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(picture alliance) Philosoph und Autor Peter Sloterdijk löst mit seinen Büchern immer wieder Debatten aus

Peter Sloterdijk - Bollwerk gegen die Banalität

„Ein und derselbe Weltzustand sieht völlig anders aus, je nachdem ob man ihn vom Chaos aufwärts ansieht oder vom Ideal abwärts“: Der Philosoph Peter Sloterdijk legt in „Zeilen und Tage. Notizen 2008 - 2011“ seine Gedanken dar. Es ist die Chronik eines Intellektuellen-Alltags

Haben wir irgendeine gefühlte Sperrfrist überschritten? Seit zwei oder drei Jahren öffnet das Personal der intellektuellen Bundesrepublik seine privaten Archive. Siegfried Unseld legte posthum die Protokolle der Suhrkamp-Kultur auf den Tisch. Henning Ritter servierte das Destillat seiner Lese-Biografie. Und von Fritz Raddatz kam der neue Gesellschaftsroman: Der narzisstische Ekel vor der Stillosigkeit der Welt, den der Autor in erbitterter Champagnerlaune Abend für Abend seinem Tagebuch anvertraute, war ebenso abstoßend wie suchterzeugend. Nun zieht der Philosoph Peter Sloterdijk nach. Und tut alles, um die „Banalitätsklippe“ zu umschiffen. Die Notizen der Jahre 2008 bis 2011, die er veröffentlicht, umfassen aber nicht mehr als ein Drittel des vorhandenen Materials und sind von Stellen bereinigt, an denen die „Peinlichkeit des Ich-Sagens“ ihrem Autor allzu offensichtlich erschien.

Viel Gossip gibt es daher nicht. Selbst erotische Phantasien heben ins Philosophische ab. Der Vielflieger Sloterdijk bleibt ein Luftwesen. Man fragt sich unwillkürlich, warum Persönliches überhaupt stehen bleiben durfte: Verordnete ein Lektor dem Skrupulösen der Unterhaltsamkeit halber hie und da ein Quantum Peinlichkeit? Die Geburtstagsanrufe des „vergeßlichen Bruders“ bei seiner Schwester Ursula stehen jedenfalls ebenso erratisch im Text wie die blassblaue Abendgarderobe Maria Furtwänglers. Auch Ausflüge in die eigene Vergangenheit kommen kaum vor. Ihm fehle das Gen für Memoiren, notiert Sloterdijk. Die „langen Partyjahre Poonas in den siebziger Jahren“, so wichtig in seiner intellektuellen Biografie, finden nur als Fallbeispiel Erwähnung, wenn er über eine „Geschichte der psychologischen Aufschwünge“ nachdenkt.

Dass man sich trotzdem festliest, liegt an der Einstiegsdroge, den glänzenden Aperçus. Das revolutionäre Frankreich: „der erste Schurkenstaat der Moderne“. Trotzki: ein „leninistischer Warlord“. Wegen der Absetzung des Philosophischen Quartetts sollte Sloterdijk keine weitere Trübsal blasen, als Protokollant seines inneren Monologs ist er allemal besser als im Fernsehen. Der Diarist zieht ein Schleppnetz durch die Tiefen der Zivilisation und fischt dabei reichen Beifang: Die Väter der amerikanischen Verfassung orientierten sich an den Statuten des Dominikanerordens. Der Ereigniskult französischer Theorie geht auf das Föderationsfest von 1790 zur Erinnerung an den Sturm auf die Bastille zurück. Wäre Freud Mozart-Verehrer anstatt Sophokles-Leser gewesen, hätten wir heute einen Idamante- und keinen Ödipus-Komplex. So geht es munter weiter. Wer das liest, wird mit tausend Bildungserlebnissen belohnt.

In seinen gelehrten Abschweifungen verwickelt sich Sloterdijk in einen „Privatkrieg“ mit neuen und alten Lieblingsfeinden: Darunter sind der Katholizismus, verkörpert im Heiligen Stuhl, und das intellektuelle Vermächtnis von Achtundsechzig. Die hochschulpolitischen Machenschaften der „Mannschaft um Adorno“ will der Autor ebenso wenig in Vergessenheit geraten lassen wie die Abgründe des Papismus. Den „Veteranenvereinen der Gesellschaftskritik“ schenkt er keinen Boden. Über viele Seiten verstreut trägt sein Tagebuch die Schwarzbücher Roms und Frankfurts zusammen.

Vor allem erweist sich Sloterdijk aber als philosophischer Projektemacher. „Pläne zu neuen Büchern“: Beim Aufblühen erster Schneeglöckchen überkommt ihn der Schaffensdrang. Zahllos die Geistesblitze, durch die die Menschheitshistorie um- oder neu geschrieben werden soll. Noch eine Beobachtung am Flughafen taugt zur geschichtsphilosophischen Spekulation. Was den Autor Sloterdijk auszeichnet, ist sein Hang zur kühnen Abstraktion. Vielleicht ist er darin Niklas Luhmann verwandt. Allerdings denkt er weniger in Differenzen als in großen Erzählungen. „Das Weltaugen- Buch… Ein und derselbe Weltzustand sieht völlig anders aus, je nachdem ob man ihn vom Chaos aufwärts ansieht oder vom Ideal abwärts. Aus der ersten Perspektive ist jeder Ansatz zu einer Ordnung ein Wunder, aus der zweiten erscheint noch die bestmögliche Wirklichkeit als ein Skandal.“ Den Schlüssel zu Sloterdijks eigenem Werk liefert sein Projekt, die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts als Drama von Bastarden zu schreiben. „Es sind die Voraussetzungslosen und Enterbten, die die tote Masse des zivilisatorischen ‹Erb-Guts› in wilden Synthesen an sich reißen.“ Passt diese Charakterisierung nicht vor allem auf ihren Autor selbst? An guten Tagen hält Sloterdijk mehrere Weltformeln gleichzeitig in der Luft. Und man schaut ihm gerne dabei zu.

Peter Sloterdijk: „Zeilen und Tage. Notizen 2008 - 2011“, Suhrkamp, Berlin 2011. 640 S., 24,95 €

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