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() Franzen: Amerika, ein selbstbezogenes und schlecht informiertes Land.

Jonathan Franzen - „Diese Scheinkultur der Schuld!“

Fukushima hat gezeigt, dass wir die Folgen unseres ungeheuren Energiebedarfs nicht mehr kontrollieren können. Cicero hat Jonathan Franzen in New York getroffen und sich mit ihm über Umweltschutz und Literatur unterhalten. Sein Fazit: Wir müssen endlich wieder erwachsen werden

Herr Franzen, Sie gelten als Schriftsteller mit besonderem Interesse für den Umweltschutz und waren früher an einem Institut für Erdbebenforschung tätig. Ihr zweiter Roman trug sogar den Titel „Schweres Beben“. Wie beurteilen Sie die Ereignisse in Japan?
Die Lage dort ist zweifellos sehr kritisch. Aber von einem seismologischen Standpunkt aus gesehen war das Beben in dieser Form eigentlich nicht zu erwarten, vor allem nicht so weit draußen auf dem Meer. Bemerkenswert ist sicher, dass wir im vergangenen Jahr Zeuge gleich mehrerer Katastrophen im Energiebereich wurden: einige verheerende Dammbrüche in China und Tennessee, ein Erdbeben in Arkansas, das offensichtlich von dem dort betriebenen Gasabbau verursacht wurde, dann natürlich die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, nun das Atomkraftwerk in Fukushima. Es verfestigt sich der Eindruck, dass wir immer weniger in der Lage sind, die Schäden zu vertuschen und zu kontrollieren, die unser ungeheurer Energiebedarf hervorruft.

Sie sind auch journalistisch aktiv, insbesondere als Reporter und Essayist zu Umweltthemen. Wie wichtig ist Ihnen dieses Engagement – insbesondere im Vergleich zur Arbeit als Romancier?
Bereits mit meinen Romanen verfolge ich mehrere Ziele gleichzeitig. Ich will eine möglichst breite Leserschaft erreichen, den sogenannten Mainstream. Ich will die Kunst des Romans lebendig halten, aber eben auch anspruchsvolle Leser unterhalten, die sich mit den ästhetischen Fragen der Moderne und Postmoderne beschäftigen. In meiner Arbeit als Journalist stehen Umweltthemen im Vordergrund, weil so vieles, was derzeit in der Welt geschieht, Anlass zur Sorge gibt. Worte können durchaus etwas verändern. So etwa eine Reportage über die Jagd auf Singvögel im Mittelmeerraum, die ich im vergangenen Herbst im New Yorker veröffentlicht habe: Der Text hat dazu geführt, dass die Tierschutzgesetze in Zypern wieder strikter ausgelegt und implementiert werden. Womöglich wird die Reportage ähnliche Auswirkungen in Italien haben, wo sie erst kürzlich erschienen ist. Aber auch in diesen Arbeiten verstehe ich mich in erster Linie als Essayist, wähle also eine eher literarische Form, die sich auf persönliche Weise einem Thema nähert.

Eine sprachliche Form zu finden, die die vorhandenen Probleme jenseits von apokalyptischer Anklage oder direkter Belehrung darstellt, scheint im Bereich des Umweltjournalismus besonders schwierig.
Absolut, das ist ein Problem. Deshalb ist es mir wichtig, in die Texte einfließen zu lassen, wie ich auch meine eigene Position überprüfe. An Texten, denen dieses Moment der Selbstüberprüfung fehlt, habe ich auch als Leser kein Interesse. Was soll es bringen, den zehntausendsten Beitrag zu einem bestimmten Thema zu veröffentlichen, der im Grunde nur sagt: Freunde, wir stecken tief in der Scheiße. Das weiß ich bereits, so wie alle anderen auch. Die rhetorischen Herausforderungen im Umgang mit der Umweltproblematik sind mir deshalb besonders gegenwärtig. Auch diese Texte müssen auf mehreren Ebenen gleichzeitig funktionieren und müssen als Lektüre ein Genuss sein. Es geht im Kern um einen Vertrag mit dem Leser, um das Signal: Wir treffen uns hier auf moralischer Augenhöhe. Ich bin nicht besser als du und auch nicht schlechter. Es geht weder um ein kriecherisches Bekenntnis meiner eigenen Verdorbenheit noch um eine schreiende Anklage anderer. Lass uns zusammensitzen und über das Netz der Widersprüche reden, in das jeder von uns verstrickt ist.

Wer würde Ihnen als abschreckendes Gegenbeispiel einfallen?
Denken Sie an Al Gore. Bei all seinem Ruhm und all seiner Macht, was hat er in der Sache wirklich erreicht? Die konkrete Wirkung seiner „unbequemen Wahrheiten“ war gering. Diese direkten Breitseiten bringen nur die Gegner auf. Außerdem kam dann recht schnell heraus, dass Gore all diese riesigen Häuser besitzt, erster Klasse um die Welt jettet, und dies wurde dann sehr schnell zur Geschichte hinter der Geschichte: Wisst ihr was, Al Gore ist ein Heuchler! Ich ziehe es deshalb vor, weniger direkt vorzugehen und mir kleinere Ziele zu setzen, die dann aber vielleicht erreicht werden können. Vor allem aber will ich Stücke schreiben, die sagen: Was immer als Leser deine Position sein mag, du wirst nicht ignoriert.

Die rhetorische Wucht frustrierter Umweltschützer in Ihrem Land scheint in Ausdruck und Intensität oftmals wie eine exakte Spiegelung der Sprache der radikalen, evangelikalen Rechten. Beide schreien lauthals: Kehret um, wir sind auf ewig verdammt!
Nachdenklichere Zeitgenossen begreifen das durchaus. Das Internet als Medium trägt in meinen Augen eine gewisse Schuld an der rhetorischen Eskalation, die wir derzeit erfahren. Um Aufmerksamkeit in einem Medium zu erlangen, das keine Zugangsbeschränkungen kennt, muss die Lautstärke aufgedreht werden. Das ist bei Zeitungen anders. Hier gelten noch gewisse Minimalstandards des Anstands und auch der Argumentation. Im Internet nicht. Da kannst du einfach „Faschist, Faschist, Faschist“ schreien oder eben „Maoist, Maoist, Maoist“. Obwohl der Fernsehsender Fox News derzeit das Paradebeispiel für diese Form verrückter Rhetorik ist, glaube ich nicht, dass er so in den Mainstream hätte vordringen können, wäre die Bevölkerung nicht schon durch das Internet abgestumpft worden.

Aus deutscher Sicht stellt sich bei dem Blick auf die amerikanische Medienlandschaft und ihren Diskurs schnell ein Gefühl sagenhafter Überlegenheit ein. Sie sprechen deutsch, haben in Deutschland studiert und gelebt, und zwar in den frühen achtziger Jahren, als die Grünen und die Umweltbewegung so richtig an Fahrt gewannen.
Klar, die „Atomkraft, Nein Danke!“- Sticker waren bereits 1979, als ich das erste Mal nach Deutschland kam, sehr weit verbreitet. Aber ich stamme aus einer Generation, die eine starke Abneigung gegen unsere amerikanischen Alt-Hippies verspürte, vor allem gegen deren träumerische Selbstgerechtigkeit. Die deutschen Grünen, zu denen ich damals Kontakt hatte, fand ich deshalb recht peinlich.

Das müssen Sie ausführlicher erzählen…
Ich erinnere mich zum Beispiel an ein paar Leute, die mich per Anhalter in ihrem VW-Bus mitgenommen haben. Sie trugen grüne Armeeparkas mit besagten Anti-Atomkraft-Ansteckern. Auf der Fahrt haben wir moralisch recht hochtrabende Gespräche geführt, dann war Mittagszeit, und sie sind einfach bei der nächsten Tankstelle eingebogen und haben dort Fabrikbratwurst und Bier bestellt. Außerdem erinnere ich mich noch daran, dass all diese alten Hippies aus den USA, deren Musik bei uns kein Mensch mehr hören wollte, in Deutschland total angesagt waren. Es gab ein Konzert, bei dem Donovan als Hauptgruppe auftrat. Donovan! In Amerika damals ein Ding der Unmöglichkeit. Also, alles in allem kam mir das damals eher retro als progressiv vor.

Das hat sich heute natürlich alles vollständig geändert…
Ja, ich weiß. Die Grünen sind heute eine höchst respektable Volkspartei. Nur die Anti-Atomkraft-Sticker sind geblieben.

Kürzlich gab das angesehene US-Magazin „Foreign Policy“ eine Liste der 100 weltweit führenden Intellektuellen heraus, darauf fanden sich zwei Deutsche: Angela Merkel und Renate Künast. Sieht so das derzeitige Deutschlandbild Amerikas aus: grün, weiblich, gut?
Mein Bekanntenkreis ist wenig repräsentativ, doch wir wissen schon, was in Deutschland derzeit vor sich geht. Aufs Ganze gesehen ist Amerika aber immer noch ein sehr selbstbezogenes und schlecht informiertes Land. Aber fragen wir uns mal: Wer hätte vor 25 Jahren auf der Liste gestanden? Habermas vielleicht? Auch damals war er keine Hausmarke. In unserer Wohnung sprechen wir zwar oft von Habermas, weil meine Lebensgefährtin Kathy früher mit einem Habermas-Experten verheiratet war. Aber im Ernst: Selbst die deutsche Philosophie hat in den Vereinigten Staaten keinen besonderen Stand, vor allem nicht im Vergleich zur französischen. Foucault, Derrida, Bourdieu und Konsorten, Sie wissen schon… Also, da muss ich wirklich mal schwer nachdenken. Womöglich ist Merkel bei uns im Moment wirklich die berühmteste Deutsche, die sich im weitesten Sinne als Denkerin bezeichnen lässt.

Wo wir gerade davon sprechen: Wie halten Sie es mit der deutschen Philosophie? Gab es prägende Einflüsse auf Ihr Werk?
Ich konnte mich bis heute nicht ermannen, Heidegger oder Wittgenstein wirklich durchzuarbeiten. Ihre Philosophie kenne ich nur in groben Zügen. Schopenhauer war der Lieblingsphilosoph meines Vaters. Mit Kant kann ich nach wie vor wenig anfangen. Horkheimer und Adorno habe ich als Student eifrig gelesen – diese unnachgiebige Wut auf die Aufklärung! Aber an erster Stelle würde ich Nietzsche nennen. Seine Schriften geben mir viel zu denken. Wie viele andere Schriftsteller fühle ich mich direkt von ihm angesprochen. Er war selbst ein großer Dichter, und die Fragen des Schriftstellers waren auch seine Fragen.

Welche Fragen haben Sie da im Sinn?
Ich denke zum Beispiel an sein Werk „Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral“. Dort spricht er darüber, welchen inneren Ort ein Schreibender aufzusuchen hat – im ethischen Sinne. Er macht keinen Vorschlag für eine allgemeingültige moralische oder gar politische Position. So wie ich ihn lese, spricht er direkt über die Probleme eines Schriftstellers: Sei mutig! Folge deinen eigenen Regeln! Tugend ist wichtig, nicht diese Scheinkultur der Schuld!

Dieser moralische Perfektionismus Nietzsches scheint auch sehr gut zu folgendem Zitat von Ihnen zu passen: „Mein Ziel als Schriftsteller ist es, ein passendes narratives Vehikel für die schwierigsten Bereiche im Zentrum meines Selbst zu finden, und zwar in der Hoffnung, damit einen Leser anzusprechen, der andernfalls mit seinen eigenen, schwierigen und tiefen Problemen alleine bliebe.“ Das klingt fast nach einem therapeutischen Ansatz, in jedem Fall aber nach dem Kampf um Klarheit über sich selbst, um moralische Klarheit.
Ich zögere, über diese Dinge zu sprechen. Wahr ist, dass man als Schriftsteller ein gewisses Paradox zu lösen hat. Es besteht darin, einerseits eine Form zu finden, die das eigene Selbst vollkommen zum Ausdruck bringt, damit andererseits aber gerade etwas zu schaffen, das andere Menschen lesen und ansprechen soll. Lewis Hyde spricht in diesem Zusammenhang von einem Geschenk, das ein Künstler gibt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Diese Formulierung halte ich für sehr treffend. Die eigenen Möglichkeiten des Selbstausdrucks muss man voll ausschöpfen. Das Geschenk des Schriftstellers muss als Geschenk aber auch gewollt und angenommen werden.

Und Sie finden das nicht therapeutisch?
Ich bekam gestern eine E-Mail von einer Bekannten aus Philadelphia, die berichtete, ihr Sohn habe meinen Roman „Freiheit“ gelesen. Das Buch habe ihm dabei geholfen, seine eigene Ehe besser zu verstehen – und sie zu beenden. Das ist einerseits erfreulich zu hören, aber natürlich macht mir so etwas auch Sorgen. Ich frage mich dann, ob ich nicht sorgfältiger hätte sein sollen. Ich frage mich, ob ich da möglicherweise nicht eher Schaden angerichtet habe. Klar ist eines: Mir geht es nicht darum, meine Leser mit dieser „Therapie“ von irgendetwas zu heilen.

Worum geht es dann bei dieser literarischen Therapie?
Therapie ist für mich eine Form des Umschreibens, im Sinn eines Umschreibens der eigenen Lebenserzählung, damit diese wieder mehr Sinn ergibt. So gesehen ähnelt meine Arbeit als Schriftsteller durchaus einer psychoanalytischen Therapie, da sich mir meine Bücher zu Beginn als vollkommen unschreibbar darstellen. Dabei kommt es darauf an, jede erdenkliche Art von Widerstand zu überwinden. Sofern sich die Widerstände beim Schreiben nicht überwinden lassen, ist alles, was dabei herauskommt, Frustration, Selbsthass und ein mieser Text. Und man fragt sich immer wieder: Was stimmt mit mir nicht? Was stimmt mit mir als Schriftsteller nicht? Es geht dann darum, die wahren Quellen des Widerstands ausfindig zu machen und erst danach zum unbeschriebenen Blatt Papier zurückzukehren – das ähnelt durchaus einer Therapie.

Und die Lektüre anderer Autoren, hilft Ihnen die bei der Überwindung eigener Widerstände?
Also, ich lese Romane natürlich nicht zum Zwecke der Selbstverbesserung. Andererseits waren, zum Beispiel, als ich versuchte, meiner ersten Ehe zu entkommen, gewisse Bücher ausgesprochen hilfreich. In erster Linie denke ich dabei an die Werke der Kanadierin Alice Munro. Aber selbst in dieser Situation ging es eher um ein Gefühl von Begleitung, um das Gefühl: Ich bin nicht der Einzige, der durch solche Phasen geht. Das ist hilfreich, fühlt sich gut an, aber heilend ist es eigentlich nicht.

Bei der Lektüre Ihres Buches „Die Unruhezone“, einer Art von Autobiografie, wird man vergeblich nach schweren Traumata oder Schädigungen suchen. Vielmehr scheint es Ihnen in diesem Werk darum zu gehen, sozusagen mikrotraumatische Erlebnisse Ihrer Kindheit und Adoleszenz aufzuarbeiten.
Selbst Freud hat beispielsweise über Fälle des Kindesmissbrauchs nicht im wörtlichen, sondern auch im metaphorischen Sinn gesprochen. Die meisten Therapeuten, sogar die Freudianer, erkennen heute jedenfalls an, dass es eher um die Arbeit an den eigenen Trauma-Erzählungen geht als konkret um die wirklichen Traumata. Echte Traumata verlangen nach ganz anderen Therapien und Schritten. Die Witwe meines ehemaligen Kollegen und Freundes David Foster Wallace, selbst eine gute Freundin von mir, leidet schwer unter den dramatischen Folgen von Davids Selbstmord. Sie ist im eigentlichen Sinne traumatisiert. Und bei ihr geht es nicht um das Bedürfnis nach einer neuen Erzählung. Das Geschehene lässt sich narrativ auch gar nicht fassen. So ein Trauma packt dich im ganz konkreten, fast schon körperlichen Sinne. Da sind dann ganz andere Techniken und Verfahren gefordert.

Und wie steht es mit Ihren traumatischen Erfahrungen?
Wissen Sie, meine Mutter hat mich sexuell nicht missbraucht. Aber dennoch stellte eine freudianisch verstandene Sexualisierung der Mutter-Sohn-Beziehung in Bezug auf unser Verhältnis eine emotional schwerwiegende Tatsache für mich dar. In diesem Stadium meines Lebens bin ich bereit zuzugeben, dass dabei vieles von mir hineinprojiziert wurde. Allerdings gab es auch zweifellos Momente, in denen meine Mutter eine aktive Rolle spielte. Jedenfalls habe ich erkannt, dass ich Sachen wie unser problematisches Verhältnis in meinem Kampf, eine Person zu werden, ziemlich aufgebauscht habe. Wäre ich eine robustere Natur gewesen, hätte ich wahrscheinlich einfach gesagt: Scheiß drauf! Aber ich habe das alles vollkommen internalisiert, in einem fast schon pathologischen Ausmaß. Offenbar liegt es in meiner Natur, kraftvolle Erzählungen hervorzubringen…

Und wie hat Ihre Mutter auf Ihre Interpretationen reagiert?
Sie sagte: „Ach, du bist einfach überempfindlich.“ Und doch, diese kleinen Geschehnisse – ich würde sie lieber nicht Mikrotraumata nennen – waren für mich ungemein bedeutungsvoll und wichtig. Darum geht es mir auch in meinem Werk: um die Anerkennung der Tatsache, dass, selbst wenn wir recht gewöhnliche Leben führen, da doch etwas sehr Elementares, Ursprüngliches bleibt, das in unserem Unbewussten wirkt. Im Prozess des Schreibens versuche ich, diese Dinge an die Oberfläche zu befördern.

Das klingt aber nicht nur freudianisch, sondern auch sokratisch: Selbsterkenntnis als Weg zur eigenen Reifung, als Bedingung des Erwachsenwerdens. Und die Frage, ob und wann ein Mensch erwachsen zu nennen ist, scheint einen zentralen Teil Ihres Schreibens auszumachen…
Oder sagen Sie es mit Hegel: Es ist der Versuch, die subjektive Sicht auf das eigene Selbst mit den objektiven Tatsachen in Übereinstimmung zu bringen. Objektiv gesehen bin ich ein erfolgreicher Mann, knapp über fünfzig. Was aber, wenn ich noch immer so herumlaufe oder, schlimmer noch, mich so benehme, als sei ich gerade mal 25 oder 26 Jahre alt? Dann stimmt da einfach etwas nicht, dann sind die Dinge nicht im Lot. Bei all dem bliebe natürlich vorausgesetzt, dass es so etwas wie eine Kategorie des „Erwachsenen“ noch gibt, dass diese Kategorie nach wie vor Gültigkeit besitzt. Das ist eine Frage von weitreichender sozialer und politischer Bedeutung.

Was bedeutet es für Sie, erwachsen zu sein?
Damit sind für mich gewisse Alltagsnormen verbunden: Erwachsene verbringen nicht 30 Stunden pro Woche mit Videospielen. Sie unterhalten sich miteinander in gesitteter Weise, sie tragen Verantwortung für ihr Handeln. Allgemein gesprochen, geht es dabei um Selbstbeherrschung, um Zügelung und Zurückhaltung. In unserer kommerziellen Kultur wird diese Zurückhaltung natürlich sofort zum „Verzicht auf…“ umgemünzt, sie wird als brachliegendes Kapital verstanden, das es möglichst gewinnbringend einzusetzen gilt. Im gleichen Zug werden sämtliche Traditionen und Normen mitgerissen, die der Vollendung des Marktes und maximalen Profiten im Weg stehen. Das ist die infantile Komponente unserer Konsumkultur.

Aber wie massenkompatibel ist eine solche Auffassung vom „Erwachsensein“? Hat nicht auch Barack Obama immer wieder betont, dass er die Bürger seines Landes als Erwachsene ansprechen will? Nicht wenige sehen allerdings gerade darin die Ursache seines mittlerweile auch als solches wahrgenommenen Kommunikationsproblems…
Stimmt. Und genau deshalb schätze ich Obama auch so sehr. Er ist der erste erwachsene Präsident seit George Bush senior. Bush, was auch immer man von ihm halten mag, stammte aus einer Generation, in der Erwachsene tatsächlich noch Erwachsene waren. Nun, dann kam Clinton, das ultimative Riesenbaby, mit seinen ungezügelten Wünschen und Bedürfnissen. George W.Bush will ich lieber schweigend übergehen. Für Obama bedeutet „Erwachsensein“ in erster Linie, vernünftig zu sein und wie ein vernünftiger Mensch zu sprechen. Im politischen Diskurs ist das natürlich auch ein Problem, denn dort geht es manchmal eben darum, Gefühle zu wecken und anzustacheln. Rationalität ist Obamas spezifische Interpretation des Erwachsenseins – eine etwas verkopfte Interpretation, gewiss.

In der amerikanischen Öffentlichkeit wird dies mit dem mehrdeutigen Slogan „No drama with Obama“ eingefangen…
Meiner Überzeugung nach wird er eine zweite Amtszeit erreichen, ich sehe in seiner von einigen als langweilig empfundenen Rationalität also kein gravierendes Problem. Zu regieren bedeutet außerdem etwas anderes als Wahlkampf zu führen. Manchmal wünschte ich mir allerdings schon, er würde ein bisschen mehr menscheln. Clinton und Bush junior konnten das. Aber letztlich ist es so: Ich habe an dem Mann so gut wie nichts auszusetzen.

Nicht einmal umweltpolitisch? Sind Sie kein bisschen enttäuscht?
Ich hatte diesbezüglich keine Hoffnungen. Obama hat in seinem Wahlkampf nicht einmal versucht, so zu tun, als wären ihm Umweltthemen wichtig. Habe ich jemals geglaubt, das Joch der Wildvögel rangiere auf seiner Prioritätenliste unter den ersten 57 Themen? Nein, das habe ich nicht. Er ist ein Senator aus Illinois, einem Kohleabbaustaat. Er hat beste Beziehungen zur Kohleindustrie, die ihn in seinen Wahlkämpfen finanziell auch kräftig unterstützt hat. Es kann keinen demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten geben, der die Linke glücklich macht. Das ist einfach eine Tatsache. Außerdem muss man ja auch einmal sagen, dass es jede Menge Sachen gibt, die diese Linke gründlich verhunzt hat: sozialer Wohnungsbau etwa – ein Desaster. Oder die hiesigen öffentlichen Sozialzahlungen – keine so gute Idee, und dann auch noch katastrophal ausgeführt, die müssen dringend überarbeitet werden. Nein, letztlich kann Obama für diese Gruppen nur zu einem weiteren Aufhänger der eigenen Frustrationen werden.

So wird Umweltschutz in den USA also auf absehbare Zeit kein zentrales Wahlkampf­thema sein?
Als Thema interessiert das nicht mehr als fünf, maximal 10 Prozent der Wähler, und die wählen sowieso schon die Demokraten. Eine Konzentration auf den Umweltschutz ergibt also wahltaktisch einfach keinen Sinn. Es hat mich auf meinen Lesereisen schockiert, wie viele Leser meines Romans „Freiheit“ glaubten, ich würde mich über meinen Protagonisten Walter Berglund lustig machen. Nur wenige verstanden, dass Walter in Wahrheit mein Modell-Umweltschützer ist, weil er sich nämlich nicht für Politik interessiert und mit Parteien nichts am Hut haben will. Er ist bereit, sich die Hände vor Ort schmutzig zu machen und mit begrenzten Mitteln seinen Plan für ein kleines Projekt zu verwirklichen. Zugegeben, gegen Ende schießt er ein wenig über das Ziel hinaus, aber sonst ist er wirklich mein Vorbild.

Weil er sich nicht für Politik interessiert?
Genau, oder besser gesagt, ich interessiere mich durchaus für Politik – aber nur in Analogie zu dem, was ich im Hinblick auf das Schreiben über die wirklich großen und psychologischen Probleme in durchaus gewöhnlichen Umgebungen gesagt habe. Ich denke, wenn es gelingen würde, dem Land ein wenig mehr öffentlichen Gemeinschaftsgeist zu vermitteln, den politischen Diskurs ein wenig erwachsener zu machen; wenn es gelingen würde, die Judikative mit Menschen zu besetzen, die ein bisschen weniger Verständnis für die großen Konzerne haben – dann wird das Wirkung zeigen. Viel wäre damit nicht erreicht, aber immerhin etwas. Unsere Welt würde nicht über Nacht in eine grüne Utopie verwandelt werden, aber nichts und niemand vermag unsere Welt über Nacht in eine grüne Utopie zu verwandeln.

Walter Berglund, der besagte Held Ihres jüngsten Romans, hält die stetig wachsende Weltbevölkerung für die Wurzel aller anderen Probleme.
Auch das halte ich für überzogen. Er steigert sich da ein bisschen rein, aufgrund seiner Eheprobleme und weil er eine Affäre mit einer jungen Frau angefangen hat, die sich unbedingt sterilisieren lassen will…

Eine Welt ganz ohne Menschen, das wäre also keine grüne Utopie in Ihrem Sinne?
Es gibt schon Tage, an denen ich mich bei diesem Wunsch ertappe und mir dann überlege: Wenn alle Menschen in fünf Jahren von diesem Planeten verschwunden sein würden, inklusive meiner selbst – darauf würde ich mich wahrscheinlich einlassen. Aber sehen Sie, das ist die Verbindung, von der ich einleitend sprach. Ein wirklich engagiertes, konsequentes Umweltbewusstsein schlägt sehr leicht in ein apokalyptisches Umweltbewusstsein um: entweder in eine Warnung vor dem drohenden Weltuntergang oder in einen geheimen Wunsch auf eine vollkommene Auslöschung der Menschheit.

Und worin besteht das Gegengift?
Ich muss mich dann immer daran erinnern, wie interessant ich Menschen finde, und dass Romane, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eben von Menschen handeln. Es gibt auch ein paar wenige Misanthropen, die gute Romane schreiben. Thomas Bernhard ist die berühmte Ausnahme von dieser Regel. Aber am Ende kehre ich immer wieder zu den Menschen zurück und begreife, dass die Beziehungen zu ihnen mehr als alles andere bedeuten. Und letztlich ist das auch der Grund, weshalb ich Romane schreibe.

Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger

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