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(picture alliance) Zeigt die Kunst Wege aus der Krise?

Dokumenta-Rundgang (5) - „Fuck off“ oder was immer uns einfällt

„Zusammenbruch und Wiederaufbau“ ist ein Leitmotiv der documenta (13) in Kassel. Unser Autor hat sich gerade von seinem Partner getrennt. Findet er im Therapie-Angebot der Neuen Galerie Trost? Ein Erfahrungsbericht

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Die documenta (13) betrachte traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle, Katastrophen und Krisen, sagt die Leiterin Carolyn Christov-Barkargiev. Das ist meine Ausstellung. Denn ich bin in der Krise. Mein Freund und ich haben uns gerade getrennt.

Gut, dass es den „Anger-Workshop“ des australischen Bildhauers und Aktionskünstlers Stuart Ringholt gibt. Sein Therapieraum ist ein White Cube im Obergeschoss der Neuen Galerie, der an die Hölle von Selbsthilfegruppen erinnert: leer bis auf rotzfarbenen Teppichboden, kopierte Plakate, Stereoanlage und einen Bildschirm, auf dem sich ein Paar in Sportkleidung aus Leibeskräften anbrüllt.

[gallery:Collapse and Recovery - dOCUMENTA (13)]

In nur einer halben Stunde wird uns Ringholt beibringen, wie wir besser mit unserer unterdrückten Wut umgehen können, egal, ob wir nun verlassen wurden oder uns über den verpassten Bus ärgern. Er schließt die Türen. Wir sind mit ihm allein: zwei junge Mädchen, zwei ältere Frauen, ein einsam wirkender Mann, eine Freundin und ich. Wir gehen in Samurai-Haltung. Dann dreht er "Hard Techno" auf, wie er es nennt. Angefeuert von ihm brüllen wir los: "Fuck off" oder was immer uns einfällt. Dann Mozart. Wir nehmen uns in den Arm. Ringholt drückt meine Freundin und mich fester zusammen, als es uns lieb ist. Unsere Herzen sollen sich berühren!

Dann umarme ich eine der Damen. Nach der Session frage ich Ringholt, wie es für ihn ist, diesen Workshop im Museum, auf der documenta abzuhalten. Ach, sagt er, er könne das auch auf dem Dach machen. Eigentlich habe er gerade mal zwei Minuten mit Carolyn Christov-Barkargiev gesprochen, danach habe er zugesagt. Er sei auch ganz erstaunt, was für Bilder um seinen Raum gehängt worden seien. Er wirkt fast ärgerlich, als wüsste er selbst nicht genau, wie er hier hingekommen ist. Plötzlich wirkt der weiße Kubus wie eine kalte Kapsel.

Dass dieser Raum, in dem Druck aufgebaut und abgelassen wird, im Zentrum der Neuen Galerie steht, ist bezeichnend. Unser Mittelklasse-Frustgeschrei verhallt nicht irgendwohin. Überall brodelt und drückt es, überall Konflikte. Gleich vor der Tür formieren sich die surrealen Skulpturen der Brasilianerin Maria Martins (1894-1973) zu einem orgiastischen Gemetzel. Rund um den Therapieraum platziert treffen die Malereipositionen von Margaret Preston (1875- 1963) und dem 1955 geborenen Gordon Bennett aufeinander. Preston entwickelte eine eigene Form des australischen Primitivismus. Dabei orientierte sie sich an der Kunst und Symbolsprache der Aborigines, deren heilige Motive auch für den „Formenschatz der Inneneinrichtung“ genutzt werden sollten - als dekoratives Mischmasch sinnentleerter Zitate. Genau gegen diese modernistische Aneignung opponiert Bennett. Als bedeutender Vertreter indigener australischer Kunst, appropriiert er Prestons Stil, führt ihn zurück. Er vergrößert Details ihrer Gemälde und lädt sie wieder mit geheimer Bedeutung auf.

Nebenan dann die nächste Modernistin, die sich bei den Ureinwohnern bediente: die Totems der Kanadierin Emily Carr (1871-1945). Sie malte auch aus kolonialistischer Perspektive, allerdings unglaublich kühn und komplex.

Die Aneignung und Wiederaneignung von Kultur, Identität und Geschichte sind bestimmende Themen in der Neuen Galerie. Gleich zu Beginn der Ausstellung lässt Rossella Biscotti mit "The Trial" (2010-12) Tonbandprotokolle der Prozesse gegen Mitglieder der italienischen Roten Brigaden aus den 80ern acht Stunden simultan von einer Dolmetscherin übersetzten – zwischen Abgüssen von Architekturen des Bunkers, in dem das Verfahren stattfand. Im Keller inszeniert der Ägypter Wael Shawky mit "Cabaret Crusades" (2010) ein grandioses Video-Puppentheater, in dem die blutige Geschichte der mittelalterlichen Kreuzzüge nachgespielt wird.

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Mit ihrer Installation "The Disobedient" (2012) greift die kroatische Künstlerin Sanja Iveković ein Zeitungsfoto von 1933 auf: Vor einer Menschenmenge auf dem Kasseler Opernplatz wird ein Esel stellvertretend für „widerspenstige Staatsbürger“ in ein symbolisches Konzentrationslager gesteckt. In einer Vitrine präsentiert Iveković historische Spielzeugesel neben den Namen von Menschen, die sich gegen totalitäre Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufgelehnt haben.

Terrorismus, Traumata der Nazizeit, die Unterdrückung von indigenen Völkern, Lesben und Transexuellen in südafrikanischen Townships (die Zanele Muholi in ihrer wunderbaren Serie "Faces und Phases" thematisiert) – all das erscheint als schwerer Stoff. Doch nicht nur, dass es immer wieder Leerstellen gibt, wie Roman Ondáks superschicke, supergraue Konzeptinstallation "Observations" oder Geoffrey Farmers riesig-theatralische Schattenspielarbeit "Leaves of Grass".

Die Ausstellung in der Neuen Galerie wirkt eher wie eine bunte anthropologische Wunderkammer, in der sich die Traumata vorübergehend hinter den Artefakten verbergen und einen dann plötzlich überfallen. Nach dem „Anger-Workshop“ bin ich ruhig. „Es war schön, mal wieder von einem Mann umarmt zu werden“, sagt die ältere Frau zum Abschied. Der Workshop scheint wirklich geholfen zu haben. „Vielleicht“, so denke ich, „zeigt die Kunst doch Wege aus der Krise.“

Bereits auf der Straße merke ich, mein Herz ist immer noch gebrochen.

 

Rundgang (1): Kann Scheitern produktiv sein?

Rundgang (2): Gegenwart durchdringen

Rundgang (3): Kassel wie nach einem Tsunami

Rundgang (4): Von Androiden bis zu den Brüdern Grimm

 

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