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(Eddie Gerald/LAIF) Christopher Hope mit seinem Sohn Daniel an der Grabstätte seines Vaters Dennis Hubert Tully in Ramla, Israel

Spurensuche in Israel - Am Grab des fremden Vaters

Familiengeschichte aus den Wirren der Kriege: Der südafrikanische Schriftsteller Christopher Hope besucht bei Tel Aviv zum ersten Mal das Grab des Vaters, den er nie gekannt hat.

Mein Vater verschwand aus meinem Leben, bevor ich ihn kennenlernte. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, meldete er sich für den Kampfeinsatz, was in Südafrika, wo niemand zum Militärdienst verpflichtet war, einen politischen Akt bedeutete. Vor allem Angehörige der englischsprachigen Bevölkerung meldeten sich freiwillig; die meisten Afrikaner, noch immer verbittert wegen des Todes so vieler Frauen und Kinder in den Konzentrationslagern, die die Briten im Burenkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet hatten, solidarisierten sich mit Deutschland und blieben daheim.

Mein Vater wurde zum Jagdflieger ausgebildet, doch meine Tante, die wusste, dass die Lebenserwartung von Jagdfliegern sehr gering war, überredete ihn, zu den Bombern zu wechseln. Ein gut gemeinter Versuch. Eine Zeit lang flog er Boston Marauders, einen Kampfflugzeugtyp, der sich so zuverlässig abwürgen ließ, dass man ihn „Witwenmacher“ nannte. Dann stieg er auf Wellington um, und eines Tages, kurz nach dem Abflug, ein paar Kilometer südlich des Luftwaffenstützpunkts der Royal Airforce in Aqir, stürzte sein Flugzeug ab und riss ihn, seinen Steuermann und seinen Kanonier in den Tod. Er war 25, als er an jenem Ort starb, der damals Britisch- Palästina hieß und heute Israel heißt, ganz in der Nähe der Stadt, die man damals Ramleh nannte. Es war ein schlimmer Schicksalsschlag für meine Mutter, die schon vorher während des Krieges mit einem Jagdflieger verlobt gewesen war. Sie und mein Vater waren noch nicht lange verheiratet, und ich war sechs Monate alt.

Meine Mutter sprach nie von meinem Vater, doch ich besaß eine kleine Sammlung Schwarz-Weiß-Fotografien von ihm in Airforce-Uniform, als er ungefähr 23 Jahre alt gewesen sein musste. Mit diesen Fotos schuf ich mir eine eigene Vorstellung von meinem Vater. Ich hatte die Angewohnheit, mich zu fragen, was er wohl getan hätte, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre. Der Mann, den ich erfand, war der Freund an meiner Seite, der Kompagnon, der mich nicht enttäuschte. Ich habe aber nie wirklich daran geglaubt, dass mein Bild von ihm der Wahrheit entspricht.

Ich wusste insgesamt nur vier oder fünf Dinge über ihn: Sein Name war Dennis Hubert Tully; er sang gern, und seine Freunde gaben ihm den Spitznamen „Bing“. Kurz nachdem ich geboren war, wurde ich sehr krank und benötigte Bluttransfusionen, und da nur der Bluttyp meines Vaters passte, bekam er aus familiären Gründen die Erlaubnis, von Palästina nach Johannesburg zurückzufliegen. Ich überlebte, doch meiner Tante erzählte er, dass er, auch wenn mein Leben gerettet worden war, das Gefühl hatte, er würde sein eigenes verlieren.

Es gab Piloten aus dem Krieg, einige von ihnen in meine Familie eingeheiratet, die meinen Vater gekannt hatten, und ich erinnere mich, dass sie mir – sicherlich aus Rücksichtnahme – erzählten, er habe „die Farm gekauft“ (to buy the farm: den Löffel abgeben, Anmerkung der Übersetzerin). Der Ausdruck verwirrte mich; ich fragte mich, um was für eine Farm es sich wohl handeln mochte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass sie seinen Absturz und seinen Tod meinten. Die Fotos, die ich aufhob, waren am Tag seiner Beisetzung auf einem viel genutzten Friedhof in Ramleh aufgenommen worden. Sie zeigten, dass sein Nachname, Tully, falsch geschrieben worden war. Ich habe mich darüber immer geärgert, weil es wichtig ist, dass der Name stimmt.

Seite 2: Manche Menschen lässt ihre Familiengeschichte nicht los

Wie sich später herausstellte, war die Tatsache, dass mein Vater niemals zurückkehrte, auch eine Art Gnade. Viele derjenigen, die überlebt hatten und nach Südafrika zurückkehrten, mussten feststellen, dass diejenigen, die Hitler unterstützt hatten, nun das Land regierten; sie griffen dabei auf das Modell der Nazis, auf ihren Traum von Rassenhygiene zurück und betrieben dieses Experiment während der kommenden 50 Jahre. Manchmal bin ich froh – manchmal auch nicht –, dass meine Söhne nicht den gleichen Hintergrund haben wie ich, dass sie nicht die gleichen Erinnerungen an einen hysterischen Nationalismus mit sich herumtragen, der die Menschen in die engen Schranken von Rasse und Hautfarbe verweist; ein Lebensstil, den man als geisteskrank bezeichnen könnte, der aber im alten Südafrika als ziemlich normal galt.

Andererseits lässt manche Menschen ihre Familiengeschichte nicht los. Als ich zum ersten Mal zurückkehrte, um das Grab meines Vaters zu besuchen, hatte ich das Glück, mit meinem Sohn Daniel zu reisen. Auf meiner Seite der Familie ist Daniel irischer, katholischer, südafrikanischer Abstammung. Mütterlicherseits ist er der Enkel von jüdischen Deutschen, die in den dreißiger Jahren aus Berlin und Wien nach Südafrika flohen. Wir waren beide fasziniert – und zuweilen abgestoßen – von den Menschen und Orten, die aus uns das gemacht haben, was wir sind, der Reichtum und die Merkwürdigkeit eines Familienstammbaums.

Als wir am Flughafen in Tel Aviv ankamen und uns die Beamtin an der Passkontrolle fragte, warum wir gekommen seien und wohin wir wollten, gab ich offenbar die falsche Antwort: „Um das Grab meines Vaters zu sehen. In Ramallah.“

Sie korrigierte mich: „Sie meinen Ramla. Die Namen sind wichtig hier. Ein paar Buchstaben können einen großen Unterschied ausmachen.“

Ja, das können sie in der Tat. Ramallah ist die palästinensische Stadt in der West Bank. Mein Vater dagegen liegt in Ramleh begraben, dessen Name an die von den Arabern gegründete und später von den Mamelucken, Kreuzfahrern und Türken und zuletzt von Israelis umgebaute Stadt erinnert. Ramleh heißt heute Ramla und liegt in der Nähe von Tel Aviv.

Der Gefallenenfriedhof Ramleh hat seinen alten Namen behalten; hier liegen Soldaten, Piloten, Rettungssanitäter und Polizisten aller Seiten, aus beiden Weltkriegen, sowie die Opfer anderer Kriege, die seither noch geführt wurden. Es ist eine außergewöhnliche Mischung von Gefallenen: Ägypter, Deutsche, Juden, Moslems, Inder, Türken, Palästinenser, Neuseeländer, Australier, Polen und Südafrikaner liegen hier beisammen. Viele der Gräber stammen aus dem Zweiten Weltkrieg, doch auch Soldaten haben hier ihre letzte Ruhestätte, die getötet wurden, als er schon vorbei war, als zionistische Kämpfer britische Ziele angriffen. Darunter befinden sich auch die Gräber zweier britischer Stabsoffiziere, die von der zionistischen Untergrundorganisation Irgun gehängt wurden, als Vergeltung für ihre von den Briten getöteten Mitglieder. In Ramleh wurde auch – offenbar wegen der entsprechenden Einrichtung – Adolf Eichmann gehängt.

Seite 3: Ich bin überrascht über meine Trauer um einen Vater, den ich nie gekannt habe

Das Grab meines Vaters ist gepflegter als auf meinem Foto, das eine kleine Aufschüttung von Erde und ein paar zerzauste Blumen zeigt, unter einem hölzernen Kreuz, am Tag seines Begräbnisses, damals im August 1944. Weit vorgebeugt, um die Inschrift zu lesen, bin ich überrascht über meine Trauer um einen Vater, den ich nie gekannt habe, und um die jungen Soldaten, die gleich neben ihm begraben liegen. Ich bin aber auch merkwürdig erleichtert. Es ist, als begänne ich durch den Anblick des väterlichen Grabes zu fühlen, dass er real und nicht nur eine schattenhafte Figur ist, die ich ersonnen habe, so wie ich mein Leben lang in meinen Romanen Charaktere erfunden habe. Die Grabinschrift ist schlicht: „Dennis Hubert Tully, Pilot, 12. August 1944“. Eingraviert auf dem Sockel des Grabsteins stehen die Zeilen: „In stolzer und liebender Erinnerung an Dennis – Ehemann von Kay. Greater Love Has No Man.“ Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass „Tully“ inzwischen zwar richtig geschrieben ist, nun aber ein „n“ in „Dennis“ fehlt. „Die Namen sind wichtig hier …“

Dieser Friedhof mit seinen auffälligen Grabsteinen und seinem wunderschönen gepflegten Rasen, auf dem Tauben herumflattern, lässt einen die Tatsache vergessen, dass Krieg nicht wie ein Gefallenenfriedhof ist. Die Schlachtfelder, die ich gesehen habe, in der Explosion, die Jugoslawien in Stücke gerissen hat, waren ein großes Durcheinander: Sie hatten keine Konturen, keinen Sinn und keine Form. Das ist etwas, das nur in Hollywood geschieht: Man dekoriert den Schauplatz, formt die Geschichte – doch der Krieg ist konturlos, ein ständiges Sich-Überschlagen unerwarteter Ereignisse.

Man braucht nicht weit zu schauen, um zu sehen, dass sich ein solcher Krieg im Hier und Jetzt ereignet. Über dem Friedhof von Ramleh erhebt sich eine riesige Fabrik, nachts erleuchtet wie ein Jahrmarkt, die einen Großteil des Zements für die Sicherheitsmauer produziert hat, die die Israelis quer durch das Land gebaut haben, um dafür zu sorgen, dass niemand mehr Ramla mit Ramallah oder Israel mit Palästina verwechseln kann.

Als wir vom Ben-Gurion-Flughafen wieder abfliegen, fragt mich der Beamte an der Passkontrolle unerwartet, ob ich einen israelischen Pass besitze. Ich nehme an, dass er den Eintrag von meiner Begegnung mit seiner Kollegin bei meiner Einreise bemerkt hat; das Wissen, dass mein Vater in Israel begraben liegt, hat wohl zu seiner Frage geführt. Ich habe keinen israelischen Pass, aber vielleicht sollte ich einen haben. Immerhin liegt ein großer Teil von mir dort.

Christopher Hope ist Schriftsteller und Dichter. Der gebürtige Südafrikaner, Vater des Violinisten Daniel Hope, lebt inzwischen in Südfrankreich.

Übersetzt aus dem Englischen von Luisa Seeling.

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