Texte und Zeichen - Das Coming-out des Comics

Die berührende Autobiografie der amerikanischen Zeichnerin Alison Bechdel: Eine Frau entdeckt ihre Homosexualität, verliert ihren Vater an den Tod – und gewinnt ihn doch wieder

Wie ein Museum ist das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbringt: originalgetreu rekonstruiert nach Vorlagen aus dem Jahr 1867, geschmack­voll mit Antiquitäten ausstaffiert, umgeben von einem paradiesischen Garten, in dem kein Unkraut, keine schiefe Rabatte den Blick des Betrachters verstört. Jede freie Minute verbringt ihr Vater damit, das Interieur zu optimieren: ein leidenschaftlicher Sammler und Hobby-Architekt, ein stilbesessener Kunstliebhaber, dem ästhetische Perfektion alles gilt, die Bedürfnisse seiner Mitmenschen aber wenig bedeuten. «Er behandelte seine Kinder wie Möbel und seine Möbel wie Kinder.» Erst spät wird Alison begreifen, wie diese egomane Ästhetisierung des Lebens Selbsthass und Scham übertüncht.

«Fun Home» heißt der autobiografische Comic-Roman, in dem die amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel von ihrer Kindheit im ländlichen Pennsylvania der siebziger Jahre berichtet – und von ihrem Coming-out als Homosexuelle. Sie erzählt die Geschichte ihrer Familie, vom Leben mit ihren beiden Brüdern und ihren Eltern in dem riesigen Landhaus, das ihr Vater über Jahrzehnte hinweg mit Akribie und Erfindungsgabe renoviert. Sie erinnert sich an die Kälte, die zwischen den Eheleuten ebenso herrscht wie zwischen dem Vater und seinen Kindern. Niemals gibt es so etwas wie körperliche Nähe, Liebkosungen oder Gute-Nacht-Küsse. Dass es dem Vater «gefiel, eine Familie zu haben», spürt die kleine Alison nur in jenen Momenten, in denen sie sich ganz seiner Selbstinszenierung unterwirft: eine Art «Stillleben mit Kindern».

Als Mädchen entwickelt sie eine sonderbare Faszination für Männergarderobe. Auf dem College entdeckt sie lesbische Literatur, lesbische Selbsthilfegruppen und schließlich die lesbische Liebe. Als sie ihrer Mutter in einem Brief ihr Coming-out beichtet, antwortet diese mit einer zweiten Enthüllung: Alisons Vater ist schwul. Er hat zeit ihrer Ehe Verhältnisse zu jungen Männern gesucht, er ist, unbemerkt von den Kindern, vor Gericht und in psychiatrischer Zwangsbehandlung gewesen. Schon lange, so schließt die Mutter, habe sie die Scheidung erwogen, nun mache sie endlich ernst. Wenige Wochen später ist der Vater tot, vor einen Lastwagen gelaufen. Ob es ein Unfall war oder Selbstmord, kommt niemals heraus.


Die triefenden Frauenkörper des Robert Crumb

Seit 25 Jahren arbeitet Alison Bechdel als Comic-Autorin. Mit «Dykes to Watch Out For» zeichnet sie eine äußerst beliebte lesbische Soap Opera, die in wöchentlichen Fortsetzungen in mehr als 50 Zeitungen erscheint. «Fun Home» ist ihre erste längere Geschichte, ihr Opus magnum, eine so liebevolle wie bittere Rekonstruktion der eigenen Kindheit und eine späte Liebeserklärung an den Vater, den sie erst versteht, als er nicht mehr da ist. Im gleichen Moment, in dem sie ihr wahres Ich entdeckt, führt seine Lebens­lüge ihn in die Katastrophe.

Coming-out-Geschichten haben eine lange Tradition in amerikanischen Comics. Seit sich der schüchterne Zeitungsreporter Clark Kent 1938 zum ersten Mal in den stählernen Helden Superman verwandelte, haben sie immer wieder Doppel-Identität, Selbstverkennung oder Emanzipation von vorgegebenen Rollenmustern thematisiert. In der Ära der Hippies und Bürgerrechtsbewegungen wurden die «Underground-Comics» neben der Popmusik zum wichtigsten Medium der Selbst-Offenbarung. Künstler wie Robert Crumb, S. Clay Wilson oder Spain Rodriguez verbanden die Propaganda für den politischen Umsturz mit plastischen Bildern intimer Sexphantasien. Besonders Crumb wurde mit seinen dreidimensionalen, fleischigen, großbusigen, vor Körperflüssigkeit nur so triefenden Phantasie-Frauenkörpern berühmt.

Anders gesagt: deutlicher als in den amerikanischen Comics konnte der fundamentale Sexismus der von männlichen Rädelsführern bestimmten 68er-Bewegung kaum zum Ausdruck gelangen. Und wie im Pop dauerte es auch hier fast ein Jahrzehnt, bis die ersten weiblichen Stimmen Gehör fanden. Gegen den misogynen Stil von Künstlern wie Crumb gründeten sich Mitte der Siebziger­jahre in Kalifornien etwa das «Wimmen’s Comix Col­lec­tive» und das Magazin «Tits & Clits». Deren Zeichnerinnen nutzten das billige und im damals noch intakten Netzwerk der Headshops schnell zirkulierende Medium: Hier wurden Marihuana und Schallplatten ebenso verkauft wie Comic-Hefte, die Aufklärungskampagnen etwa zu Fragen der Abtreibung, der politischen Emanzipation oder der lesbischen Liebe unterstützten. Vor allem aber deutete das «Wimmen’s Comix Collective» traditionell männliche Identifikationsmuster in der Comic-Subkultur zu positiven weiblichen Rollenmodellen um. So berichtete das erste Heft, das sich ausdrücklich an ein lesbisches Publikum wandte – Roberta Gregorys «Dyna­mite Damsels» aus dem Jahr 1976 –, von einer heroischen «Super Dyke», die bedrängte Frauen und schwule Männer vor sexistischen Gewalttätern schützte.

Bis in die achtziger Jahre folgten die meisten femi­­nistischen und lesbischen Comic-Zeichnerinnen dieser Strategie der Aneigung und Umwertung: von der Punk-Lesbe Diane DiMassa, deren «Hothead Paisan: Homicidal Lesbian Terrorist», dem Schwarzenegger’schen Termi­­nator gleich, auf einem rasenden Feuerstuhl die männli­chen Sexistenschweine gleich reihenweise niedermähte – bis hin zu Donna Barr, die in ihrer Serie «The Desert Peach» die Faszination mancher Schwuler und Lesben für militärische Uniformen zu einer abgründigen Soap Opera verarbeitete: Der schwule Bruder Ernst Rommels betreibt da während des Afrika-Feldzugs ein utopisches Militärlager in der Wüste, wo Schwule, Lesben und Juden Zuflucht vor den Nationalsozialisten finden …


Wie erträgt frau den allgegenwärtigen Sexismus?

Gegenüber solcher Umwertung von Trivialmythen markierten die Comics von Alison Bechdel einen historischen Bruch. In «Dykes to Watch Out For», erstmals 1984 erschienen, fand sich nicht mehr das geringste Zeichen aus der Tradition der Superhelden und -heroinen. Hier wurde nichts Männliches mehr angeeignet. Männer wurden weder als Gegner noch als Negativ der eigenen Selbstfindung gebraucht. Vielmehr waren sie aus den Bildern von Bechdel schlicht verschwunden. Comics waren bei ihr kein Genre mit einem festen Inventar von Motiven und Typen, sondern ein leicht zu gebrauchendes, «kleines» Medium der Selbstauskunft und des Ratgebens für den Alltag: Wie erträgt frau den allgegenwärtigen Sexismus? Wie findet die frisch geoutete Lesbe zu einem positiven Bild der eigenen, abweichenden Sexualität? Wie lässt sich die erste Begegnung mit den Eltern der neuen Freundin am besten überstehen? «Wer ist das? Deine Mitbewohnerin? Und wieso schneidet ihr bloß eure Haare so kurz?»

Von der punkigen Grobheit ihrer frühen Geschich­ten hat Alison Bechdel sich inzwischen entfernt. Heute arbeitet sie in einem reduzierten, aber mit allerlei – am Computer erzeugten – Schraffur- und Wischtechniken plastisch gemachten Stil. Auch «Fun Home» lebt von dieser Mischung aus Reduktion und Plastizität. Gegen die Szenerie der längst verschwundenen Orte der Kindheit setzt die Zeichnerin ihre Charaktere mit dicken Konturen ab. Nicht selten sind sie auch, wie Geistererschei­nun­gen, von Aureolen umglommen. Besonders berührend ist die Zartheit, mit der Bechdel ihren Vater zum Leben erweckt. Berührend, weil ihr Strich umso liebevoller erscheint, je stärker die Fremdheit und die Ablehnung sind, an die sie sich erinnert.

Mit winzigem Mund und schmalem Gesicht wirkt der Vater undurchdringlich und steif, aber auch auf son­derbare Weise zerbrechlich und unsicher. Seine Mimik ist schwer zu durchdringen – so schwer wie die Mimik des jungen Mädchens, des Alter Ego der Autorin. Beide sind mit schläfrigen, leicht erstarrten Blicken gezeichnet. In Bechdels alten Gag-Comics standen solche Blicke für die Langsamkeit, mit der jemandem ein Licht aufgeht. In «Fun Home» werden sie zum Zeichen der Langsamkeit, mit der die Erzählerin sich selbst und ihre eigene Vergangenheit begreift – im Gesicht des Vaters ebenso wie in dem eigenen, das ihr fremd geworden ist.


Die Texte sind Zensurbalken über den Bildern

Wie eine Kriminologin der eigenen Biografie sucht Alison Bechdel jene Spuren, die auf ihr späteres Coming-out weisen: ungewöhnliche Vorlieben und Aversionen oder die Zuneigung zu Freundinnen, die über eine gewöhnliche Mädchenfreundschaft hinausgeht. Zugleich sucht sie nach den Anzeichen für die Homosexualität ihres Vaters: seine Ausflüge in die Schwulenviertel New Yorks oder die jungen Männer, die er bei der Gartenarbeit verhohlen umwirbt. Wie unglücklich muss er in seiner Familie gewesen sein! Wie sehr musste er sich und seine Leidenschaften verstellen, um ein normal heterosexuelles Leben mit Frau und Familie zu führen! Was hätte sie an seiner Stelle getan? Hätte sie sich getraut, sich zu outen, hätte sie zur Generation ihres Vaters gehört? Und was wäre geschehen, hätte er sich getraut? Alison wäre niemals geboren worden.

So hat, was in seinem frühen Tod endet, die Erzählerin erst auf die Welt gebracht. «Unsere Geschichten», schreibt sie im allerletzten Bild, «sind in einer vertrackt invertierten Erzählung verbunden.» Eine Vertracktheit, die Bechdel – traurig und eindrucksvoll – in der vertrackten Verschränkung von Bildern und Texten zur Erscheinung bringt. Unablässig begleitet die Stimme der Ich-Erzählerin den Leser durch die Autobiografie. Doch nachdem sie am Anfang einfach erläutert, Szenen und Gefühle benennt, driften Wort und Bild bald schon auseinander. Was die reduzierte Zeichnung der Figuren an Rätseln aufgibt, deuten die Kommentare im Licht späterer Entwicklungen. Doch nicht selten schieben die Texte sich wie Zensurbalken über die Bilder, sodass sie, was sie zu erläu­tern vorgeben, zugleich verdecken und entstellen. Und andererseits: was die Bilder an Eindeutigkeit suggerieren, zieht die distanzierende Sprache wieder in Zweifel. Manch­mal erklärt der Text sogar schlichtweg für falsch, was das Bild als Wahrheit ausgibt. Mit dieser Spannung, der Bin­nenspannung der Comic-Ästhetik, inszeniert Bechdel fortwährend Widersprüche. Bild und Text ergänzen sich nicht wechselseitig, sondern verdeutlichen die Gespaltenheit der Ich-Erzählerin: einer Interpretin ihrer eigenen Vergangenheit, auf der Suche nach der Wahrheit in ihren frühen Gefühlen, auf der Suche nach dem Geheimnis ihrer Zuneigung zum fremd gebliebenen Vater. Am Ende versteht sie, dass er ihr dort am nächsten war, wo er am fernsten schien, nämlich in der Unfähigkeit, seine Rolle als Vater auszufüllen.

Die Literatur: eine Sprache über den Tod hinaus

«Der glückliche Tod» heißt das Kapitel, in dem Bechdel die Beerdigung des Vaters schildert. Wie diesen Abschnitt hat sie alle neun Teile der Autobiografie nach literarischen Zitaten modelliert. Bechdels Vater hatte kurz vor seinem Unfall Albert Camus’ Buch «Der glückliche Tod» gelesen. Indem sie diesen Roman sowie die Notizen ihres Vaters dazu ausdeutet, versucht Alison nun, seine Gefühle, seine Not am Ende des Lebens zu entziffern. In dem Kapitel «Der ideale Gatte» betrachtet sie ihre hobby-schau­spielernde Mutter, wie sie das gleichnamige Stück von Oscar Wilde einstudiert, während ihr Vater, dem Dichter gleich, wegen seiner Zuneigung zu jungen Männern vor Gericht gestellt wird. Anders als Wilde kommt er mit einer zwangsweise verordneten psychiatrischen Behandlung davon. Der letzte Abschnitt «Skylla und Charybdis» erzählt von Bechdels ersten College-Jahren. Kurz bevor ihr Vater stirbt, schreibt sie sich in einen Kurs zum «Ulysses» ein – seinem Lieblingsbuch – und versucht zu verstehen, was sich von ihm in der Odyssee des Stephen Dedalus findet. Wie die Figuren von Joyce sich im «Ulysses» fragen, was die Figuren Shakespeares über ihren Schöpfer aussagen, so fragt sich Alison in der Rekapitulation ihres eigenen Bildungsromans, was die Lektüre-Leidenschaft ihres Vaters über ihn enthüllt – und was sein Schicksal über das ihre aussagt.

Doch so sehr Alison Bechdel auch daran zweifelt, dass Kunst und Leben einander entsprechen – sie hat kein anderes Mittel mehr, um ihre Vergangenheit zu verstehen. Am Ende ist es die gemeinsame Liebe zur Literatur, der Kanon der bürgerlichen Bildung, in dem Alison das einzige Medium findet, um mit ihrem Vater zu kommunizieren. Die literarischen Zitate, mit denen sie ihre Geschichte versieht, sind kein bloßer Zierrat. Sie dienen nicht dazu, einfach Bildung zu beweisen, sie dienen nicht dazu, in einer vermeintlich traditionsfernen Gattung wie dem Comic Tradition zu bewahren. Vielmehr sind die Zitate Prothesen, Mittel zum Zweck: ein Medium der Erkenntnis, das seinen Gegenstand zwar entstellt – das aber unerlässlich ist, um überhaupt etwas zu erkennen. So justiert Bechdel, die einst den Comic aus seinen überkommenen Traditionen löste, auch das Verhältnis von literarischem Erzählen und Comic-Literatur neu – in der Trauer über etwas, das niemals gesagt wurde und nicht mehr gesagt werden kann.

Dass sie keine unmittelbare Sprache besitzt, um mit ihrem Vater zu reden – und zu uns, ihren Lesern, über ihn –, das ist Ausdruck der größten Tragödie. Und Grundlage der berührendsten Kunst. In der Reflexion auf die eigenen Mittel bebildert dieser Comic unablässig die eigene Unzulänglichkeit, eine Unzulänglichkeit, die jene des Lebens spiegelt. In der Enthüllung seiner intimsten Geheimnisse weist «Fun Home» über alles hinaus, was in den Comics bislang gewagt wurde. Dieses Coming-out wird uns lange ein Maßstab sein.

 

Jens Balzer ist Pop-Redakteur im Feuilleton der «Berliner Zeitung» und Autor der Comics «Salut, Deleuze!» und «Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus» (gezeichnet von Martin tom Dieck).

 

Alison Bechdel
Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten
Aus dem Amerikanischen von Sabine Küchler und Denis Scheck.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 240 S., 19,95 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.