Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(1949: Thomas Mann bei 200 Jahre Goethe, Foto: picture-alliance) Die Gegenwart wird immer breiter

Rückwärts in die Zukunft - Die Gegenwart wird immer breiter

20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik, 260 Jahre Goethe: Dem Gedenk-Kalender kann man sich nicht entziehen. Doch die «Memoria-Kultur» verstellt den Blick auf die Zukunft

20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik, 100 Jahre Borussia Dortmund: Niemand kann sich den Terminen des Gedenk-Kalenders entziehen. Doch die «Memoria-Kultur» verstellt den Blick auf die Zukunft   Mittlerweile ist es ja nicht mehr bloß die kalenderfüllende Anhäufung von Feiertagen, welche uns beeindruckt, und ihre immer mikroskopischer werdende Aufmerksamkeit für das regionale, längst vergessene und auch das tatsächlich mittelmäßige Vergangene. Diese immer weiter anschwellende Quantität hat sich jüngst ins Qualitative verkehrt: Historische Phänomene oder Fragen können kaum mehr auf der öffentlichen Tagesordnung platziert werden, ohne durch ein Gedenk-Datum markiert zu sein.   Über das Lebenswerk von Américo Castro, einen der großen Erneuerer der spanischen Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert, hatte ich vereinbarungsgemäß geschrieben und wurde beschieden, dass mein Beitrag erst zum 70. Jahrestag des nationalistischen Siegs im Spanischen Bürgerkrieg gedruckt werden könne – obwohl Castro seine Heimat schon zu Beginn des Bürgerkriegs verließ, Sympathie allein für die Sache der geschlagenen Republik hatte und den Triumph der Rechten eigentlich bloß mit Schweigen quittierte. Wenige Wochen später sah ich in Mexiko-Stadt das Haus, in dem Leo Trotzki 1940 von einem Agenten Stalins mit einem Eispickel erschlagen wurde, und wollte über die elegische Stimmung dieses Geschichts-Orts berichten, welche mich ganz eingenommen hatte.   Ob denn ein spezifischer chronologischer Anlass vorliege, so etwas wie ein «Trotzki-Jahr» oder doch we­nigstens ein Jubiläum des Kommunismus in Mexiko? So antwortete freundlich, aber mich entschlossen auf Distanz haltend, die Redaktion, der ich meinen Text anbot. Es ist gar nicht mehr selbstverständlich heute und deshalb auch nicht banal, daran zu erinnern: Es gab eine Zeit, deren beherrschende interne «Konstruktion von Zeit» den Blick auf bestimmte Gegenstände in der Vergangenheit richtete, weil festzustehen schien, dass die in ihnen verdichtete Erfahrung bei der Lösung offener Zukunftsprobleme relevant würde. Klassenkämpfe der Vergangenheit schienen Lehren für die Reaktion auf soziale Spannungen der Gegenwart zu enthalten. Und aus vergangenen Staatengründungen glaubte man lernen zu können, welche Schritte in ähnlichen Situationen der Gegenwart und Zukunft zu vermeiden seien. Die französischen Revolutionäre wollten römische Republikaner sein, die deutschen Romantiker mittelalterliche Troubadours, und noch die Gründung des Kaiserreichs von 1871 löste einen Barbarossa-Rausch aus. In jedem einzelnen Fall, weil man einen für die Gegenwart normativen Gehalt in der eigenen Vorzugs-Vergangenheit entdecken wollte.   So funktionierte die historistische Konstruktion von Zeit, wie sie sich im frühen 19. Jahrhundert formiert hatte – bis sie von jenem Typ des «historischen Denkens», das wir «hegelianisch» nannten, bis an ihre Grenzen ausspekuliert wurde und dabei so überzeugend wirkte, dass man sie für geschichtliches Denken schlechthin ansehen wollte. Der historistische Chronotop («Chronotop» ist ein auf den russischen Kulturtheoretiker Michail Bachtin zurückgehendes Synonym für «Konstruktion von Zeit») suggerierte beständige Bewegung, wie sie sowohl der Kapitalismus als auch der Sozialismus voraussetzten: Wir glaubten uns permanent von Vergangenheiten wegzubewegen in Richtung auf offene Zukünfte, die aus Möglichkeiten bestanden. Wir erlebten dabei die Gegenwart als einen «bloßen Moment des Übergangs», wie ihn Charles Baudelaire charakterisiert hatte – als einen Moment des Übergangs, der zu durchlaufen war, indem wir, die Erfahrungen der Vergangenheit aktualisierend und als Orientierung nutzend, aus den Möglichkeiten der Zukunft die vielversprechendsten aussuchten. «Handeln» nannten wir diese komplexe Operation innerhalb der Gegenwart, im Chronotop der verlaufenden Zeit, dessen besondere Agilität Jahrestage und Jubiläen immer etwas pompös und schwerfällig aussehen ließ – wie etwa die «Parallelaktion» zur Feier der Thronbesteigung des österreichischen Kaisers Franz Joseph, welche in Musils «Mann ohne Eigenschaften» ja nie recht in Gang kommen will.Versicherungen ersetzen Vorhersagen Noch immer reproduzieren die Reden unserer Politiker und auch der Geschichtsunterricht unserer Schulen und Universitäten Formen und Versatzstücke des spezifisch historistischen Verhältnisses zur Vergangenheit. Dennoch erfahren und strukturieren wir Zeit wohl schon seit mehreren Jahrzehnten unter ganz anderen Vorzeichen. Und diese veränderten Vorzeichen, meine ich, können erklären, warum wir uns inzwischen ohne große Begeisterung, aber auch ohne aktiven Widerstand auf den Rausch der Jahrestage eingelassen haben.   Seit jenen siebziger Jahren, in denen französische Historiker und Philosophen, allen voran Michel Foucault und Jean-Fran­çois Lyotard, uns vor jeglichen «totalisierenden Geschichtserzählungen» («grands récits») warnten, hat sich der Blick auf die Vergan­genheit zergliedert und das Gefühl der verlaufenden Zeit entschleunigt. Zugleich verschließt sich offenbar der früher einmal so offene Horizont der Zukunft weiter gegenüber all unseren Prog­nosen; schon der Soziologe Niklas Luhmann wollte gesehen haben, dass Risikoversicherungen zunehmend Zukunfts-Prognosen ersetzten. Ja, dieser Horizont scheint seit einigen Jahren tatsächlich auf uns zuzukommen – in der Bedrohung durch ökologische und mittlerweile auch globale ökonomische Katastrophen. Während aber die Zukunft von unseren Spekulationen ab- und dabei unseren existentiellen Ängsten näherrückt, wird die neue Gegenwart von vielfachen Vergangenheiten überschwemmt, als sei jegliche Schwelle der Selektion zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschwunden.   Das optimistische Bild dieser Überschwemmung, dieser Unfähigkeit auch, sich von den Gegenständen der Vergangenheit und ihren Erinnerungen zu trennen, heißt, zumal in Deutschland, «Memoria-Kultur». Ich sehe sie als unvermeidlichen Teil einer neuen Gegenwart: Diese verbreitert sich beständig – zwischen der blockierten Zukunft und jener neuen Vergangenheit, die wir nicht mehr hinter uns lassen können – zu einer komplexen und zunehmend unübersichtlichen Dimension der Gleichzeitigkeiten.
 

Größere und kleinere Jahresringe

Wenn aber so vielfältig verschieden Vergangenes uns plötzlich zu faszinieren vermag – die Ermordung Trotzkis ebenso wie die Öffnung der spanischen Geschichtsschreibung um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf die islamischen und jüdischen Komponenten in der nationalen Kultur, neben den voraztekischen Sonnenreligionen, den Olympischen Spielen der Neuzeit und der frühen Radiokultur in Tirol –, dann sind die mit der Vergangenheit befassten Institutionen mehr denn je auf Kriterien und Mechanismen der Auswahl angewiesen. Genau in diesem Sinn funktioniert heute das auf rechnerischer Zufälligkeit beruhende und deshalb ja bestechend «unparteiisch» wirkende Gitter der geschichtlichen Jahrestage.   Im vorletzten Jahr jedes Jahrzehnts zum Beispiel wird dieses Gitter in Deutschland – unter den Bedingungen des neuen Chronotops jedenfalls – die öffentliche Aufmerksamkeit auf die dort so erstaunlich erfolgreiche Generation der 1929 Geborenen richten (etwa auf Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger oder Christa Wolf); auf die Gründung der Deutschen Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1949; auf den Beginn des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung im Spätsommer 1989; aber auch auf die Gründung des Dortmunder Ballspiel-Vereins «Borussia» im Milieu der katho lischen Arbeiterjugend 1909.   Sollte sich dieser kulturelle Habitus im Verhältnis zur Vergangenheit weiter verstärken, dann wird sich die Form der «Geschichte» (wenn man denn eine nach-historistische Modalität der Gegenwärtigkeit von Vergangenheit noch «Geschichte» nennen will) von einer linea ren in eine vielfach konzentrische Gestalt verwandeln. Ich sage «vielfach konzentrisch» und nicht einfach «konzentrisch», weil ja nicht nur die jährlichen Kalender der Gedenktage jährliche Selektionserinnerungen vorgeben, sondern weil auch das wiederholte Anwenden dieser Jahreskalender allmähliche Unterscheidungen zwischen großen und kleineren Versionen jeweiliger Gedenkakte ermöglicht. Die deutsche Wiedervereinigung hat heuer ein kleines – 20-jähriges – Jubiläum, während Borussia Dortmund mit dem 100. den größten Geburtstag ihrer Geschichte feiert. In achtzig Jahren wird es umgekehrt sein.Geschichte wird berührbar gemacht All diese Beobachtungen und Prognosen über mögliche Zukünfte oder Transformationen dessen, was «Geschichts kultur» war, ergeben sich beinahe von selbst, sobald man einmal eingesehen und akzeptiert hat, dass der um 1800 entstandene historistische Chronotop nicht mehr die für uns bestimmende Konstruktion von Zeit ist. Ich werde mich wohl besser daran gewöhnen, dass die Publikationsdaten jener Texte, die ich noch über Vergangenheiten schreibe, immer weniger vom Nacheinander meiner Intuitionen und Themenwahlen abhängen werden – und immer mehr von den Zufällen der vielfach konzentrischen Jahreskalender.   Immerhin könnte man weiter fragen und spekulieren, ob sich langfristig zusammen mit den Formen der Erinnerung an die Vergangenheit auch die Funktionen der Erinnerung verändern werden. Der Historismus hatte ja den schon aus der Antike und dem Mittelalter (in geringerer Komplexität) vorgegebenen Glauben übernommen, man könne aus dem philosophischen Studium der Vergangenheit verlässliche Orientierungen zugunsten zukunftserschließenden Handelns gewinnen. Für diese Funktion gibt es aber keinen epistemologischen Raum mehr, wenn es zutrifft, dass die lineare Dynamik der gesellschaftlichen Zeit kollabiert ist. Vorstellen lässt sich, dass die von den konzentrischen Jahreskalendern angeregte und jeweils ausgerichtete Erinnerung als eine Erinnerung im Medium der Begriffe und Bilder sich intensivieren würde, hin zu einer Erinnerung des Heraufbeschwörens – das heißt zu einer Erinnerung, welche Teile der Vergangenheit in der Gegenwart präsent machte im Sinn von «direkt wahrnehmbar».   Statt sie in Diskursen darzustellen, steht in einer heraufbeschwörenden Geschichtskultur das Berührbarmachen der Vergangenheiten im Vordergrund – auch, aber nicht nur in Museen. Denn Ergebnis eines «Heraufbeschwörens» ist – anthropologisch gesehen – auch die nach katholischem Theologie-Verständnis durch die Feier der Eucharistie hergestellte «reale Gegenwart Gottes» im Fleisch und Blut des Gottessohns (und zwar in Kontrast zum Bestehen der protestantischen Theologie auf dem Symbol- und Erinnerungscharakter die- ses Aktes). Was könnte die Funktion einer solchen buchstäblichen «Vergegenwärtigung» von Vergangenheiten sein? Statt Lernen und Erbauen zu ermöglichen, ermöglicht das Heraufbeschwören von Vergangenheit – und der Glaube daran – zunächst sehr elementare, manchmal gar geheime Wünsche, sich in andere Zeiten versetzen zu können.   Gewiss ähnelt dieser Gedanke jenem von Walter Benjamin praktizierten und propagierten Verhältnis zur Vergangenheit, das er in seinem emphatischen Begriff von «Erfahrung» festhalten wollte. Nur meine ich, dass eine materielle Vergegenwärtigung von Vergangenheiten nicht notwendig und nicht immer mit jenen politisch-klassenkämpferischen Sprengkräften verbunden sein muss, von denen Benjamin in seinen «Geschichtsphilosophischen Thesen» träumte. So wie andererseits die zu seiner Zeit noch herrschende (zweifellos historistische) Form der Erinnerung an Vergangenes sich nicht unbedingt, wie er behauptete, an eine im Interesse der Herrschenden konzipierte Geschichte schmiegen musste. Wenn die Kalender der Gedenktage heute auf konzentrische Wiederkehr des Erinnerns abstellen, so könnten aus der Wiederkehr des Erinnerns Formen der Wiederkehr des Heraufbeschwörens werden – und letztlich, in Nietzsches Sinn, vielleicht sogar Ereignisse der substantiellen Wiederkehr des Vergangenen.       Hans Ulrich Gumbrecht, Jahrgang 1948, lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Er ver öffentlichte u. a. «1926. Ein Jahr am Rand der Zeit». Zuletzt erschien (gemeinsam mit Robert Harrison u. a.) «Geist und Materie. Zur Aktualität von Erwin Schrödinger».

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.