Bücher des Monats - Dein Freund, das Buch

Wie Cornelia Funke in Joanne K. Rowlings Phantasiebezirk pädagogische Programmmusik macht

Das soll es ja nun nicht heißen: Dass es nur eine Joanne K. Rowling auf der schönen weiten Welt gibt und keine anderen Göttinnen der Kinder- und Jugendliteratur neben ihr. Was natürlich ernsthaft auch kein Mensch glaubt, wenigstens keiner, der hie und da auch mal ein Kinderbuch liest. Die Mehrheit der vorzugsweise in die so genannte Hochliteratur schweifenden Leserschaft hat allerdings bislang noch kaum zur Kenntnis genommen, dass da am Stadtrand von Hamburg eine Diplom-Pädagogin und Grakerin namens Cornelia Funke mit Hund und Familie lebt, deren Veröffentlichungsliste bereits siebzehn (zumeist von ihr selbst illustrierte) Kinderbücher umfasst, darunter fünf frenetisch nachgefragte Bände über «Die Wilden Hühner» – kesse, muntere kleine Mädchenromane – sowie den im kommenden Frühjahr zur Verlmung in Venedig anstehenden, tatsächlich fabelhaften «Herrn der Diebe». 
 
Seit das Goldene Auge Hollywoods wohlgefällig auf diesem klugen, wunderbar erzählten Buch über die Bedeutung von Lebenszeit, menschlicher Zugehörigkeit und kindlicher Identität ruht, werden nun auch Nicht-Kinderbuchleser auf Cornelia Funke aufmerksam. Und um dieser Aufmerksamkeit den entscheidenden Dreh zu geben, heißt es jetzt, «die deutsche Rowling» habe einen neuen Roman geschrieben, sein assoziationsreicher Titel: «Tintenherz». Mit beträchtlichen Auflagen startete er soeben zeitgleich in Deutschland, Großbritannien und den USA. 
 
Der PISA-Zweck heiligt die Mittel Dieser Pauken-und-Trompeten-Auftakt passt ausgezeichnet in ein neues Verlagskonzept. All Age-Books lautet die jüngste Zauberformel auf dem so lange randständigen Kinderbuch-Sektor, das Ziel ist eine programmatisch generationsübergreifende Literatur. Die ist zwar bei Lichte besehen nicht wirklich neu –  bereits «Alice im Wunderland», «Pu der Bär», «Der Herr der Ringe» oder Michael Endes «Unendliche Geschichte» faszinierten Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Doch gilt seit  Harry Potters millionenfacher Leser-Verhexung die spezische Mischung der Rowling-Romane als Erfolgsrezept für eine ganze literarische Richtung, die sich künftig breit etablieren soll. Ein Kunststück, als dessen international erfolgreiches deutsches Zugpferd nun Cornelia Funke mit «Tintenherz» die Arena betritt.
 
Von Rowlings Doppel-Anhieb auf die Wunschenergien wie die bewusst gemachten Lebenserfahrungen ihrer erwachsenen Leser wissen wir, dass es zu dessen Gelingen das Spiel mit zwei Ebenen braucht: die möglichst phantastisch-hemmungslose Entfaltung einer kuriosen und spannenden Geschichte sowie den eher subkutan spürbaren Appell ans erwachsene Vorwissen. Das besondere Mittel, mit dem «Harry Potter» die Lese-Libido von Kindern wie Erwachsenen aufschäumen lässt, heißt Ironie. Die ist, um es gleich zu sagen, Cornelia Funkes Sache nicht. 
 
Und muss es ja auch nicht sein, denn spannend genug fängt in «Tintenherz» alles an: Mit einem Fremden, der in dunkler Nacht ums Haus schleicht und offenbar ein Geheimnis mit dem Vater der zwölfjährigen Meggie teilt – ein Geheimnis, das sie alle drei auf den folgenden 560 Seiten mitsamt der fetten, kinderfeindlichen und büchervernarrten Tante Elinor auf eine Reise, in ein Abenteuer auf Leben und Tod schickt. Dabei geht ein Schriftsteller verloren, eine verschwunden geglaubte Frau ndet Mann und Tochter wieder, und an Elfen und Kobolden herrscht ebenso wenig Mangel wie am verdienten Ende ruchloser Gesellen mit so sprechenden Namen wie Capricorn, Cockerell oder Flachnase.
 
Vor Beginn dieser Handlung allerdings macht das Motto des Buches unübersehbar deutlich, dass es hier noch um höhere Dinge gehen soll als darum, eine gute Geschichte gut und spannend zu erzählen. Es stammt aus Paul Celans Gedicht «Engführung», endet auf die Worte «Asche. / Asche, Asche. / Nacht» und lenkt die Gedanken des Erwachsenen unvermeidlich auf Todesdrohung, Todesnähe: Holocaust. Doch hat «Tintenherz», wie sich zeigt, mit dem besonderen Hallraum von Geschichte und Erinnerung, den das Celan-Zitat aufruft, gar nichts zu schaffen. Mit Cornelia Funkes besonderer Liebe zur Literatur hingegen umso mehr. Zu Anfang jedes Kapitels nämlich nden sich weitere Zitate, einmal von Shakespeare, einmal von William Blake, dann von Astrid Lindgren oder Toni Morrison, von Roald Dahl, Otfried Preußler, Charles Dickens und Robert Louis Stevenson – Welt- und Kinderliteratur in bunter Reihe, ein Quellenverzeichnis am Ende des Buches liefert die bibliograschen Angaben. Schon ein erstes Durchblättern nährt so die Vorstellung, wer die eigentlichen Helden dieses Romans sein werden: Bücher. Und im erwachsenen Leser regt sich eine leichte allergische Reaktion gegen didaktische Vorhaben in und mit Literatur sowie gegen die bemerkenswerte Freihändigkeit, den PISA-Zweck mit allen möglichen Mitteln zu heiligen.
 
Aus dem Buch ins Leben und zurück Doch auch wer von solchen Empndlichkeiten nichts weiß, wird sich bei der Lektüre bald zumindest wundern. Denn kaum ist der spannende Anfang gemacht, der zwielichtige Fremde namens Staubnger auf den Plan getreten, sieht man sich für längere Zeit fast ausschließlich von Büchernarren und deren begehrten Objekten umgeben: Vater Mo ist ein Buchbinder, der sein künstlerisches Handwerk mit Hingebung ausübt, Tochter Meggie wiederum nicht nur eine Leseratte, sondern auch eine Bücherkennerin von Graden, der weder eine «Erstausgabe» noch ein «Vorsatzblatt» Rätsel aufgeben – statt eines Schmusetiers nimmt Meggie eine Kiste vom Vater aufs Zauberhafteste für sie eingebundener Bücher mit auf die Reise. Tante Elinor schließlich kennt überhaupt nichts Lebendigeres oder gar Heiligeres als Bücher, weswegen sie deren kostbarsten Ausgaben ihr Haus geweiht hat, einen Nibelungenhort, den sie nach Drachenart bewacht.
 
Das ist eine Konstellation, die Kindern (aber auch Erwachsenen), die sich nicht als Buch-Acionados verstehen, den Zugang nicht gerade erleichtert. Denn über all dem Bücher-Preisen, -Lieben und -Ehren nimmt Cornelia Funkes Abenteuergeschichte nur sehr allmählich Fahrt auf. Und selbst in deren Zentrum steht, wie könnte es anders sein: ein Buch! «Tintenherz» heißt es, genau wie Cornelia Funkes Roman, und seine besondere Bewandtnis liegt darin, dass aus ihm Figuren versehentlich in die wirkliche Welt herübergelesen wurden und nun hier ihr zumeist grausiges Unwesen treiben, während für jede herausgelesene Gestalt ein wirkliches Wesen im Buch verschwinden musste. 
 
Das Medium dieser magischen Wechsel ist kein anderer als Meggies Vater, in seiner Eigenschaft als genialischer Vorleser auch Zauberzunge genannt. Seiner muss sich bemächtigen, wer wieder ins Buch zurückkehren, aber auch, wer noch weitere Gefährten daraus hervorgelesen haben oder einen darin verlorenen Menschen zurückbekommen will. Ein allseits unfreiwilliger Grenzverkehr zwischen Literatur und Leben ist das, der folgerichtig zur Menschenjagd führt: auf den Vorleser zuerst und seine Begleitung, schließlich aber auch auf den Autor des Werks. Denn er ist der einzige, der einmal festgelegte Schicksale wenden kann – der Meister der Imagination eben.  
 
Kein Zweifel: Cornelia Funkes Bücher-Roman hat seinen eigenen, schön versponnenen Reiz, und spannend bleibt er bis zum Showdown, in dem ein schauriger herbeigelesener Schatten den Chefgangster mit dem tintenschwarz-fühllosen Herzen auf Autorengeheiß meuchelt, die Täter sterben und ihre Opfer (mitsamt einigen hienieden sonst unsichtbaren literarischen Gästen) ins reale Leben zurückkehren. Das ist bunt und konsequent und zumeist auch gut erzählt. 
 
Lesen! Vorlesen! Schreiben!

Und doch überwiegt ein Eindruck von Naivität – und auch von so etwas wie Programmmusik. Er ergibt sich vor allem aus der Begeisterung, mit der die Macht des literarischen Wortes hier in allen erdenklichen Erscheinungsweisen gefeiert wird: Auch Meggie will am Ende Schriftstellerin werden, um, wie ihr Vater es einmal (mit einem Schriftstellerzitat) formuliert hat, «Geschichtenerzählerin», «Lehrerin» und «Magierin» in einem zu sein. Womit sich, wie der erwachsene Leser etwas müde ergänzt, eine Idealbiograe des empndsamen 19. Jahrhunderts schlösse: von der Leserin über die besonders begabte Vor-Leserin zur Wortschöpferin. Und wie nebenbei erlangt da auch noch eine pädagogische Faustregel des späteren 20. Jahrhunderts ihr ktives Recht: Lesen macht kreativ, wusste man damals.

Schöne Hoffnungen dieser Art zu diskreditieren, gibt es keinen Grund; ihre Realitätstüchtigkeit zu bezweifeln, mittlerweile viele. Was Kindern allerdings herzlich egal sein kann, solange nur die Story, um die es ihnen geht, funktioniert. Erwachsenen aber genügen inbrünstig beseelte Wünsche nicht. Und sie fühlen sich auch eher an den Haaren der Verantwortungspädagogik herbeigezogen, wenn ihnen immerfort bedeutet wird, wie wichtig und wertvoll das lektüre-orientierte Anliegen dieses Buches ist. Keineswegs genüsslich eingesponnen in einen phantastischen All-Age-Kosmos, kommen sie sich da plötzlich furchtbar overaged vor.



Cornelia Funke
Tintenherz Mit Illustrationen der Autorin. Cecilie Dressler, Hamburg 2003. 575 S., 19,90 €
 
Den Roman gibt es auch als (empfehlenswertes!) Hörbuch: Luxusausgabe in 16 CDs. Jumbo, Hamburg 2003. Gesamtspielzeit  ca. 18 Std., 69,90 €

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