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(Picture Alliance) Im Ausland frei erhältlich: Hitlers Autobiografie

Hitlers „Mein Kampf” - Copyright auf ein Tabu

2016 läuft der Urheberrechtsschutz für Adolf Hitlers „Mein Kampf ” aus. Höchste Zeit, dieses Machtwerk bei Tageslicht zu sezieren, um ihm endlich seine scheinbar dämonische Macht zu nehmen

Vor zwölf Jahren, von Januar bis April 2000, wurde vor dem High Court von London eine Klage gegen die historische Wahrheit entschieden. Die Angeklagte, die amerikanische Akademikerin Deborah Lipstadt, hatte in ihrem Buch „Denying the Holocaust“ den Autor David Irving als einen „authentischen Holocaustleugner“ bezeichnet. Irving, der seine Karriere als Historiker in rechten Kreisen hauptsächlich durch die Behauptung gemacht hatte, in Auschwitz seien nie Juden vergast worden, und dass „mehr Frauen auf dem Rücksitz [von Ted Kennedys Wagen] in Chappaquiddick“ gestorben seien als in den Gaskammern, verklagte Lipstadt wegen Verleumdung.

Nach britischem Recht ist Holocaustleugnung nicht strafbar, und bei Verleumdungsprozessen liegt die Beweislast beim Angeklagten. Lipstadt musste also nachweisen, dass Irving tatsächlich nicht, wie er selbst von sich sagte, ein überragender Historiker ohne Angst vor der Wahrheit war. Sondern ein rechtsextremer und rassistischer Autor, der wissentlich Fakten verdrehte und Quellen missbrauchte, um ein historisch überwältigend dokumentiertes Ereignis aus der Welt zu schreiben und Hitler als einen großen Feldherrn und Ehrenmann zu rehabilitieren, der von den, so Irving, tatsächlich aber niemals systematisch verübten und nur in viel kleinerem Ausmaß stattgefundenen Judenmorden nichts gewusst habe.

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Was wie die Ausgangssituation eines makabren Theaterstücks klingt, wurde in den folgenden mehr als 30 Verhandlungstagen erschreckende Wirklichkeit. Einer nach dem anderen traten die wichtigsten historischen Experten der Gegenwart auf, unter ihnen Peter Longerich, Robert Jan van Pelt, Richard J. Evans, John Keegan sowie Yehuda Bauer, und evaluierten Quellen und deren Interpretation, beschrieben Mordmethoden und Tötungskapazitäten, Architektur und Funktionsweise der Gaskammern und den historisch belegbaren Wissensstand Hitlers über den Judenmord.

Die kühle und faktische Beschreibung des Grauens machte es noch ungeheuerlicher. Ich saß damals im Gerichtssaal, als Korrespondent einer großen Zeitung. Irving, ein historischer Autodidakt und selbst ein hervorragender Quellenkenner, der Jahrzehnte mit Aktenstudium verbracht hatte und sich nach Angaben bekannter Kollegen in vielen Dokumenten besser auskennt als die meisten Historiker, hatte bestritten, dass über eine bestimmte Zeitspanne eine bestimmte Anzahl von Juden durch Vergasungswagen umgebracht worden sein könnten. Das sei rein logistisch unmöglich, sagte er höhnisch. Irving verteidigte sich selbst. Mit streng gescheiteltem Haar und in einem doppelreihigen Nadelstreifenanzug dozierte und schwadronierte er, fragte Zeugen nach den kleinsten Details und machte sich über die Verteidigung lustig. Dies war sein Moment im Rampenlicht, seine große Schlacht. Die ganze Welt hörte seinen Thesen endlich zu, musste ihnen zuhören.

Also rechnete Richard Evans, Professor für Geschichte an der Universität Cambridge, vor: Ein Lastwagen mit einer Kapazität für x Opfer konnte pro Tag den Weg vom Lager zum Massengrab so und so oft machen, Tankstopps und Pausen für Besatzung und Fahrer sowie Einladen der lebenden Opfer und Ausräumen der Leichen eingerechnet. All das war schwer zu ertragen. Neben mir auf der Tribüne saß ein altes Ehepaar, zusammengesunken, starr vor Entsetzen. Vor ihnen ein junger Mann mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln.

Seite 2: Wir müssen uns auch mit unerträglichen Meinungen auseinandersetzen

Der von ihm selbst angestrengte Prozess wurde zum Desaster für Irving. Der vorsitzende Richter, Lord Justice Gray, gab Deborah Lipstadt in seinem Urteil vollinhaltlich recht und bestätigte damit auch, dass Irving aufgrund seiner Aussagen und Quellenmanipulationen als Lügner, Geschichtsfälscher, Antisemit und Rassist bezeichnet werden darf. Zusätzlich dazu wurde er dazu verurteilt, die Prozesskosten von 2,5 Millionen Pfund zu zahlen, was ihn auch wirtschaftlich ruinierte. Im Zuge der Verhandlung wurden alle Behauptungen dieses wohl fachlich versiertesten aller Holocaustleugner widerlegt, alle „Gegenbeweise“ entkräftet. Sollte heute die historische Wirklichkeit des Holocaust von irgendjemandem in Zweifel gezogen werden, dann reicht ein Verweis auf die Prozessakten Irving versus Lipstadt.

Natürlich: Die wirklich fanatischen Ewiggestrigen sind nicht empfänglich für Beweise. Sie glauben das, was sie glauben wollen mit der hermetischen Verbissenheit eines Kreationisten in einem Museum für Naturgeschichte. Aber um sie geht es nicht. In Debatten und Diskussionen geht es darum, diejenigen zu überzeugen, die offen sind für Argumente, die Neugierigen, die Verwirrten, die Zweifelnden, vielleicht sogar die Gleichgültigen.

In Deutschland, wo die Leugnung des systematischen Massenmords an Juden und anderen Gruppen unter Strafe steht (die Bezeichnung „Holocaust“, also Brandopfer, ist problematisch und setzte sich allgemein erst 1978 mit der amerikanischen Fernsehserie des gleichen Namens durch), wäre ein historischer Prozess wie der 2000 in London abgehaltene nicht möglich. Was aber im Dunkeln bleibt und tabuisiert wird, kann besonders jungen, verwirrten oder verbitterten Zeitgenossen gerade dadurch als verbotene, von mächtigen Interessen unter Verschluss gehaltene historische Wahrheit erscheinen.

Vielleicht war es in der jungen Bundesrepublik tatsächlich unerträglich, jemanden in der Öffentlichkeit den Massenmord an den Juden leugnen zu hören (es ist noch heute unerträglich), vielleicht war es in einem demokratisch noch nicht gefestigten Land auch gefährlich. Aber wir leben nicht mehr in so einem Land, und wir müssen uns auch mit unerträglichen Meinungen auseinandersetzen. Wir können die wirren Gedanken und hasserfüllten Tiraden der alten und jungen Nazis, Rassisten und religiösen Fanatiker aller Geschmacksrichtungen als solche behandeln und uns in aller Offenheit mit ihnen auseinandersetzen.

Es ist wichtig, das toxische Erbe des Nationalsozialismus zu enttabuisieren, auch und besonders das Gründungsdokument der „Bewegung“, Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Hitler hatte das Buch 1924 während seiner Haft in der Feste Landsberg geschrieben. Lange Passagen davon hat er wahrscheinlich auch diktiert, was den oft wenig geordneten, rednerischen Duktus des Textes erklärt. Die Redaktion dieser wirren Tiraden lag bei einem Pater Stempfle, einem katholischen Ordensmann und fanatischen Antisemiten, der aus Hitlers Ergüssen einen zusammenhängenden Text machte und 1934 im Zuge des Röhm-Putsches unter ungeklärten Umständen nach Dachau verschleppt und dann ermordet wurde.

Das Werk, das ursprünglich in zwei Bänden erschien und erst 1933 in einer einbändigen Volksausgabe gedruckt wurde, wurde ab 1936 frisch verheirateten Paaren im Standesamt statt der Bibel überreicht. Um zu verhindern, dass dieses ungebetene Geschenk direkt ins Antiquariat wanderte, hatte Hitler bei der Reichsschrifttumskammer eine Sonderregelung erwirkt, die es verhinderte, dass das Buch aus zweiter Hand verkauft werden durfte. Die Tantiemen dieses Werkes, das bis Kriegsende eine Auflage von etwa zehn Millionen Exemplaren erreichte, waren eine wichtige persönliche Einnahmequelle des „Führers“.

Seite 3: Warum „Mein Kampf” neu aufgelegt werden muss

Die in „Mein Kampf“ dargelegte Weltanschauung eines Kampfes der Rassen, der sich besonders gegen „das Judentum“ und den Bolschewismus richtete, fußt hauptsächlich auf den rassistischen Ideologien des Wiener Fin de siècle und auf den „Protokollen der Weisen von Zion“, einer antisemitischen Fälschung, die die Geheimpolizei des Zaren bereits 1903 in Russland in Umlauf gebracht hat und die ihrerseits Material aus Frankreich gebrauchte, das ursprünglich gegen die Freimaurer gerichtet war. Einige der von Hitler benutzten Ideen sind noch heute in rechten Kreisen anzutreffen, beispielsweise die These, eine jüdische Verschwörung bediene sich der Finanzmärkte, um die Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Angesichts dieser Verschwörung zwischen „jüdischem Kapital“ und Bolschewismus sah er die Ursache für eine endzeitliche Schlacht gekommen, die der „arischen Rasse“ Lebensraum im Osten verschaffen sollte.

In knapp drei Jahren, 2015, läuft das vom Freistaat Bayern gehaltene Copyright auf Hitlers „Mein Kampf“ aus. Damit kann jeder Verlag dieses von den Nazis gemeinsam mit der Gutenberg-Bibel als „wichtigstes deutsches Buch“ bezeichnete Werk neu herausgeben. Bis jetzt hatte die bayerische Regierung das geltende Copyright genutzt, um es unter Verschluss zu halten. Der zuständige bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) strebt keine Verlängerung des Urheberschutzes an. Das ist ein kluger Schritt, denn so eine Regelung könnte nur durch ein verfassungsrechtlich anfechtbares Sondergesetz bewerkstelligt werden. Söder will stattdessen zwei kommentierte Ausgaben in Auftrag geben: eine „entschärfte“ und gekürzte mit Kommentaren in einfacher Sprache für Schulen und eine vom Münchener Institut für Zeitgeschichte voll und quellenkritisch aufgearbeitete. So will er den Buchmarkt mit seriösen Ausgaben versorgen, um zu verhindern, dass andere, propagandistisch motivierte Versionen sich etablieren.

Die Neuauflage von „Mein Kampf“ ist notwendig. Im Internet ist der Originaltext nur wenige Klicks entfernt, und über Antiquariate lässt sich auch ein Original problemlos bestellen. Das Verbot ist also bereits jetzt porös und allenfalls symbolisch. Diese Symbolwirkung aber ist kontraproduktiv. Mehr noch: Hitlers Reden, Tischgespräche und andere Dokumente über sein Denken sind ebenso frei zugänglich wie die Reden von Himmler und Goebbels und dessen Tagebücher, ganz zu schweigen von einer Flut von NS-Propagandaschriften, Pamphleten, Zeitungen und anderen Publikationen. Fast alle wichtigen Reden sind im Original auf „Youtube“ zu sehen. Nur die Gründungsschrift der „Bewegung“ bleibt weiterhin im Giftschrank – als würde etwas Besonderes in ihr stehen, etwas Unerhörtes, was jede Leserin und jeden Leser sofort in seinen Bann ziehen muss.

Es ist sicherlich besser, dieses wirre, hassdurchtränkte, von der jämmerlichen Rassenmystik des Fin de siècle durchzogene Machwerk bei Tageslicht zu sezieren und ihm seine scheinbare dämonische Macht zu nehmen. Ein Verbot spricht „Mein Kampf“ einen zu hohen Wert zu und schafft zusätzlich eine falsche Kausalität: Weder dieses Buch noch sein Autor waren die Ursache der nationalsozialistischen Verbrechen – sie waren nur wichtige Faktoren darin. Hier liegt eine Gefahr, die sich das deutsche Geschichtsverständnis lange und oft auch heuchlerisch zunutze gemacht hat: Es ist augenscheinlich verlockend, das Phänomen Hitler für alles verantwortlich zu machen – ein Phänomen, mit dem man heute noch periodisch neu aufgegossene „Enthüllungsartikel“, Bücher und Dokumentarserien verkaufen kann, die sich mit seinen Frauen, Schäferhunden, seiner Liebe zu Wagner oder anderen Aspekten seines Privatlebens beschäftigen und nichts, aber auch gar nichts auslassen; was mit Hitler zusammenhängt, das läuft noch immer. So entsteht eine mythologische Aufladung seiner Person und führt zur praktischen Simplifizierung: Die Nazis waren’s, Hitlers dämonisches Genie, sein stechender Blick. Hitler wird so als die zentrale Ursache der „nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“ identifiziert: hier die Nazis und der „Führer“ – da die Deutschen, die von ihnen tyrannisiert wurden und so fast unbemerkt in die Opferrolle schlüpfen können.

Seite 4: Hitler zu dämonisieren heißt, die Deutschen zu entschuldigen

Diese moralisch rückgratlose Haltung hat Daniel Goldhagen in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ angegriffen und den Bogen dabei weit über jede Plausibilität hinaus überspannt. Heraus kam damals ein Bestseller, der leider auch ein schlechtes Stück Geschichtsschreibung war, das seinen Erfolg wohl auch latenten deutschen Schuldgefühlen verdankte. Nicht alle waren Täter, aber keine Diktatur könnte ohne die große Menge der Wegseher und kleinen Profiteure überleben. Es bedarf nie mehr als einiger weniger Fanatiker, die den Rest mit Zuckerbrot und Peitsche in ihre Richtung lenken. Das hat uns ein historisch- psychologisches Meisterwerk gezeigt, das von einem Schauspieler kam: Helmut Qualtingers Fernsehspiel „Der Herr Karl“. Wenn Sie es nicht kennen, sehen Sie es sich auf Youtube an. Sie lernen dort alles, was man über Diktaturen wissen muss – nicht nur in Wien.

In der historischen Gemengelage der Weimarer Republik war Hitler aber nicht der einzige faschistische und antisemitische Demagoge, und es ist davon auszugehen, dass irgendjemand anderes zum „Führer“ geworden wäre, wenn Hitler beispielsweise im Ersten Weltkrieg umgekommen wäre. Nicht er oder „Mein Kampf“ waren Ursache und Attraktivität des Nationalsozialismus, sondern eine spezifisch deutsche Mischung aus Niederlage im Ersten Weltkrieg, Demütigung und Zukunftsangst, Militarismus und Inflation, Dolchstoßlegende und Antisemitismus, Misstrauen gegen die junge Demokratie und Sehnsucht nach dem starken Mann.

Hitler und seine „Schergen“ werden zu Projektionsfiguren der deutschen Schuld: Indem sie für tabu erklärt, dämonisch aufgeladen und in die Wüste geschickt werden, entlastet sich das Kollektiv. Hitler zu dämonisieren, heißt die Deutschen zu entschuldigen und die Lüge zu perpetuieren, sie seien eben nur verführt worden, sie hätten sich den Händen des Magiers nicht entwinden können. Aber die Verbrechen des Nationalsozialismus sind deutsche Verbrechen, begangen, geduldet und ermöglicht von Deutschen und Österreichern, die aktiv teilnahmen, wegsahen oder profitierten – nicht von Adolf Hitler und seinen „Nazi-Schergen“. Wer „Mein Kampf“ weiterhin wegsperren will, der leistet einer verharmlosenden Erklärung Vorschub, ob freiwillig oder nicht. „Mein Kampf“ gehört zu uns und zu unserer Geschichte, genauso wie die Hunnenrede Wilhelms II und – in einem Europa, in dem Nationalstaaten obsolet werden – die anderen Verbrechen der Europäer, die durch eine Monopolisierung des Holocaust‑Gedenkens oft ausgeblendet werden. In Belgien stehen beispielsweise heute noch Denkmäler für König Leopold II, der Anfang des 20. Jahrhunderts für seinen persönlichen Profit im Kongo, seiner persönlichen Kolonie, zehn Millionen Afrikaner verhungern und bestialisch ermorden ließ.

Hier klingeln Alarmglocken. Der von Ernst Nolte losgetretene Historikerstreit und die larmoyante Stimme von Martin Walser werden laut. Die Eingliederung der nationalsozialistischen Verbrechen in einen weiteren historischen Rahmen riecht nach Aufrechnung, nach Relativierung. Dabei sind der Holocaust und seine Einzigartigkeit ein Grundstein des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses.

Historische Narrative folgen gegenwärtigen Bedürfnissen. Die Massenmorde der Nazis zu einem stringent erzählbaren „Holocaust“ umzudeuten, war eine US-amerikanische Interpretation, die viel mit der Rechtfertigung ihrer Nahostpolitik und der Ablenkung von eigenen Verbrechen (an Native Americans, Afroamerikanern, in Vietnam et cetera) zu tun hatte, wie Peter Novick in seinem 2000 erschienenen Buch „The Holocaust and Modern Memory“ argumentierte. Der Holocaust als mediales Narrativ – von der gleichnamigen Miniserie bis zum Film „Schindlers Liste“ und den in den Vereinigten Staaten häufigen Holocaust-Museen – bot eine ideale Projektionsfläche und tut es heute noch. Aber diese Projektionsfläche stammt aus dem Kalten Krieg und aus Machtkämpfen um die Deutungshoheit der Geschichte in den Vereinigten Staaten. Objektives Geschichtsverständnis war nie das Ziel dieser mediatisierten Interpretation.

Seite 5: Verbotsgesetze instrumentalisieren menschliches Leiden für gegenwärtige politische Zwecke

Hier muss man wohl, aus der europäischen Perspektive, anfügen, dass die Kultur der Bundesrepublik Deutschland durch Mediatoren wie Adorno und später Henryk Broder oder Dan Diner den „Zivilisationsbruch“ als Konzept des katastrophalen Versagens des Humanismus und dessen Singularität unabhängig von den Vereinigten Staaten entwickelt und erhalten hat. In Bezug auf die Geschichte des deutschen Selbstverständnisses scheint das Festhalten an der Einzigartigkeit des Holocaust fast durch eine kulturelle Erwählungsidee in der Tradition Fichtes und Hegels motiviert zu sein: Wenn die Deutschen als Träger einer großen Kultur zu einem solchen Verbrechen fähig waren, dann muss das Versagen dieser Kultur schrecklicher und metaphysisch vernichtender sein als Völkermorde anderer und „weniger hochstehender“ Kulturen. In dieser idealistisch-rassistischen Logik (die, glaube ich, die nationalsozialistische Ideologie mit beeinflusste) waren Deutsche und Juden Konkurrenten um das Privileg der historischen Erwählung. Im Beharren auf dem Holocaust-Narrativ besteht diese Logik weiter. Es ist längst überfällig, mit ihr zu brechen.

Verbotsgesetze und fixierte historische Narrative instrumentalisieren menschliches Leiden für gegenwärtige politische Zwecke: Als unter Präsident Sarkozy das Leugnen des Massenmords an den Armeniern unter Strafe gestellt wurde, war das eine Geste in Richtung Türkei. Aber was ist dann mit der künstlichen Hungersnot in der Ukraine 1932 (3,5 Millionen Opfer), mit den Gulags (1,6 Millionen Opfer), mit Chinas „Großem Sprung nach vorn“ (mehr als 30 Millionen Opfer)? Was ist mit Kambodscha, Ruanda und mit Nordkorea heute? Wo sollen Verbote anfangen oder aufhören? Wer entscheidet, was unerträglich ist? Soll man die armen Irren, die in deutschen Fußgängerzonen für das glorreiche Nordkorea werben, mit Gefängnisstrafen belegen, und müsste man dann nicht auch Maos Rotes Buch verbieten? Den Opfern ist es gleichgültig, ob ihr Leben im Namen einer rassistischen Ideologie, einer statistischen Quote wie in Stalins Russland oder, wie im Falle des Kongos, aus blanker Habgier zerstört wird.

Die Massenmorde, der Völkermord der Deutschen und Österreicher und ihrer Mittäter unter nationalsozialistischer Herrschaft verlieren nichts an ihrem Schrecken, nichts von ihrem spezifischen Charakter und nichts von ihrer verpflichtenden Natur für ihre demokratischen Erben, wenn sie in einem größeren historischen Kontext diskutiert, analysiert und verstanden werden. Im Gegenteil: Erst ein synoptisches Verständnis der historischen Prozesse macht das Wesen des deutschen Völkermords deutlich.

Durch die Öffnung der Archive in den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist diese übergreifende Analyse nicht nur möglich, sondern auch notwendig geworden und kann zu einem vertieften Verständnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts in seiner Gesamtheit führen. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat das in seinem kürzlich erschienenen Buch „Bloodlands“ meisterhaft demonstriert. Es geht nicht um moralische Äquivalenz und schon gar nicht um Aufrechnung – es geht darum, die Schrecken eines Jahrhunderts und die Mechanismen der Unmenschlichkeit zu erfassen und in Zukunft zu verhindern – in Europa und, soweit möglich, darüber hinaus.

Eine Kontextualisierung der nationalsozialistischen Verbrechen ist aus einem anderen Grund notwendig: Das alte Ehepaar, das beim Irving-Prozess neben mir saß, gehörte zu den Überlebenden, aber in wenigen Jahrzehnten werden auch die letzten von ihnen gestorben sein. Ich bin mit Tätern und Opfern aufgewachsen – für meine Generation sind die Grauen des Völkermords und seine moralischen Verstrickungen noch in der eigenen Familie mittelbar erlebte Geschichte. Für Schüler heute ist der Zweite Weltkrieg kaum stärker präsent als der Erste, vielleicht sogar als der Dreißigjährige Krieg. Er ist längst historisch geworden, eine Jahreszahl ohne emotionale Wirklichkeit.

Seite 6: Auch wenn „Mein Kampf” an jedem Kiosk zu haben ist, wird es die Bundesrepublik nicht gefährden

Die verlorene Unmittelbarkeit des Erlebens eines Ereignisses, das unwiderruflich zur Geschichte wird, kann kein Pädagoge wieder herstellen und auch kein Besuch im Konzentrationslager, wo direkt neben dem verrosteten Stacheldraht Würstchenbuden stehen. Für junge Deutsche bestehen keine persönlichen moralischen Verstrickungen mehr, wohl aber eine moralische Verpflichtung eines demokratischen und in Wohlstand lebenden Staates mit einer Geschichte, in der ein Jahrtausendverbrechen einen zentralen Platz einnimmt und der aus eigener Erfahrung heraus Freiheit und Demokratie als zentral begreift. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sie aufbringen, geschehen heute in Afghanistan, in Syrien und im Sudan. Nur im Kontext der Gegenwart kann der moralische Imperativ, der Kern der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus, wachgehalten werden.

Die Frage, ob sich das Andenken an die Grauen des Völkermords der Deutschen je „normalisieren“ darf, ist müßig – es ist längst passiert. Diese Normalisierung ist keine moralische Frage, sondern eine biologische und in gewisser Hinsicht, soweit sie Migranten aus anderen historischen Traditionen betrifft, die Deutsche geworden sind, eine soziale und demografische. Die Erinnerung als leeres Ritual kann nur Entfremdung schaffen, heruntergebetete Betroffenheit (eine sehr deutsche Tugend) wird zum Schutzschild gegen die Einsicht, dass uns das Erbe des Krieges und des Mordens dazu motivieren muss, uns heute für Menschenrechte und demokratische Freiheiten einzusetzen, wo immer sie bedroht werden.

Die gute Neuigkeit ist, wie Dana Giesecke und Harald Welzer in ihrem gerade erschienenen Plädoyer „Das Menschenmögliche – Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“ schreiben, dass die deutsche Erinnerungskultur ihr Ziel weitgehend erreicht hat. Auch wenn er seine Thesen in Deutschland vertreten dürfte, würde sich kaum jemand für die Ideen eines David Irving interessieren. Auch wenn „Mein Kampf“ an jedem Kiosk zu haben ist, wird es die Bundesrepublik nicht gefährden. Auch wenn es nicht mehr lebendige Erinnerung ist, hat das Trauma des Nationalsozialismus und der eigenen Schuld die deutsche Gesellschaft nachhaltig und positiv geformt.

Die Europäische Gemeinschaft ist ein Kind des Traumas von Europas zweitem dreißigjährigem Krieg, 1914 bis 1945. Die Krise der EU stellt die Wirklichkeit von beinahe drei Generationen Friede, Wohlstand und Integration infrage und lässt Stimmen lauter werden, die zurückwollen zur D‑Mark, zum Nationalstaat und zum Nationalismus. Wenn wir Hitler und sein toxisches Buch weiterhin dämonisieren, stehlen wir uns aus der historischen Verantwortung Deutschlands, die letztlich zu der energischen Unterstützung eines föderalen Europa und dem Ende der miteinander konkurrierenden Nationalstaaten führen muss. Wenn wir den Blick auf unsere Vergangenheit durch Verbote einschränken, schaffen wir die Illusion, das Verbotene sei eine Wahrheit, eine Zukunftsvision, die „das Establishment“ unterdrücken will. Durch solche Tabus, nicht durch offene Diskussion, gefährdet man auf Dauer die Demokratie.

Auch und gerade im Lichte eines neuen Geschichtsverständnisses, das sich einem systemischen Verständnis des 20. Jahrhunderts und seiner Verbrechen verpflichtet fühlt, wird die europäische Krise für Deutschland zu einer Herausforderung, sich für eine Ausweitung von Integration, Demokratie und Freiheit in Europa einzusetzen.

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