Titel: Heinrich von Kleist - Eine Fürsichblüte

Dichter des Gerüchts und des Zwischenraums, träumender Schreibblitz: Heinrich von Kleist

Da steht er: frisch in eine preußische Uniform geklei­det, adelig, nicht reich, 14 Jahre alt, Spross einer berühmten Familie von Heerführern und Soldaten. Fünftes Kind des Vaters, erster Sohn. Der Vater inzwischen tot, die Mutter bald. Da wächst er noch, «fünf Fuß drei Zoll, Haar und Augenbrauen kastanienbraun, Augen blau, Nase klein, Mund mittelgroß, Kinn rund, Gesicht oval». Kämpfe gegen Napoleon, Märsche, Drill. Im Frühjahr 1799 ersucht Kleist um Demission. Es folgen: ein unruhiges Leben, drängende, scharf gedachte Prosa, Dramen, vaterländisch, komisch, subversiv. Erneuerung der deutschen Literatur aus ihrem Kern, in Themen und Formen, zeichenversessen, gepaart mit schwarzem Humor. Man könnte stundenlang lachen, wie Kleist immer noch weiterdreht an seinen Figuren, den hanebüchenen Taten und Ausflüchten etwa des Dorfrichters Adam im «Zerbrochnen Krug» oder der «Marquise von O.», die am Ende mit lechzenden Küssen dem Papa auf dem Schoß sitzen muss oder darf. Und das frisch erzählt im Jahr 1810.

Kleist sucht den Menschen in seinem Innen- und Außenleben auf, klar und schnell, trotz, nein, gerade dank der Kaskaden seiner Sätze. Er übersetzt Emotionen, die sich selbst für die Figuren nicht mehr greifen lassen, in Szenen, zeigt sich als Meister überraschender Stürze und Sprünge. Geradezu nackt wirken seine Texte, was Religiöses angeht, allemal im Vergleich zu Zeitgenossen wie etwa Johann Peter Hebel, mit dem Kleist das Interesse am Anekdotischen teilt. Kleist ist Semiotiker. Namen erscheinen ihm als Wahrheitszeichen, doch sie zerfallen, Körper tragen Spuren, die der Deutung bedürfen, gefälscht werden können, zerredet. Im «Käthchen von Heilbronn» behält die falsche Braut, ein Wesen aus kosmetischen Ersatzteilen, gegen die zeitgenössische Eingriffe sich nachgerade harmlos ausnehmen, das letzte Wort.


Pionierpflanze Kleist

Da sitzt er, zurückgekehrt ins Elternhaus in Frankfurt/Oder, im Frauenreich: Tante und Schwestern umgeben ihn, Kleist phantasiert von Wissenschaft und Verdiensten, verlobt sich mit Wilhelmine von Zenge, der Nachbarin, schreibt Anweisungen zum Glücklichsein. Noch auf der Vignette, die ihn als 24-Jährigen zeigt, wirkt er knaben­haft, nun sucht er Begleitung für eine mehrwöchige Exkursion nach Würzburg, deren Zweck bis heute unklar ist. Dass Gerüchte aufkamen, ob Kleist als Spion – für Preußen?, für Frankreich? – reiste, nimmt wenig Wunder, gern machte er Geheimnisse, allemal in den Briefen an die Braut, die er nie heiraten wird. Unter seinen literarischen Zeitgenossen beginnt die Romantik, in Weimar wird eifrig Klassik erzeugt. Kleist hingegen hat kein Programm oder scheitert mit dem Programm, das er sich setzt: den preußischen König gewinnen, Geld verdienen, die Zeitung «Berliner Abendblätter» etablieren. Auf der Reise nach Würzburg liegt er auf dem Strohwagen im Regen, verkrochen unter einer Decke. Doch zuvor hat er in die Sterne gesehen.

Seine Briefe enthalten Essays sowie literarisierte Szenen, doch erst im Frühjahr 1802 verfasst er, hauptsächlich in einem Häuschen auf einer Insel der Schweizer Aare, sein erstes literarisches Werk, das Trauerspiel «Die Familie Schroffenstein». Die Konstellation ist kein Zufall: Vor Wilhelmine behauptet Kleist, Bauer werden zu wollen. Welch Schutzmantel. Man erhascht einen Blick auf die stille, sich versteckende Seite des beredten Mannes, der «Pfirsichblüte» als «Fürsichblüte» schreibt. Wendet man Kleists Buchstaben, Satzzeichen und Namen umfassende Deutungsliebe einmal auf ihn selbst, kommt man auf «liest» sowie den botanischen Begriff «kleistogam». Er bezeichnet die zweiten Blüten gewisser Pionierpflanzen, etwa des Veilchens oder der Stängelumfassenden Taubnessel, Blüten in Jahren der Not, wenn man, allein in ein Gebiet gewandert, keinen Partner findet und sich, ohne sich zu öffnen, selbst bestäuben muss.

Pionierpflanze Kleist. Daran, dass seine Briefe ganz anders klingen als seine Literatur, erkennt man vielleicht am unmittelbarsten, wie viel Arbeit in die Texte floss. Sie wirken wie entschlackt, gereinigt von Zeit. In seinen so klugen wie poetischen Aufsätzen «Über das Marionettentheater» oder «Über die allmähliche Verfer­tigung der Gedanken beim Reden» erweist Kleist sich als Gedan­ken­dichter im besten Sinne: Man spürt die Verfertigung des Gedankens beim Schreiben, spürt, wie jemand sich Sprache und Szene überlässt, alles Weitere daraus erzeugt. Ein Blick auf die Endvarianten des Lustspiels vom zerbrochenen Krug spricht Bände: Die erste bringt die Intrige um den Dorfrichter amüsant zum Abschluss, die zweite schießt dem Finale auch die Fäden Vaterland, Liebe, Versprechen, Gesetz und Betrug ein.


Auf deiner Kugel, Ungeheures, roll heran!

Kleist lebt in Zeiten des Umbruchs, der Beschleunigung. Vaterland, Liebe, Gesetz, Betrug. Die feudale Gesellschaft, gekennzeichnet durch klare Pyramidenhierarchie, verwandelt sich in Richtung einer bürgerlichen Ordnung, die dem Subjekt Freiheit zudenkt und Verantwortung aufbürdet. Dazwischen die Ranken des Gefühlsleibes, Arme, die sich berühren, Triebe.

«Nun denn, auf deiner Kugel, Ungeheures, ... roll heran!» Kleist wird zum Dichter der Probe. Gern auch der Stichprobe, im wörtlichen Sinn. Figuren werden angestochen, stechen sich selbst. Manchmal macht die Natur in bösen Zugriffen auf den Körper Proben auf sie, etwa durch ein Erdbeben, manchmal testen sie sich selbst. Am effektivsten aber sind jene Versuche, die Menschen an Menschen ansetzen, treten doch sogleich die schlimmsten Seiten aller Beteiligten hervor. Lust am Lieben und Lust am Quälen versteht Kleist «innig ineinander zu kneten, als einen Teig». Fast wirken die Figuren und ihre Umgebungen wie böse Experimente eines zeitgenössischen Testers, Teile eines Theaters psychisch-mechanischer Grausamkeit, die Kleist mit Komik unterlegt. Bis man lacht aus Staunen, Unglauben und Schmerz – vor so viel Durchsicht auf Menschenseelen.

Kleist interessiert der Umschlag von Wirklichkeit und Erzählung («Nachricht») in Fiktion. Ihn interessieren sein Hier und Jetzt, auch wenn er es historisch einkleidet oder in leicht zu entziffernden Tarnbewegungen nach Chile oder Italien verlegt. Acht bis zehn Generationen, zehn Genmischungen, ist dieser Dichter von uns entfernt. Und wie viele Ängste, Fragen, Ideen?


Figuren, lebende wie erfundene, als Extremsportler

Kleist, Dichter des Gerüchts. Geheimnisse, Fälschungen und Lügen streunen durch seine Texte, phänomenaler Samen- und Herkunfts­wahn entwickeln sich. Wie nebenher belebt dieser Mann des Krieges, der Beklommenheit und des Witzes eine Gattung, die in der deutschen Literatur eben erst im Entstehen begriffen ist: die Novel­le. Kleist nutzt sie, das Radialsystem eines «unerhörten Ereignisses», um die Verfassung des Einzelnen, des mit der Französischen Revolution erst recht erfundenen, rechtlichen und freiheitlichen Subjektes, gleich wieder zur Disposition zu stellen.

Sein letztes Drama, «Prinz Friedrich von Homburg», beginnt träumerisch und endet mit einem den Anfang spiegelnden Szenario, das man heute als Foltermethode der Scheinhinrichtung kennt. Zwar wird die Exekution anders begründet – der Prinz hat sich selbst dem überstrengen Todesurteil unterworfen und kann, so der Grundgedanke, dank dieser Unterwerfung unter das Gesetz gerettet werden. Sprich: vermählt und neu in die Schlacht geschickt. Zuvor jedoch zitterte der preußische Held maßlos vor dem eigenen Grab und erwies sich als ruhmessüchtiger Phantast. Nachtwandelnd bot er sich anderen schutzlos dar, die daraufhin gnadenlos mit den Wunschknöpfen seiner Psyche spielen. Sie übertraten die Grenzen der Achtung und Integrität, wurden von den Folgen fast selbst hinweggefegt.
Kleist, Dichter des Zwischenraums. Wissen, Halb- und Unwissen ziehen ihn an, souverän bewegt er die vielfältigen Möglichkeiten des Irrtums, der Verdrängung, der Exaltation. Da steht er, vernichtet die Briefe der Braut, während Schwester Ulrike die seinen zerstört, liebt, kreuz und quer, gar nicht oder zu viel. Des Unglücks und des Glückes Kugel rollt. Seine Auffassung, dass Seele immer körperlich gebunden ist, kombiniert mit notdürftig verbrämter menschlicher Grausamkeit, bringt ihn auf erschreckende Weise – zu uns. Extremsport betreiben seine Figuren: stürzen sich in Schlachten oder springen, sind sie weiblich, neun Meter überm Erdboden aus Fenstern. Wirklichkeit wird aus Taten und Dokumenten immer neu gefälscht, Geschlechter verquicken sich, Amazonen verwechseln Küsse und Bisse, Schwester Ulrike, als Mann gekleidet, wird mit auf Reisen geführt.

Träumender Schreibblitz Kleist. Den Wunsch nach Ruhm erledigt er sich am 21. November 1811 selbst. Wie sein Prinz von Homburg kennt er die jämmerliche Angst vorm eigenen Grab. Doch: Blitz, Strahl und Explosion sind seine Zeichen. Sie leuchten auf, verlöschen. Danach ist es dunkler als zuvor, doch alles hat sich verändert. Am Ufer des Kleinen Wannsees schoss Kleist der todkranken Henriette Vogel ins Herz; Minuten später sich selbst, tötungsprofes­sionell, in den oberen Gaumen. Die Obduktion ergab, dass die Bleikugel im Gehirn stecken blieb, Kleist am Pulverdampf erstickte.


Der Andere ist ein Mensch

Die Zeitgenossen nahmen den Doppeltod übel: Man fühlte sich überrascht, hintergangen, gar betrogen. Kleists Leiche wurde gestreckt und gemessen: «sechs Zoll» – nach preußischer Sitte blieben die fünf Fuß ausgeklammert, die das Mindestmaß für einen Soldaten darstellten. 172 Zentimeter also, schwarze Haare, blaue Augen. Die Knochensäge zerbrach am harten Schädel. Der Sol­datenfamilie galt Heinrich als Schande, lange stellte man die Heerführer über den Dichter.

Doch da ist: seine Sprache. Die Meisterschaft des muskeligen, gedankenpoetischen Satzes. Die scheinbar mühelose Aufstülpung des Satzes zu Sprachmusik, an jeder Stelle bildlich durchdrungen. Weil Kleist nicht nachlässt, Zusammenhänge zu zeigen, jenseits von Kausalität. Als ich ihn zum ersten Mal las, verstand ich, dass Literatur Lebensschule sein kann, indem sie zeigt, wie zufällige Umstände der Welt zu einem bestimmten Augenblick, und ein Mensch, der in diese Situation tritt, zusammenwirken mögen. Wie nur aus der Mischung «Ich und der Andere» Wirklichkeit entsteht. Wie schrecklich und schrecklich schön ist, dass gilt – gelten muss: Auch der andere ist ein Mensch. Oder sollte es, mit Kleist’scher Wendung heißen: der Andere ist ein Mensch?

Pionierpflanze Kleist. Veilchen, Nessel, Waldsauerklee. Duftend, listig, nahrhaft.

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