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(picture alliance) Heimat muss man zugeben können, meint Andreas Maier

Andreas Maier - Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen

Die einen ziehen in den Prenzlauer Berg und wollen sich eine neue Heimat schaffen. Die anderen bleiben zu Hause, blenden aus und schönen sich ihre Bildbände. Warum ist es so schwierig, entspannt mit seiner Herkunft umzugehen?

Neulich stand ich in Ockstadt in der Wetterau, einem kleinen Dorf, an der Kelter. Wir machen dort Apfelwein. Der 16-jährige Sohn des Kelterwirts fragte mich, was eigentlich Heimat sei. Dieser Sohn ist in Ockstadt aufgewachsen und ganz und gar Wetterauer, näher gesagt Ockstädter, vom Scheitel bis zur Sohle und bis in die Tiefe seiner Seele hinein – freilich ohne es zu wissen. Ich sagte: Heimat ist das, was ständig verloren geht. Darauf er bloß: Hä?

Ich wies mit einer raumgreifenden Geste um mich, auf die umliegenden, alten Häuser, auf die Felder, und sagte: Was meinst du, was hiervon in 20, 30 Jahren noch übrig geblieben sein wird? Er schaute mich entgeistert an.

Heimat gibt es nicht. Sie ist eine Fiktion. Heimat ist so etwas wie unser erster Seelenzustand. Am Anfang ist alles um uns herum noch wie eine Ewigkeit. Eine Welt, als könne sie auf immer so bleiben wie sie ist. Heimat ist ein Sehnsuchtsraum. Wer konkret in einer Heimat lebt, erliegt einer Selbsttäuschung. Man kann an Vergangenem nur haften, wenn es verloren ist.

Bis in die „Heimat“-Bildbearbeitung durch die „Heimat“-Kundler geht die Heimatlüge (Heimatlüge: Herstellen eines nicht mehr existenten, vergangenen Zustands, als gäbe es ihn noch): Wenn ich den jüngsten Bildband über meine Heimatstadt Friedberg in der Wetterau aufschlage, sehe ich zuerst eine Perspektive von Osten, von dem Zuckerrübenfeld her, an dem ich aufgewachsen bin. Es ist natürlich genau die Perspektive, von der – einzig und allein – Friedberg noch in etwa so aussieht wie vor 150 Jahren. Man sieht die große Ringstraße nicht, die um die Burg gelegt wurde, man sieht die Neubausiedlungen nicht, und vor allem: Man sieht das riesige, inzwischen das Stadtpanorama beherrschende Industriegebiet im Süden nicht. Man sieht vielmehr: Alte Häuser, ein kleines Stadtbild, in der Mitte die Stadtkirche, davor blüht der Raps. Auf den nächsten Seiten erblickt man Detailansichten des Burgbergs, der Burgmauer, des Portals – was man nicht sieht, ist die B3 im Rücken des Fotografen. Wegen dieser B3 hat man jetzt eine Ortsumgehungsstraße gebaut und damit das halbe Feld zwischen Friedberg und Ockstadt (wo das obige Gespräch beim Keltern stattfand) wegplaniert. In jenem Bildband erscheinen die ersten Autos auf Seite 40 und kommen auch nur insgesamt drei Mal vor. Und zwar nur dort, wo es kameratechnisch unmöglich war, sie wegzulassen. Heimat, eine Ausblendung.

Heimatlüge, das ist ein hartes und schmerzhaftes Wort, und ich will es nicht einmal pejorativ gebrauchen. Und niemanden damit beleidigen. Dazu eine kleine Geschichte, nehmen wir sie auch als „Heimat“-Geschichte. In meiner Jugend war ich verliebt in die Tochter eines Buchhändlers. Jahrelang suchte ich die Buchhandlung, glaube ich, nur wegen ihr auf.

Vielleicht hätte ich ohne sie niemals all das gelesen, was ich damals gelesen habe. Ich holte sie an der Augustinerschule ab, dann spazierten wir am alten Landratsamt vorbei durch eine Gasse, die nicht mehr existiert, und liefen über das Feld nach Ockstadt, dem kleinen Kirschendorf im Westen Friedbergs. Auf dem Feld wies die Buchhändlertochter mit weiter Geste von Nord nach Süd und sagte, hier wollen die Wahnsinnigen eine riesige Straße hinbauen. Das war 1983, wir waren alle noch zu jung, um überhaupt nur einen Führerschein zu haben. Dieses Feld war für mich immer unser Feld. So wie diese Wetterauer Heimat immer meine Seelenlandschaft war, auch wenn ich niemals genauer schildern könnte, was das bedeutet.

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Später übernahm sie die Buchhandlung ihres Vaters und hatte freilich mit dem zu kämpfen, mit dem die ganze Kaiserstraße, unsere Hauptstraße und Haupteinkaufsstraße, zu kämpfen hat, nämlich mit dem Durchgangsverkehr und dem damit einhergehenden Parkplatzmangel. Kurzum, meine Buchhändlertochter wurde, nota bene durch die ökonomischen Zwänge, mit denen wir ja alle stets argumentieren, zur Verfechterin eben jener Ortsumgehungsstraße, die die „Wahnsinnigen“ dort bauen wollten. Heute nun, seit etwa eineinhalb Jahren, gibt es sie endlich, diese Straße. Mein Ockstädter Kelterbub fährt mit seinem Moped über sie hinweg, als habe es sie schon immer gegeben. Sie ist, glaube ich, bereits natürlicher Bestandteil seiner Welt, die die Wetterau ist.

Nun aber zurück zum Wort Heimatlüge, man könnte es auch Heimatschmerz nennen oder Heimatsehnsucht: Der besagte Bildband ist natürlich genau in jenem Verlag erschienen, der der Buchhandlung meiner ersten Liebe gehört. Als ich in der Buchhandlung neulich eine Lesung machte, schenkten sie mir das Buch. Das Buch ohne Auto. Das Buch, in dem sofort ausgeblendet wird, was sie wollten. Kaum war da, was sie wollten, musste es ausgeblendet werden, als gehöre es nicht neuerdings zu ihrer Heimat dazu. Das ist alles keine bewusste, absichtsvolle Lüge, nein. Es geht tiefer. Es zeigt etwas über uns und unser Verhältnis zu dem, was wir, den allfälligen und angeblichen ökonomischen Zwängen unterworfen, stets tun. Kurz: Es beinhaltet eine Aussage über uns selbst. Es zeigt, dass wir a.) zwar für notwendig halten, was wir tun, aber dass wir b.) mit unserem Tun so wenig einverstanden sind, dass wir gleich wieder ausblenden müssen, was wir eben getan haben. Als schämten wir uns dafür. Wir tun etwas und schämen uns dafür. Es zeigt, dass wir in unseren Handlungen nicht mit uns übereinstimmen. Wir sind mit uns uneins. Wir müssen uns verhehlen. Und so gehen wir durch das Leben.

Was ist Heimat? Auf Lesungen werde ich oft nach diesem Begriff gefragt, zumal seit ich mich selbst manchmal, mit entsprechendem Unterton, als Heimatdichter bezeichne. Ich sage, ich bin Heimatdichter, und alle sind gleich schockiert. Heimat ist eine gewaltige Schublade. Wer da hineingerät, hat verloren. Heimat, da wird es gleich ganz gemütlich. Wir Heimatdichter sitzen ja sozusagen in der Spinnstube, und es ist noch 1850 und die Welt noch in Ordnung. Arnold Stadler hat sich in seiner eigenen Bodensee-Heimat beerdigt, literarisch, Peter Kurzeck in Oberhessen, ich in der Wetterau. Da ist man einmal drin und kommt nie mehr heraus.

Und doch habe ich bei Arnold Stadler nie gelesen, dass es um Schwackenreute und den Schwarzwald geht, sondern immer um die gesamte Welt, die darin verhandelt wird, noch im kleinsten Ort und der kleinsten Seele vor Gott. Und bei Peter Kurzeck habe ich immer die gesamte Seelenlage der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhandelt gesehen. Universaler als jemand wie Peter Kurzeck kann man nicht schreiben. Universal heißt ja auch: den Menschen seiner Bedingtheiten zu entkleiden und ihn als sich selbst ins Dasein stellen. Auch in Schwackenreute, wo sie Most trinken. Auch als böhmisches Flüchtlingskind in Lollar. Stadler und Kurzeck, zwei Autoren, die völlig fernab der medialen Diskurse leben. Der eine schreibt sogar von Gott.

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Ich werde den Teufel tun, jemals den Begriff „Heimat“ inhaltlich zu füllen. Immer, wenn ich danach gefragt werde, was Heimat bedeutet, werde ich sprachphilosophisch. Jeder verwendet diesen Begriff. Und ich als Autor arbeite ja nicht mit den Worten, als gehörten sie allein mir, sondern ich weiß, dass die Worte im Leser schon immer vorhanden waren und da ihren eigenen Sinn- und Benutzungshorizont haben. Das heißt, ich gehe in erster Linie damit um, dass jeder Heimat als Wort schon immer benutzt, sei es positiv, sei es abwertend. Warum dieses Wort immer positiv oder negativ besetzt wird, kann ich gar nicht beantworten, beides gefällt mir nicht. Aber das Wort ist da, wie übrigens auch das Wort Gott. Die einen verbinden mit Heimat etwas ungemein Wichtiges, die anderen finden das völlig uncool und ziehen lieber nach Berlin und nennen dann das Heimat (Berlin, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Mitte), worüber die anderen, die zu Hause bleiben, lachen könnten, wenn sie nicht Angst hätten, sich dann noch umso mehr zu blamieren. Die einen wollen sich eine neue Heimat schaffen und gehen auf den Prenzlauer Berg, als ginge das. Die anderen bleiben zu Hause und blenden aus und schönen sich ihre Bildbände. Sie kommen über einen Bildband-Heimatbegriff meist ja nicht hinaus.

Heimat ist das Ungewählte. Es ist ein bisschen wie nackt vor dem lieben Gott zu stehen. Aber dafür muss man seine Heimat auch zugeben können. So wie sie ist.
Der Abstand zwischen dem Bild, das wir uns von unserem Sehnsuchtsort Heimat machen (mit dem Rücken zur nächsten vierspurigen Straße, damit sie nicht aufs Bild kommt), und der Heimat, wie wir sie selbst zurichten und verwandeln und stets ins Nichts hinabstoßen und dann sentimental werden und uns an ein Früher erinnern, als sei damals etwas besser gewesen – dieser Abstand ist nichts als das Bild unserer selbst. Das sind wir. Wir alle haben diese eigenartige Sehnsucht und handeln ihr stets zuwider. Das ist vielleicht das Einzige, was für mich am Begriff Heimat wirklich bedeutungsvoll ist. Indem wir das Wort benutzen, zeigen wir unseren eigenen Selbstwiderspruch.

Stets gehen in unserem Leben die Dinge sukzessive verloren, und wir lernen, dass nichts je auf dieser Welt stillsteht. Und doch haben wir genau danach eine Sehnsucht: Dass etwas festgefügt sei auf der Welt. Dass es eine Art Halt gäbe. Auch ein Innehalten der Zeit. Im besten Fall kann dieses Gefühl der verlorenen Heimat dann zu einer Handlungsanleitung werden. Vielleicht eine Anleitung zur Selbstbeschimpfung. Sich nicht mit Heimatkitsch ins Gesicht lügen. Und nicht die Heimat verlassen, als sei nur diese schlimm und es andernorts besser.
 

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