- Die mit den schlecht gezeichneten Comics
Keine harten Helden, keine sprechenden Tiere: Wie der Reprodukt-Verlag die «Graphic Novel» nach Deutschland brachte und den literarischen Comic populär machte. Ein Porträt von Jens Balzer
Ein von Piraten entführter Maler erlebt im 18. Jahrhundert Abenteuer auf allen Weltmeeren und bricht die Herzen der stolzesten Frauen. Eine Schriftstellerin erkundet im Bremen des Jahres 1831 das Schicksal der Giftmischerin Gesche Gottfried. Ein Trickfilmzeichner wird im Jahr 2005 durch kapitalistische Outsourcing-Prozesse in ein nordkoreanisches Animationsstudio verschlagen und versucht, die Geheimnisse des rätselhaften Landes zu lüften. Ein junges Mädchen stößt anno 1960 im Hamburger Rotlichtbezirk auf eine verrückte Band aus Liverpool und verliebt sich in ihren Bassisten.
So hören sich die
Geschichten an, die man heutzutage in Comics findet: getuscht,
gezeichnet, gekritzelt, gepinselt, in Schabkarton gekratzt. Lange
schon beschränkt sich die Bildergeschichte nicht mehr auf harte
Helden und sprechende Tiere; vom historischen Stoff bis zur
surrealen Parabel, vom avantgardistischen Erzählexperiment bis zur
opulent illustrierten Abenteuergeschichte ist dem Medium kein Stil,
kein Genre, kein Thema mehr fremd. Bloß in Deutschland hat es
länger als anderswo gedauert, bis sich diese Einsicht durchsetzen
konnte. Seit fast zwanzig Jahren gibt es nun in Berlin einen
Verlag, der sich der Pflege des schönen, literarisch und
ästhetisch ambitionierten Comic verschrieben hat: der Reprodukt
Verlag, gegründet 1991 von Dirk Rehm. Drei Titel pro Monat bringt
Rehm inzwischen mit drei festen Mitarbeitern und zwei
Honorarkräften heraus: Geschichten wie «Isaak der Pirat» von
Christophe Blain, «Gift» von Peer Meter und Barbara Yelin,
«Pjöngjang» von Guy Delisle und «Baby’s in Black– The Story of
Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe» von Arne Bellstorf.
Seit seiner Gründung residiert Reprodukt in der Bülowstraße in
Berlin-Schöneberg: in einem in den Achtzigern besetzten Haus,
dessen Bewohner früh mit dem Senat in Bleibe- und Mietverhandlungen
getreten waren. Als Dirk Rehm 1991 nach seinem Studium in Hamburg
hierher kam, waren die Verhältnisse schon recht stabil: «Aber die
Atmosphäre war noch sehr offen, und man war in alle Richtungen
vernetzt.» Rehm wohnte ebenso im Haus wie Jutta Harms, die seit
1996 fest zum Verlag gehört. «Wir hatten unser Büro erst im
Dachgeschoss, aber mussten uns den Raum mit einer Therapiegruppe
teilen, das war doch auf Dauer recht nervig», sagt Harms. Als das
Erdgeschoss frei wurde, zog der Verlag dorthin.
Der erste Reprodukt-Comic hieß «Der Tod von Speedy» und stammte von
Jaime Hernandez, einem kalifornischen Zeichner, der in seiner «Love
& Rockets»-Serie (gemeinsam mit seinem Bruder Gilbert
Hernandez) den Alltag Punkrock-hörender und Skateboard-fahrender
Jugendlicher porträtierte. «Das war in der Comic-Szene damals etwas
ganz Neues», sagt Rehm, «dass ein Comic-Zeichner sich einfach mit
Alltagsgeschichten, mit der Lebenswelt von Jugendlichen und mit Pop
beschäftigte.» Denn damals gab es in Deutschland – abgesehen von
«Micky Maus» und «Fix und Foxi» – eigentlich nur zweierlei:
Superhelden-Hefte, die aus den USA importiert oder übersetzt
wurden, und die franko-belgisch geprägten und in großformatigen
Alben erscheinenden Abenteuer-Comics in der Tradition von «Tim und
Struppi» und «Spirou».
Der Markt wurde im
Wesentlichen von zwei Häusern unter sich aufgeteilt: dem Hamburger
Carlsen Verlag, der mit der deutschen «Tim und Struppi»-Ausgabe
groß geworden war, und dem damals noch in Stuttgart (heute in Köln
und Berlin) ansässigen Ehapa Verlag, der sämtliche deutsche
Walt-Disney-Lizenzen verwaltet, aber auch Klassiker wie «Lucky
Luke» und «Asterix» im Programm hat.
«Ich wollte Comics machen, die etwas mit dem Leben zu tun haben,
mit meinem Leben», sagt Rehm; Comics, «in denen Menschen mit
richtigen Gefühlen und Erfahrungen vorkommen. Darum fand ich die
autobiografischen Comics, die es in den USA ja schon viel länger
gab, so interessant.» Seine Diplom-Arbeit schrieb er über den
amerikanischen Independent-Comic, als Werkstück entstand dann die
deutsche Ausgabe von «Speedy». Nach dem Diplom bestritt er sein
Einkommen vor allem als Letterer – das heißt, er schrieb in
deutschen Lizenzausgaben den übersetzten Text in die Sprechblasen.
Eine nicht geringe Kunst! Denn beim Lettern muss nicht nur die
Handschrift dem Original getreu nachgebildet werden; auch muss der
anders umlaufende Text passgenau in die Blasen gefügt werden. Nur
wenige Grafiker können das hierzulande so gut wie Rehm. Deswegen
wird er bis heute von Comic- und Buchverlagen als Letterer
angeheuert.
«Meine wahre Leidenschaft aber war immer schon der Verlag», sagt
Rehm – auch wenn er in der ersten Zeit gerade mal einen Titel pro
Jahr herausbringen konnte. Zunächst erschienen zwei weitere
Hardcover-Bände aus der «Love & Rockets»-Serie, dann – als
erste Eigenproduktion – die Heft-Serie «Artige Zeiten» des
Hamburger Zeichnerpaars Andreas Michalke und Minou Zaribaf. Auch
darin ging es um Punkrock, um Beziehungsgeschichten und das Leben
in der Subkultur – Themen, die beim herkömmlichen Comic-Publikum
freilich eher auf Desinteresse stießen. Dementsprechend schwierig
war es für Reprodukt am Anfang auch, mit seinen Büchern in die
einschlägigen Comic-Läden zu kommen. Zumal der normale
professionelle Comic-Laden-Besitzer recht festgefügte Vorstellungen
davon besitzt, wodurch sich ein guter Comic auszeichnet: harte
Helden und lustige Tiere. «Bei denen», sagt der
Reprodukt-Mitarbeiter Sebastian Oehler, «heißen wir bis heute ‹der
Verlag mit den schlecht gezeichneten Comics›.»
Der reguläre Buchhandel aber war in den Neunzigern für Comics
noch völlig verriegelt. Also versuchten Jutta Harms und Dirk Rehm,
alternative Vertriebswege zu erschließen. «Wir wollten unbedingt in
die Schallplattenläden hinein», sagt Jutta Harms, «doch ist das auf
Dauer daran gescheitert, dass sich dafür kein professioneller
Vertrieb finden ließ». Als Pressefrau versuchte sie zugleich, in
die Feuilletons der großen Tageszeitungen zu kommen; am Anfang ein
überaus mühsames Geschäft, heute hat sie damit immer größeren
Erfolg. Überdies war sie im Vorstand des Schwarzenberg e.V. tätig,
einem Kulturverein, angesiedelt in einem der letzten noch
unsanierten Häuser in Berlin-Mitte, wo regelmäßig auch
Comic-Ausstellungen stattfinden.
Ausstellungen wurden eine Weile lang zu einer sehr wichtigen Bühne.
Anfang der neunziger Jahre präsentierte sich hier eine neue
Generation deutscher Zeichner, die weder mit den herkömmlichen
Mainstream-Comics noch mit den autobiografischen Geschichten zu tun
haben wollten. Martin tom Dieck, Anke Feuchtenberger und Georg
Barber, alias ATAK, interessierten sich für den Comic als
Kunstform, für die spielerische Verbindung von Bild und Text in der
Tradition der dadaistischen Collagen und der osteuropäischen
Illustrationskunst. Sie nutzten Installationen in Galerien und
Museen ebenso selbstverständlich wie das Comic-Buch, das sie als
Kunstobjekt begriffen. Die meisten von ihnen brachten ihre Bücher
zunächst bei dem Berliner Verlag «Jochen Enterprises» heraus und
kamen, als es den nicht mehr gab, zu Reprodukt.
Die Verlagsarbeit
wurde zu dieser Zeit von Jutta Harms und der neu hinzugekommenen
Kollegin Claudia Jerusalem betrieben. Dirk Rehm war im Jahr 2000
als Redakteur zum Hamburger Carlsen Verlag gegangen, kehrte aber
nach zweieinhalb Jahren – von der Arbeit im Mainstream-Verlag
desillusioniert – wieder zurück. Und das, obwohl bei Carlsen nach
Jahren rückläufiger Umsätze ein gewaltiger Boom ausgebrochen war.
Nicht nur verdiente die Buchsparte mit den «Harry Potter»-Titeln
gewaltige Summen. Auch im Comic-Bereich waren die Übersetzungen
japanischer Comics, der Manga, nach mehreren gescheiterten Anläufen
plötzlich ein riesiger Erfolg. Besonders die Serie «Dragon Ball»
schien plötzlich auf jedem deutschen Schulhof gelesen zu werden:
«Es gab ständig Sektempfänge, weil wir gerade mal wieder irgendeine
100.000er-Auflagenmarke geknackt hatten», sagt Rehm. Doch trotz der
Profite blieb eine kontinuierliche Programmarbeit auf der Strecke,
und bald stellte Carlsen seine Eigenproduktionen fast vollständig
ein. «Ich stand vor der Entscheidung, mich Carlsen ganz zu
verschreiben und die Mitarbeit bei Reprodukt dafür einzustellen. Da
habe ich mich für Reprodukt entschieden.»
Als Rehm wieder in Berlin war, hatte sich der Boom der
«Kunst-Comics» bereits verflüchtigt. Doch waren einige der
Protagonisten der Szene bereits als Professoren an die
Kunsthochschulen gewechselt: Anke Feuchtenberger lehrte in Hamburg,
Georg Barber unterrichtete an verschiedenen Universitäten und ist
inzwischen an der Hochschule für Kunst und Design in Halle tätig.
Aus ihren Seminaren, aber auch aus der Berliner Kunsthochschule
Weißensee strömten plötzlich viele junge Comic-Talente, die auf
künstlerischen Experimenten aufbauten, sich aber nun wieder auch an
Alltags-Geschichten versuchten: Es wuchs eine neue Generation
autobiografisch erzählender Comic-Autoren mit feinem ästhetischen
Gespür heran.
Der Erste von ihnen war Markus Witzel, alias Mawil, ein 1976
geborener Berliner, dessen Geschichten an Woody Allens
Stadtneurotiker erinnern. Hatten die Hernandez-Brüder in «Love
& Rockets» eine Phänomenologie der Punk-Jugend der späten
Achtziger entworfen, so modellierte Mawil seine schlaksigen,
schüchternen Indierock-hörenden Typen nach dem typischen Berliner
Twen der nuller Jahre. Mit erstaunlichem Erfolg: Comics wie «Die
Band», «Wir können ja Freunde bleiben» und «Action Sorgenkind»
verkauften sich nicht nur in Deutschland prächtig; sie wurden auch
ins Polnische, Französische, Spanische und Englische übersetzt.
Andere junge deutsche Zeichner folgten, darunter Arne Bellstorf,
der in seinem Debüt «Acht, neun, zehn» (2005) in karg-sachlichem
Stil von den Gefühlsnöten der Vorstadtjugend erzählte und soeben
mit dem Beatles-Comic «Baby’s in Black» ein frühes Meisterwerk
vorgelegt hat; oder Line Hoven, die in «Liebe schaut weg» (2007) in
kunstvoller Schabkartontechnik ihre verzweigte Familiengeschichte
rekonstruiert.
Deutsche Zeichner wie diese werden im aktuellen Reprodukt-Programm ebenso umhegt wie der französische «Nouvelle Bande Dessinée», eine vor allem vom Pariser Verlag L’Association betriebene Antithese zur klassischen «Tim und Struppi»-Ästhetik – und der in den letzten Jahren besonders erfolgreiche politisch-historische Dokumentar-Comic. Drei Bände hat Reprodukt von dem frankokanadischen Comic-Reporter Guy Delisle mittlerweile im Programm. Darin schildert Delisle seine Erlebnisse in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzhen, der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang und dem Militärstaat Myanmar (siehe literaturen 4/2009). Für Bücher wie diese benutzt man bei Reprodukt nicht mehr den Begriff «Comic». Stattdessen werden sie als «Graphic Novels» bezeichnet, grafische Romane, ein Neologismus, der von dem amerikanischen Zeichner Will Eisner stammt, der 1978 sein Buch «A Contract With God» so titulierte, um den realistisch-literarischen Anspruch seiner Geschichten zu betonen.
Dass der Begriff
sich auch in Deutschland nun so großer Beliebtheit erfreut, ist dem
Reprodukt-Mitarbeiter Sebastian Oehler zu danken. «Ich habe mich in
meiner Diplom-Arbeit mit der Frage beschäftigt, welche
Einstellungen und Vorurteile es gegenüber dem Comic gibt. Ich habe
auch viele Buchhändler befragt – und kam dabei zu dem Ergebnis,
dass es nur eine Möglichkeit gibt, den Comic dauerhaft im regulären
Buchhandel unterzubringen: Dazu musste man ihn umbenennen. So kamen
wir auf die Graphic Novel.» Gemeinsam mit einem weiteren
Reprodukt-Mitarbeiter, Christian Maiwald, rief Oehler auch eine
Webseite ins Leben: www.graphic-novel.info. Hier wird unermüdlich
gebloggt und gepostet, der geneigte Comic-Freund kann sich über die
«Graphic Novel»-Programme von Reprodukt und befreundeten Verlagen
informieren. Oehler hat auch einen Flyer produziert, den
Buchhänd-ler zur Information erhalten: Was sind Graphic Novels?
Welche Themen behandeln sie? Wie kann man den «literarischen» Leser
für sie interessieren?
Diese Bemühungen hatten Erfolg: Wenigstens in großstädtischen
Buchhandlungen gehören Comics inzwischen zum festen Repertoire.
Doch auf dem Land, berichtet Jutta Harms, müssen die
Verlagsvertreterinnen immer noch Überzeugungsarbeit leisten.
«Immerhin: Das Niveau der journalistischen Berichterstattung über
Comics hat sich in den letzten Jahren enorm erhöht», sagt sie. Kein
Feuilleton, keine Kulturradio- oder Fernsehredaktion, die nicht in
den letzten zwei Jahren über den «neuen Boom der anspruchsvollen
Literatur-Comics» berichtet hätte, «das hilft auch beim Gespräch
mit den Buchhändlern». Knapp zwei Drittel ihres Programms, ergänzt
Dirk Rehm, setzt Reprodukt inzwischen über den regulären Buchhandel
ab.
Die Verlockung des Geldes
Der Erfolg hat aber auch eine Kehrseite. Unter dem Etikett
«Graphic Novel» haben auch die etablierten Buchverlage begonnen,
Comics in ihr Programm aufzunehmen. Nun konkurrieren sie mit
Reprodukt um Autoren und Bücher. Den Anfang machte vor knapp drei
Jahren Kiepenheuer & Witsch mit der deutschen Ausgabe von
Alison Bechdels lesbischer Coming-Out-Story «Fun Home» (siehe
literaturen 3/2008). Dies ist ein schöner, liebevoll gestalteter
Band, dessen Absatz aber wohl weit hinter den Vorstellungen
zurückblieb, so dass der Verlag seine Anstrengungen wieder
einstellte. Andere haben sich davon nicht entmutigen lassen. Zum
Weihnachtsgeschäft bringt nun auch Eichborn seinen ersten Comic
heraus: «Wilson» von Daniel Clowes, einem Zeichner, der seit den
neunziger Jahren zum Autorenstamm von Reprodukt gehörte. «Das
schmerzt schon, wenn man so jemanden nur des Geldes wegen
verliert», sagt Rehm. «Wir werden in Zukunft schneller sein müssen,
wenn es darum geht, um Lizenzen zu bieten.» Im Großen und Ganzen,
da ist sich das Reprodukt-Team aber einig, kann das wachsende
Interesse der etablierten Buchverlage am Comic auch Pionieren wie
ihnen nur nützen. «Der Comic», sagt Jutta Harms, «braucht
literarische Öffentlichkeit und neugierige Leser.» Dass es in
Deutschland immer mehr davon gibt, haben wir vor allem Reprodukt zu
verdanken.
Neue Comics von Reprodukt
Arne Bellstorf Baby’s in Black. The Story of
Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe
Reprodukt, Berlin 2010. 224 S., 20 €
Peer Meter, Barbara Yelin Gift
Reprodukt, Berlin 2010. 220 S., 20 €
Brecht Evens Am falschen Ort
Reprodukt, Berlin 2010. 176 S., 24 €
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