Die Beiseite - Der Germanist als Renegat

Zweifel hatte ich das erste Mal Anfang der neunziger Jahre, als der «Große Preis» eingestellt wurde und mit ihm der Literatur-Professor Pape. Jahrelang hatte er als Autorität darüber entschieden, ob der Literaturfreund in der Kandidaten-Kapsel die dreigliedrige letzte Frage nun richtig beantwortet hatte oder nicht; ein leibhaftiger Germanist als gesellschaftlich bedeutsame Instanz.

Zweifel hatte ich das erste Mal Anfang der neunziger Jahre, als der «Große Preis» eingestellt wurde und mit ihm der Literatur-Professor Pape. Jahrelang hatte er als Autorität darüber entschieden, ob der Literaturfreund in der Kandidaten-Kapsel die dreigliedrige letzte Frage nun richtig beantwortet hatte oder nicht; ein leibhaftiger Germanist als gesellschaftlich bedeutsame Instanz.

Ich weiß das so genau, weil es die Zeit meiner Doktorprüfung war, und Papes Abschied vom Bildschirm fiel zusammen mit der großen Frage: Was tun? Das Fach, das ich studiert hatte, war gerade dabei, sich neu zu benennen. Kulturwissenschaft, raunte es auf jedem Symposion, schmeichelte mein Doktorvater dem Kultusminister ins Ohr: Kulturwissenschaftler würde es in Zukunft geben, Kulturwirte und Kulturmanager. Nur ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Auf meinem Diplom stand schlicht «Germanistik», und einen dazu passenden Zivilberuf gab es nicht.

Immerhin, auch an Menschen wie mich, die Vor-Kulturwissenschaftler, war in schönen Theorien gedacht worden. Die vom Dekonstruktivismus beseelte Literaturwissenschaft erfand gerade lauter wunderbare Begriffe. Ein «Diskurskonnektor» sei der geschulte Germanist, ein Vermittler zwischen den Welten, «strukturintelligent» und begrifflich versiert. «Inkompetenzkompensationskompetenz» dichtete der Philosoph Odo Marquard dem Geisteswissenschaftler launig an. «Konsensarrangeure» sollten Literaturwissenschaftler sein, befanden andere, «Scouts für Sinndefizit».

Dieses Sinndefizit freilich hatte ich dann erst einmal selbst, sobald ich die Uni verlassen hatte. Kein Mensch suchte einen Diskurskonnektor, so akribisch ich die Anzeigen auch studierte. Nur Stellen für Software-Programmierer, Werbetexter oder Logopäden, begleitet von der üblichen Aufforderung, alles zu vergessen, was man zuvor an der Uni gelernt hat. Die Moral, die ich daraus zog, war bitter, und Literatur-Professoren, die sich gesellschaftliche Funktionen für ihre Absolventen ausdachten, erschienen mir in etwa so fachkundig wie katholische Priester in der Schwangerenkonfliktberatung.

Dass Jahr um Jahr Zehntausende Uni-Absolventen mit allerfeinsten Theorien auf eine Gesellschaft vorbereitet werden, die es nicht gibt, dachte ich damals, wäre ein zureichender Grund für einen Aufschrei. Aber die arbeitslosen Germanisten schrien nicht. Das Aufschreien war das Erste, was dem strukturintelligenten Diskurskonnektor im Studium abhanden gekommen war.

Na ja, so war das früher. Inzwischen ist alles nahezu zehn Jahre her, und ich werde nicht darüber schimpfen. Die böse Tradition des Renegatentums ist zu weit verbreitet unter ehemaligen Literaturwissenschaftsstudenten, als dass man ihr etwas hinzufügen müsste. Heute ist Literaturwissenschaft ja auch tatsächlich ein ganz anderes Fach geworden. Auf meinem Tisch liegen so viele neue Bücher: «Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne. Hermeneutische und kategoriale Probleme»; «Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis»; «Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte». Das Letzte ist im Sommer erschienen, und wenn ich nun doch ein Renegat wäre, so würde ich meinen, dass es das ist, als was es mir erscheint: das übliche Sammelsurium aus Systemtheorie, Foucault, Feminismus, Dekonstruktivismus, Medien- und Kommunikationstheorie, das ich seit den achtziger Jahren kenne.

Aber wahrscheinlich bin ich schon viel zu lange aus dem Betrieb heraus, um die feinen Unterschiede noch zu erkennen. Ich bin zu stumpf, um den Einfluss der nach wie vor von Studenten überlaufenen Fakultäten in der Öffentlichkeit wahrzunehmen, die gewichtigen Stellungnahmen der Literaturwissenschaftler zu den Nöten der Gesellschaft; zu blind, um die Germanisten zu zählen, die bei «Christiansen» den Stümpern vom Schlage eines Hans-Olaf Henkel oder Laurenz Meyer das Wort abschneiden und ihnen ihre Sprachtableaus und verengten Denkwege aufzeigen; zu taub, um die konzertierte Aktion der deutschen Literaturwissenschaftler gegen die Verschluderung der Sprache in den Medien wahrzunehmen.

Es wird an mir selbst liegen, dass ich all das nicht sehe. Lieber sollte ich mich fachkundiger machen, und jetzt dieses gelbe Taschenbuch auf meinem Tisch zur Hand nehmen: «Ansichten einer künftigen Germanistik». Ich lese darin einen kleinen Text von Reinhard Baumgart: «Was wäre denn, gäbe es ab morgen früh keine Germanistik mehr? Hätten wir dann bald eine andere Literatur oder Literaturkritik, andere, bessere oder schlechtere Kulturredaktionen oder Theaterspielpläne? Selbst der Deutschunterricht würde an den Schulen wohl weiterlaufen, wie er schlecht und recht läuft… Nichts mehr kann und soll Germanistik heute.»

Ich denke: Na, der Baumgart, der alte Fatalist, guckt auch nicht mehr so genau hin. Und dann schaue ich aufs Erscheinungsjahr des Büchleins: 1969, lange, lange her. Wie gut, dass es seitdem all diese großen erst inter- und dann transdisziplinären Kongresse gab, die ungezählten Theoriedebatten, Standortbestimmungen und Grundlegungen. Und nicht zu vergessen: die neuen kultur- und medienwissenschaftlichen Zentren und schließlich Kulturwissenschaft, den neuen Begriff. So hat sich dann alles schließlich doch zum Guten und Bedeutenden gewandelt. Heute ist Kulturwissenschaft das wahrscheinlich wichtigste Fach der Welt. Sie zeigt es nur nicht so.

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