
identifizieren kann, mit den Bildern, den Logos, dem Ethos.
Anonymous ist aber auch eine Bewegung, obwohl sie eigentlich viel zu chaotisch sind, um als solche bezeichnet zu werden.
Der Begriff der „Bewegung“ erinnert auch an „Ideologie“.
Gibt es denn eine Ideologie, welche Anonymous zusammenhält? Welchen
Geboten, Regeln oder Richtlinien unterwerfen sich die sogenannten
„Anons“?
Es gibt keine Ideologie in dem Sinne. Die meisten Hacker, vor allem
diejenigen, welche es eher darauf anlegen zu provozieren, würden
sich niemals irgendwelchen Regeln unterwerfen. Ich würde Anonymous
eher als anarchistisch bezeichnen als irgendetwas anderes.
Wenn ich Anonymous allerdings einer politischen Partei zuordnen müsste, dann würde ich sagen, Anonymous ist links ausgerichtet
Die meisten Charaktere in Ihrem Buch benutzen Pseudonyme
wie der Hacker „Kayla“, der sich als 16-jähriges Mädchen ausgibt.
Wie konnten Sie Fiktion von Realität zu unterscheiden?
Anonymous unterteilt sich in zwei Gruppen: Denjenigen, die
vorwiegend nur Streiche spielen und emotionale Reaktionen
provozieren wollen, und denen, welche eher politisch motiviert
sind. Nach einer Weile habe ich die Chat-Rhetorik der Anons
verstehen gelernt und somit auch zwischen den Zweien zu
unterscheiden.
Ich habemich mit unzähligen Personen unterhalten, aber um ein seriöses Buch zu schreiben, musste ich mich irgendwann auf einige Schlüsselpersonen festlegen. Vertrauen musste ich mir mit viel Geduld erarbeiten, denn die Anons sind eher misstrauisch, ja, fasst schon paranoid.
Das es sich bei Kayla um ein Pseudonym – und nicht tatsächlich um ein 16-jähriges Hacker-Mädchen – handelt, war mir von Anfang an klar. Allerdings schien jene Person so in ihrem Pseudonym verstrickt zu sein, dass ich mich entschloss, den Charakter durch das Pseudonym kennenzulernen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihre drei Hauptcharaktere,
als ob Sie sie kennengelernt hätten. Haben sie mit den Anons
ausschließlich über Chat kommuniziert, oder sie auch in Person
kennenlernen dürfen?
Diejenigen, die ich in Person kennenlernen durfte, sind in meinem
Buch nicht mit inbegriffen. Aber durch sie habe ich eine bessere
Vorstellung von den echten Menschen hinter Anonymous
bekommen. Meine Hauptcharaktere habe ich alle erst nach
Vollendung des Buches richtig kennengelernt, inzwischen wurden alle
drei verhaftet.
Jake Davis wurde festgenommen, weil er verdächtigt wird, Topiary zu sein. Ihn habe ich einen Monat vor seiner Festname in seinem Zuhause auf den Shetland Inseln besucht. Dort konnte ich etwas Einblick in sein isoliertes Leben bekommen.
Wie war es denn, die Charaktere kennenzulernen, nachdem
Sie sich bereits ein Bild von ihnen durch ihre Pseudonyme gemacht
hatten?
Es war schon ein absurdes Gefühl, diese Jungs plötzlich in
Lebensform zu sehen. Zuvor stand ich ausschließlich mit ihren
Pseudonymen via Chat in Kontakt. Die Begegnung war irgendwie
merkwürdig, aber auch wahnsinnig schön. Plötzlich sitzen einem da
freundliche, höfliche und intelligente Menschen gegenüber, von
denen man erst dachte, sie seien verkorkste, mysteriöse Geeks.
Vorurteile entsprechen eben meist doch nicht der Realität.
Seite 2: "Hacker sind hochintelligente Streber, die kann man nicht wie Schwerstkriminelle behandeln"
Wie läuft der Entscheidungsprozess innerhalb von
Anonymous ab?
Da es innerhalb von Anonymous keine Hierarchie gibt, haben die
Anons auch keinen Anführer. Anonymous hat nicht mal eine richtige
Struktur. Natürlich gibt es immer einige, die mehr Einfluss auf die
Gruppe haben als andere. Oft entstehen Angriffe ganz spontan. Da
gibt es einen lauten, talentierten Hacker, der etwas anstiften will
und allerlei andere, die mitmachen wollen. Oft starten auch ganz
kleine Gruppen, vier, fünf Leute einen Streich oder
Hack-Angriff.
Fälschlicherweise assoziieren die Medien Anonymous mit einer riesigen Gruppe. Wie viele Anons es aber tatsächlich gibt, weiß niemand. Es sind viel weniger als man meint. Wer was zu sagen haben will, muss Einfluss gewinnen, eine Weile dabei sein, gut hacken können. Aber eigentlich kann jeder mitmachen.
Jeder kann Anonymous beitreten und im Namen von
Anonymous handeln, heißt es. Besteht denn da nicht die Gefahr, dass
der Name von Anonymous schnell verschmutzt wird von Aktionen, mit
denen sich die Bewegung eigentlich nicht identifizieren
möchte?
Das ist in der Tat ein großes Problem von Anonymous. Da es keine
Grundregeln, keine richtige Ideologie gibt, sind sich die
verschiedenen Mitglieder auch oft nicht einig darüber, worum es bei
Anonymous eigentlich geht.
Diejenigen, welche Anonymous ins Leben gerufen haben, wollen
eben nur herumalbern, während andere in der Bewegung mittlerweile
ein großes potenzial für politische Veränderung sehen.
Dieser Zwiespalt ist natürlich ein Beiprodukt der Anonymität. Man
kann nicht alles kontrollieren. Das ist ja auch irgendwie das
Schöne an dem ganzen Chaos.
[gallery:Occupy Berlin – Asamblea vor dem Bundestag]
In Deutschland wurden vor einigen Tagen Hunderte von
Anons verhaftet, weil sie einen Angriff auf die GEMA gestartet
hatten. Halten Sie das für die richtige Art und Weise, mit dieser
Bewegung umzugehen?
Naja, bisher wurde noch niemand verurteilt, oder? Ich finde
einfach, dass man Hacker nicht wie Schwerstkriminelle behandeln
darf. Das sind hochintelligente Streber, die alles andere als
handgreiflich sind.
Harmlose Hacker mit Leuten einzusperren, die körperliche Gewalttaten begangen haben, finde ich fraglich. Außerdem ist es ja allgemein bekannt, dass man ein Gefängnis krimineller verlässt als betritt.
Wie gefährlich ist Anonymous denn? Muss man sich vor
denen fürchten; und wenn ja, wer?
Die Anons kontrollieren besonders geschickt, wie sie von der
Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Durch den selbst initiierten
Hype hat die Bewegung dafür gesorgt, das man sie ernst nimmt, dass
man sie fürchtet; und nun haben sie aller Ohren. Aber im Grunde
genommen sind die viel zu unorganisiert,um richtigen Schaden
anzurichten – obwohl sie es wahrscheinlich könnten.
Hatten Sie selbst beim Schreiben des Buches je Angst vor
Hackerattacken oder unerwarteten Besuchen?
Ich hätte mir gewünscht, einer der Hacker wäre mich mal besuchen
gekommen – ich wollte die Bande ja unbedingt besser
kennenlernen (lacht). Wenn mein Computer mal gestockt hat, hatte
ich manchmal Angst, ich könnte gehackt worden sein. Weil ich aber
sehr darauf geachtet habe, nur zu veröffentlichen, was vereinbart
war, hatte ich auch eigentlich nichts zu befürchten. Das einzige,
was einige von denen machen, ist mein Buch auf amazon mit nur einem
Stern zu bewerten – und das nervt! Diejenigen, die das Buch gelesen
haben, tendieren dazu, es mit mehr Sternen zu bewerten.
Was sind die meist besprochenen Themen auf den
Anonymous- Portalen?
In den Anonymous-Chatrooms wird sich oft über ganz alltägliche
Dinge unterhalten, wie Waschmaschinenhersteller oder ein gutes
Buch. Anonymous ist ebenso eine Gemeinde wie eine treibende Gewalt.
Manchmal kann es ganz still auf den Portalen werden, manchmal ganz
wild.
Themen, welche immer wieder mal auftauchen, sind Internetregulation,Menschenrechtsverletzung, und auch gerne Internet-Piraterie. Meistens taucht eine Diskussion als Reaktion auf einen Artikel oder ein Geschehen auf.
Haben Sie das Gefühl, dass Anonymous die Aufstände und
Proteste in der arabischen Welt beeinflusst und inspiriert
haben könnte?
Ich glaube nicht, dass sie es hervorgerufen haben. Aber sie haben
auf jeden Fall dafür gesorgt, dass dem Thema mehr Aufmerksamkeit
seitens des Westens unterstützt wird. Für viele ist Anonymous eine
Art Portal für politische Aufrufe geworden.
Inwiefern spiegeln Ihre drei Hauptcharaktere das
Phänomen Anonymous wieder?
Die richtige Stärke von Anonymous besteht nicht darin, sich in
Massen zu sammeln, wie sie es 2010 bei den Attacken auf Mastercard
und Paypal getan haben, sondern darin, sich in kleinen Grüppchen zu
mobilisieren.
Meine Hauptcharaktere zeigen das relativ schön. Sie unterscheiden sich alle in ihren Eigenschaften und Talenten. Sabu war ein fantastischer Hacker und irrsinnig sozial kompetent; sein Charakter hatte Führerqualitäten. Kayla war ein freier Geist, ein exzellenter Hacker und äußerst gut vernetzt. Topiary war zwar kein so guter Hacker wie die anderen beiden, dafür aber ein ganz besonders talentierter Vermarkter der Gruppe.
Wie sieht die Zukunft von Anonymous aus?
Schwer zu sagen. Bisher wurden viele festgenommen, aber noch nicht
verurteilt. Man wartet immer noch ab, was mit den Jungs von Pirate
Bay passiert; an denen wird meines Erachtens nach ein Exempel
statuiert. Je nach dem, wie das Verfahren abläuft, entwickelt sich
dann auch Anonymous in irgendeine Richtung.
Geht es den Mitgliedern von Anonymous denn wirklich
darum ihr Umfeld zu manipulieren, oder vielleicht auch darum,
Zuflucht in einer digitalen Gemeinschaft zu finden und sich hinter
einem virtuellen Avatar zu verstecken?
Ich glaube darum geht es im Internet sowieso. Bei Anonymous ist das
nicht anders; als Mitglied einer Gemeinschaft fühlt man sich
allerdings noch etwas wichtiger. Die aktivsten Anons waren im
echten Leben sehr unsicher, vorwiegend junge Männer ohne Jobs.
Anonymous ist nicht wegen der Hacker-Kultur so erfolgreich, sondern weil es für viele Leute eine Art Zuhause darstellt. Eine Welt, die sie verstehen, eine Gemeinschaft, in der sich sich wohl fühlen.
"Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands" ist jetzt auch in Deutschland erhältlich. Autorin Parmy Olson ist seit 2008 Leiter des Forbes Magazine Büros in London. Vor Ihrer Karriere bei Forbes war sie beim BBC und als Radio- Journalistin tätig.
Das Gespräch führte Mafalda Millies
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