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(picture alliance) Coole Fotos kann heut jeder machen

Hipstamatic - Eine App revolutioniert die Kunst

Es gibt eine App für das iPhone, die digitale Aufnahmen so aussehen lässt wie früher, als die Urlaubsfotos blaustichig aus dem Labor kamen. Ist es noch Kunst, wenn das Computerprogramm den Filter bereitstellt und sich der Fotograf nicht mehr in der Dunkelkammer abquält?

Furcht und Schrecken der digitalen Revolution! Zeitenwende und Epochenbruch! Alles zerfällt, alles geht unter. Oder? Es gibt kein Halten mehr. Oder? Was bestimmt verschwinden wird: Künstler aus altem Schrot und Korn mit Rockstarstatus, die das Echte wollen. Im Kommen dagegen: Künstler mit immer feinerer Körnung (ein paar Millionen Megapixel mindestens). Bildschirmarbeiter, die uns geschickt manipulieren. Oder ist alles ganz anders?

Nehmen wir die Kunst der Fotografie. Ich habe gerade in Berlin-Kreuzberg zu tun, Hinterhof. Nebenan hat der Fotograf Jim Rakete sein Studio. Wenn ich ankomme, steht er hinter der Glastür und schaut heraus. Wenn ich Pause mache, steigt Jim Rakete immer gerade auf sein altes Fahrrad und fährt davon. Oder er kommt wieder und steigt ab. Ich nicke ihm zu. Jim Rakete nickt zurück.

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Wenn es in Deutschland einen Fotografen mit Rockstarstatus gibt, dann ist es Jim Rakete. Hendrix, Bowie, Willy Brandt, alle standen sie vor seiner Linse, seit Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Musikproduzent war er auch, Nena, Nina Hagen, Die Ärzte. Digital will Rakete nicht. Er mag Leica und Dunkelkammer. Aber Dunkelkammer ist „over“.

Neulich im Internet eine zufällige Begegnung mit Stacey-Marie, 27, wohnhaft in Athens, Georgia, USA. Stacey-Marie studiert Fotografie, hat einen Blog und ist verzweifelt: Sie liebt das Fotografieren, weil sie in ihren Jugendtagen in der Dunkelkammer stand. Sie liebt es wegen der Begrenzungen der analogen Fotografie: 24 oder 36 Bilder, und der Film ist alle. Da musste man aufpassen!

Heute wechselt man einfach die Speicherkarte. Das Drücken auf den Auslöser ist für Stacey-Marie heute viel weniger kostbar und zauberhaft.

Am meisten aber hasst Stacey-Marie, diese rührende Kämpferin für das Echte, Hipstamatic. Das ist eine App für das iPhone von Apple. Ein Software-Filtersatz, der macht, dass die Aufnahmen der digitalen Kamera im Telefon so aussehen wie früher, wenn die Eltern (oder Großeltern) den Film im Fotoapparat vergessen haben.

Wie früher, als die Apparate noch Fehler machten oder die Menschen sie einfach nicht so gut bedienen konnten. Als die Urlaubsfotos blaustichig aus dem Labor kamen. Das verklärt die Hipstamatic-App heute zum Blaustich der guten alten Zeit. Die Hipstamatic-Mode hat sich zu einer gigantischen Blaustich-Nostalgiewelle ausgewachsen.

Zu einer Flut schön fehlfarbener Fotos, die direkt aus dem Telefon in die sozialen Netzwerke gepostet werden. Was früher echt falsch war und daher cool ist, will heute echt aussehen, indem es sich einen falschen coolen Anstrich gibt. Das Coole ist für Stacey-Marie heute einfach viel zu einfach zu haben. Wenn man Geld für ein iPhone hat.

Im vergangenen Jahr hat der Fotograf Damon Winter einen Preis für eine Fotoreportage für die New York Times bekommen. Er hat einfache Soldaten beim Einsatz in Afghanistan begleitet und sie genau so fotografiert, wie sie einander auch knipsen: mit einem iPhone und der Hipstamatic-App. Ein Sturm brach los!

Für die Vertreter der reinen Lehre der Reportagefotografie war das der Weltuntergang, der Todesstoß. Winters Feinde sagten: Wenn man von einem Computerprogramm einen Filter geschenkt bekommt, der einem die Arbeit abnimmt, ist das keine Kunst mehr. Winter aber hielt dagegen: Sich den richtigen Filter auszusuchen oder das richtige Programm, kann ein künstlerischer Akt sein. Fotografie ist eine Kunst des Sehens, und ihre Qualität hängt nicht davon ab, dass der Fotograf oder die Fotografin sich hinterher in der Dunkelkammer abquälen.

Das aber hieße: Es wandelt sich in der digitalen Revolution nur das Handwerkszeug. Und diese Veränderungen kann man als Bedrohung begreifen oder als Herausforderung. Der Weltuntergang fällt aus. Künstler bleibt am Ende doch Künstler, und Künstlerin bleibt Künstlerin.

Ob sie je wieder Rockstarstatus haben werden, bleibt abzuwarten. Was aber Jim Rakete hinter seiner Glastür und Stacey-Marie in ihrem Blog seufzen, wäre dann nichts als: „Ach! Kinder, wie die Zeit vergeht.“ Das ewige Ach! Dabei habe ich Jim Rakete übrigens kein einziges Mal seufzen sehen. Nur nicken und radeln.

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