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(picture alliance) Elke Heidenreich hat keine einfache Beziehung zur Buchmesse

Literarische Reise - Elkes Himmelfahrt

Deutschlands bekannteste Literaturkritikerin war vor kurzem eine Weile tot. Sie hätte das Paradies haben können – und entschied sich doch für einen Besuch der Frankfurter Buchmesse

Vor Kurzem war ich eine Weile tot, vor lauter Kummer, sowas gibt es, aber man kriegt manchmal eine zweite Chance und kann auf diese Erde zurück. Es war so enttäuschend – der Himmel ist nicht das, was wir uns darunter vorstellen. Gut, man trifft Menschen, die zu treffen man sich immer erträumt hat, aber die haben nur wenig Lust, sich mit unsereins zu unterhalten. Da fehlen einfach ein paar Jahrhunderte. Sie haben an uns und unseren glänzenden Bewunderungsaugen nicht das geringste Interesse.

Sie müssen sich das so vorstellen: Man kommt oben an, und es ist etwa wie bei John Malkovich und George Clooney in der Kaffeewerbung, nette Begrüßung, ein kleiner Handel um dies und das, dann ist man drin. Die Tür steht immer weit offen, Luther nagelt mit einem Hammer täglich neue Thesen an. Alles ist ziemlich hell, Gott hat keinen Bart, trägt kein langes weißes Nachthemd, aber eine Brille von Fielmann. Er thront in einem großen Salon, für alle erreichbar, aber er spielt eigentlich die meiste Zeit mit Johann Sebastian Bach „Fang den Spitz“ oder „Schnippschnapp“, und wenn Bach dann wieder Lob, Preis und Ehre anstimmt, sagt Gott freundlich und etwas erschöpft: „Lass gut sein, Wastel.“ Im Hintergrund spielt Glenn Gould einmal täglich ja sowieso das Gesamtwerk von Bach durch. Auf dem Flügel liegt Mozart, mit Schokolade beschmiert und giggelt. Stockhausen steht bei Gott und Bach, mit glühenden Augen, er will mitreden, er will mitspielen, aber Bach sagt streng: „Kinder bei Tisch, stumm wie der Fisch.“

Seit Schlingensief oben ist, hat Gott wenig Ruhe. Er muss immerzu diskutieren und sich anhören, dass Afrika Opernhäuser braucht. „Bau Opernhäuser, Mensch, Gott!“, schreit Schlingensief, und Gott sagt: „Siehst du, da haben wir das ganze Dilemma: der da“ – er zeigt durch die Wolken auf Pierre Boulez –, „der da sagt, reißt die Opernhäuser ab, du sagst, baut neue, wie ich es auch entscheide, es ist ja immer falsch!“ Schlingensief ist sehr enttäuscht von Gott und wartet jetzt auf Steve Jobs, der es besser machen wird, davon ist er überzeugt. Aber Steve Jobs wird erst lange im Raum der Stille bleiben, wo man sich ein paar Jahrzehnte ausruhen darf – Loriot liegt da, lächelnd neben Tabori, der inzwischen noch schöner geworden ist.

In einer Ecke des Salons hocken Maria, Jesus und der Heilige Geist zusammen, und ich hörte sie streiten, wohin man mal verreisen könnte. Jesus schlug Lourdes vor, wo seine Mutter doch so verehrt wird, aber auf so viele moribunde Rentner hatte sie gar keine Lust, sie wollte lieber nach Bethlehem oder Jerusalem fahren. Jesus war entgeistert: Da, wo sie ihn gekreuzigt haben? In die Gegend will er nie wieder, und jetzt fahren sie, soviel ich mitgekriegt habe, demnächst nach Rom, weil der Heilige Geist gesagt hat: „Rom ist prima, da war ich noch nie! Die werden staunen, wenn ich komme!“ Es wurde sehr gelacht, und Gott drehte sich um und freute sich: „Dass die auch mal lachen!“, sagte er vergnügt. Aber da näherte sich auch schon Adorno, und Gott sagte rasch: „Oh! Schon wieder Schluss mit lustig. Schade.“

Über weitläufig verzweigte Gänge kommt man in viele verschiedene Räume, vorbei an einem Kämmerchen, in dem Sartre und Beauvoir sitzen und rauchen, was das Zeug hält und auf ihre Schreibmaschinen eindreschen. Sie ist beleidigt, weil Gott sie gebeten hat, wenigstens im Himmel diese unseligen Turbane nicht zu tragen, und er ist beleidigt, weil Evelyn Hamann zu ihm gesagt hat: „Nehmen Sie doch mal die Maske ab!“

Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite, was Verdi, Wagner, Puccini, Franchetti, Schumann, Bach und ihre enttäuschten Musikergattinnen im Himmel treiben 

Manchmal hört man schon durch unbeschreibliches Getöse, wer da mit wem im Zimmer sitzt – zum Beispiel Verdi und Wagner an zwei Érard-Flügeln, gegeneinander anspielend. Verdi donnert die Ouvertüre zu „La Forza del Destino“, Wagner hält mit Tristan-Akkord und Siegfried-Idyll verbissen dagegen, und sie haben seit 110 Jahren noch kein einziges Wort miteinander gewechselt.

Sehr schön ist das Zimmer (ganz in rotem Plüsch) mit all diesen zickigen, enttäuschten Musikergattinnen oder -geliebten. Da hätte auch ich bleiben sollen, denn in meinem Leben waren es immer wieder die Musiker, die mein Herz gebrochen, mich zu Tode geärgert oder zur Verzweiflung getrieben haben, ihre Schuld war es letztlich, dass ich da oben landete. Ich kann von Glück sagen, aus dieser Himmelhölle entkommen zu sein. Pauline Strauss keift noch immer hinter ihrem Richard her, wenn er nur ihre Reichweite verlässt. Elvira, die unglückliche Signora Puccini, die ihr Leben lang betrogen und belogen wurde, wird es auch hier: Puccini hat einen Musikstudenten angemietet, der nebenan seine Melodien spielt, während er in der Hölle mit Alberto Franchetti und Jean Sibelius beim Pokern ist. Sie hängt mit dem Ohr an der Wand und sagt abends zu ihm: „Heute hast du aber wunderbar gespielt, Giacomo!“, und er sagt: „Nicht wahr, meine Liebe.“

Aino Sibelius hat es aufgegeben, nach ihrem Mann zu suchen. Einmal war sie unten in der Pokerhölle, erbat Einlass, man wies sie ab. Sie ließ ihrem Mann einen Zettel zukommen, „Wann gedenkst du, mal wieder zu mir zu kommen?“ Er schrieb zurück: „Was weiß denn ich, Liebste, ich bin doch Komponist, nicht Hellseher!“

Es ist eigentlich alles wie immer, aber man stirbt nicht mehr am Verrat oder am gebrochenen Herzen, man hat das alles schon hinter sich.

Cosima Wagner ist auch im Frauensalon, sie repariert Richards Samtjacken und bezieht die Knöpfe in der Farbe des Futters, er besteht darauf, aber sie redet mit niemandem, sie hat eine Art Sperrholzkasten um sich herum gebaut, in dem sie sitzt und grollt. Winifred, ihre Schwiegertochter, stickt Hakenkreuze in Küchentücher. Alma, die verblühte Mahler-Gropius-Werfel-Witwe, zählt ihre Perlen und säuft, zu ihren Füßen sitzt Bruckner und zählt mit, er hat ja schon zu Lebzeiten diesen Wahn gehabt, alles zählen zu müssen. „Kannst du ihn nicht davon mal befreien, Herr?“, hat Bach Gott gefragt, aber Gott hat nur geseufzt: „Lass ihn, Wastel. Es macht ihn glücklich, und sonst schreibt er mir nur noch so ein Te Deum. Lieber zählt er doch Perlen, nicht wahr?“

Es ist nicht schön dort, glauben Sie mir. Clara Schumann sitzt am Fenster und weint, im Flur läuft Brahms mit seiner Zigarre auf und ab, qualmt alles voll und sucht nach ihr. Robert Schumann ist auf der Krankenstation, liegt neben van Gogh und Katherine Mansfield, die immer nur hustet. Auch Thomas Mann ist hier, Verdauungsbeschwerden, und Proust, Asthma. Die Stimmung ist gedrückt.

Nebenan wird gekocht, Rossini macht für Goethe seine Tournedos, Donizetti mixt einen Liebestrank, Händel füllt einen Kapaun mit Kastanien und hat die Perücke abgenommen, weil ihm so heiß ist, und auf dem Flur geht Schiller auf und ab und rezitiert Balladen, Tausende von Schülern drücken sich furchtsam an die Wände. Der ganze Flur voller fauler Äpfel, es stinkt. Die Callas singt dazu, irritierend geschminkt. Sie ist so verzückt von ihrem eigenen Gesang, dass sie Pavarotti nicht bemerkt, der auf einem Diwan im Flur liegt und sich mit dem weißen Tuch Luft zufächelt. Er wartet zusammen mit Qualtinger auf Händels gefüllten Kapaun. Als sie ihn anrempelt, mitten in „Casta Diva“, sagt sie erschrocken: „Oh! Ich habe Sie gar nicht bemerkt!“ Er strahlt. So etwas Schönes hat ihm noch nie jemand gesagt.

?Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite, was die Selbstmörder von Kleist bis Virginia Woolf zu Lachen haben und warum Marx auch mal den Job von Gott übernimmt 

Endlich dann ein Zimmer mit Gelächter: Hier haben sich all die Selbstmörder versammelt und fühlen sich verstanden und sind glücklich miteinander, Kleist, die Günderrode, Sylvia Plath, Anne Sexton, Virginia Woolf, David Foster Wallace, Cleopatra und Majakowski, in diesem Zimmer ist die beste Stimmung, und ich bedauerte, mich wegen dieses rumänischen Betrügers von einem Musiker nicht doch umgebracht zu haben – wie gern hätte ich in diese Runde gepasst! Aber sie nehmen nur ihresgleichen, durchgehalten zu haben zählt hier als Makel.

Am Anfang suchen wir alle das Gespräch mit Gott, ich auch. Es gibt ja so viele Fragen, es gibt so viele Tränen, ja, und diese dumme Kinderseligkeit: lieber Gott, bitte mach … Er macht gar nichts. Er hört sich das „Warum ich?“, „Wo warst du, Herr?“, „Warum jetzt?“ alles an, müde den Kopf neigend und sagt: „Aber man weiß doch, dass meine Wege unergründlich sind, auch für mich selbst.“ Gelächter ertönt von links, wo Emil M(ensch) Cioran auf den Gipfeln der Verzweiflung hockt, und Nietzsche schreit Gott an: „Du bist sowieso tot!“

Was soll man da antworten. Manchmal mag Gott nicht mal selbst zur Tür gehen, um die Neuen zu begrüßen. Er weiß, sie wären enttäuscht von ihm. Dann bittet er Karl Marx, mal eben das lange weiße Nachthemd anzuziehen und sagt: „Karl, geh du. So wollen sie mich haben. Sag einfach nichts, keine Diskussionen bitte, lass sie nur herein.“ Marx murrt. „Du hast doch wahrlich genug Stellvertreter“, sagt er, aber Gott winkt müde ab, und Marx geht die Neuen begrüßen, lauter fromme Katholiken, und die sind so froh, denn Gott sieht genauso aus, wie sie ihn sich immer gewünscht haben. Sie fragen sofort nach Fegefeuer und Strafen, und Marx führt sie grinsend in die Abteilung mit glühenden Zangen und Geschrei, sie wollen es ja nicht anders. Ansonsten sieht die Hölle etwa aus wie die Kantine beim ZDF – es riecht nach Suppe, und es ist heiß und überfüllt, und man hat große Mühe, einen Platz an einem Tisch zu finden, wo nicht irgendein Schrecken sitzt, dem man absolut nicht begegnen möchte.

Wenn Marx wieder einen Schwung eingelassen hat, muss er in der Bar ordentlich einen kippen. Die Bar heißt „Elysium Eck“, Ernest Hemingway schießt jeden Abend die Lampen kaputt. Amy Winehouse steht hinter der Theke, Dorothy Parker lallt: „Noch ein Martini, und ich liege unter Bernstein“, aber Leonard Bernstein besäuft sich mit Schönberg und sagt zu vorgerückter Stunde: „Come on, professor, play us a tune!“ Nur einmal, eine Melodie, bettelt er! Schönberg wendet sich dann angewidert ab und hofft, dass Adorno noch auf ein Glas kommt. Aber Adorno schreibt gerade an Thea Dorn und dankt ihr, dass sie sich nach ihm benannt hat.

Jetzt ist Buchmesse, sage ich zu Gott, Herr, ich wäre doch ganz gern dabei, warum hast du mich hier raufgeholt, gerade jetzt? Und er sieht mich an und sagt, „meine Liebe, bitte, jedes Jahr war es dasselbe Gejammer über die Buchmesse, auch bei dir: ‚So anstrengend, man trinkt zu viel, die Hallen voller Trottel, eitle Dichter, verlogene Verleger, entsetzlich aufdringliche Leser‘, und du hasst es doch, wenn alle dich fragen, ob du ihr Buch schon gelesen hast, und dann musst du diese Ausreden erfinden – ‚ich hab mal reingeguckt, ich hab es angelesen, ich bin noch nicht durch‘ … All das habe ich dir durch einen kleinen Herzstillstand bei deinem großen Liebeskummer erspart. Noch können wir das rückgängig machen. Aber denk gut nach – Grass, Walser, Charlotte Roche, und warte mal ab, wer diesmal den Nobelpreis kriegt! Grauenhaft. Willst du da wirklich hin?“

Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe, aber anscheinend: Ja – denn hier bin ich, im Gedränge der Buchmesse, inmitten all der Erschöpfungen, und abends rauchen wir im teuersten Hotel in einem Raucherzimmer, das wie ein bulgarischer Durchgangsbahnhof aussieht, und zahlen ein Vermögen für schales Bier und ekelhafte kalte Frankfurter Würstchen, und wir schauen zum Himmel und denken: Ach … Aber man kann nicht alles haben. Nur, seit ich oben war, weiß ich, es lohnt sich nicht. Höchstens fürs Rauchen. Es sind dieselben Cliquen wie hier unten, die Jahrhunderte bleiben unter sich, Männer und Frauen verstehen sich nicht, die rumänischen Musiker sind auch da oben wieder die schlimmsten, hinter jedem Rock her, und nur die Selbstmörder haben es schön. Die haben alles richtig gemacht: den Zeitpunkt selbst bestimmt.

Ich weiß, was ich beim nächsten Mal zu tun habe. 

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