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Spitzenkandidaten - Politisierung der EU vergrößert Demokratiedefizit

Erstmals wurden im Europawahlkampf Spitzenkandidaten benannt. Das soll helfen, das Demokratiedefizit der EU abzubauen. Das Gegenteil aber könnte der Fall sein: Die Demokratisierungsstrategie könnte die Europagegner stärken

Autoreninfo

Prof. Dr. Martin Höpner ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

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Wenn die Europäerinnen und Europäer in Kürze an die Wahlurnen gebeten werden, entscheiden sie möglicherweise nicht nur über die Zusammensetzung der ihrem Mitgliedstaat zustehenden Sitze im Europäischen Parlament. Erstmals haben die europäischen Parteienfamilien zudem Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für das wichtigste europäische Amt benannt. Die Parteienfamilie, die die meisten Stimmen erhält, soll den nächsten Kommissionspräsidenten stellen. Zwei der benannten Spitzenkandidaten haben realistische Chancen auf den Wahlsieg: der aus Deutschland stammende jetzige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz, der für die europäischen Sozialdemokraten kandidiert, und der ehemalige Vorsitzende der Euro-Gruppe, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, der für die europäischen Christdemokraten und Konservativen ins Rennen geht. Nach den Wahlen wäre es dann die Aufgabe des Rats der Staats- und Regierungschefs, dem Europaparlament den Wahlsieger als Präsidenten der Kommission vorzuschlagen.

Novum Spitzenkandidatur
 

Bisher gab es bei Wahlen zum Europaparlament keine konkurrierenden Spitzenkandidaten, keine Gesichter, die für unterschiedliche politische Programme standen. Überhaupt existierte zwischen den großen Fraktionen nur wenig Parteienwettbewerb. Die großen Parteien wirkten zusammen, um die Arbeit des Parlaments auf eine stabile und verlässliche Basis zu stellen. Entsprechend wurden die Europawahlen von den Bürgerinnen und Bürgern als vergleichsweise langweilig empfunden. Von Wahl zu Wahl sank daher die Beteiligung, von 63 Prozent bei den ersten Wahlen im Jahr 1979 auf 43 Prozent bei den letzten im Jahr 2009.

Das alles könnte nun anders werden. Denn nunmehr ließe sich ein publikumswirksamer Wahlkampf mit Gesichtern führen. Die Personalisierung des Wahlkampfs erlaubt eine größere Polarisierung als in der Vergangenheit, eine Polarisierung, die sich womöglich auch in der Arbeit des Europaparlaments fortsetzt. Mehr Bürgerinnen und Bürger werden sich dann vielleicht für den Wahlkampf und die europäische Politik interessieren. Eine steigende Wahlbeteiligung ginge einher mit einer größeren Legitimation europäischen Regierens. Namentlich würden das neue Verfahren und die gestiegene Wahlbeteiligung die Legitimation der Kommission zusätzlich stärken, der im Zuge der Eurokrise neue Aufgaben bei der Überwachung und Korrektur der mitgliedstaatlichen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zugefallen sind. Und die Europäerinnen und Europäer könnten im Zuge transnationaler Debatten über die Führung der Kommission ein stärkeres Wir-Gefühl entwickeln.

Das Gegenteil des Wir-Gefühls
 

Kurz, das neue Verfahren scheint einen Zugewinn an europäischer Demokratie zu versprechen – oder, wie es ein kürzlich veröffentlichter Aufruf ausdrückte, der unter anderem von Ulrich Beck und Jürgen Habermas unterstützt wurde: „Das ist ein politischer Quantensprung.“ Bemerkenswert ist: Die Demokratiequalität der EU lässt sich demnach ohne komplizierte institutionelle Reformen erheblich erhöhen. Wäre man doch, so mag man meinen, früher darauf gekommen – zahlreiche Debatten über das europäische Demokratiedefizit hätte man sich sparen können. Aber die Hoffnungen, die in das Verfahren gesetzt werden, sind überzogen. Mehr noch, das Verfahren ist gewagt und bewirkt am Ende vielleicht sogar das Gegenteil des Wir-Gefühls, das man sich von ihm erhofft.

Die These vom Quantensprung setzt voraus, dass die dominante Konfliktachse in der EU tatsächlich die parteipolitische Links-Rechts-Achse ist, so wie wir sie aus dem nationalen Parteienwettbewerb kennen. Schon in der Vergangenheit galt diese Annahme nur bedingt. Gänzlich irreführend ist sie leider seit Beginn der Eurokrise, die eine tiefe politische Spaltung entlang der europäischen Nord-Süd-Achse bewirkt hat – eine Spaltung in Länder mit Handelsüberschüssen und -defiziten, in Gläubiger und Schuldner, und in Befürworter und Empfänger austeritätspolitischer Vorgaben. Diese Spaltung bewirkt, dass Repräsentanten aus dem Norden und dem Süden höchst unterschiedliche Anforderungen an die europäische Politik formulieren, ob diese nun die Weiterentwicklung der Verschuldungsregeln, die installierten Überwachungsverfahren, die Spielräume für die Europäische Zentralbank und den Europäischen Stabilitätsmechanismus, die Transferunion, das „soziale Europa“ oder Eurobonds betreffen.

In all diesen Fragen sind die europäischen Parteienfamilien intern gespalten – weshalb im Wahlkampf wichtige europäische Problemstellungen ausgespart bleiben zugunsten von Forderungen, die sich entlang der Links-Rechts-Achse politisieren lassen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Forderung der Sozialdemokratie nach europäischen Mindestlöhnen, die verschweigt, dass den Organen der EU zur Regelung von Mindestlohnsätzen jegliche Kompetenzgrundlage fehlt. Höchst zweifelhaft erscheint angesichts der zu beklagenden innereuropäischen Spaltung, ob sich die Bürgerinnen und Bürger aus Spanien, Portugal, Griechenland und Italien durch einen deutschen oder luxemburgischen Kommissionspräsidenten mehr als in der Vergangenheit vertreten fühlen würden.

Status quo statt Quantensprung
 

Denkt man so darüber nach, entdeckt man die Vorzüge des Status quo gegenüber dem vermeintlichen Quantensprung. Denn bisher war es die Aufgabe des intergouvernemental besetzten Rats der Staats- und Regierungschefs, einen Kommissionspräsidenten zu identifizieren, mit dem alle Mitgliedstaaten leben konnten. Politiker wie Daniel Cohn-Bendit und Wolfgang Schäuble fordern nun sogar die Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch die Bürgerinnen und Bürger, was dem Übergang in ein europäisches Präsidialsystem entspräche. Was aber wäre von einer solchen Direktwahl angesichts des Risses zu erwarten, der derzeit durch Europa geht? Wäre dem erhofften Wir-Gefühl mit einer Kampfabstimmung zwischen Süd und Nord gedient? Oder mit einer Wahl zwischen zwei Repräsentanten desselben Blocks der ehemaligen Hartwährungsländer, so wie es bei den bevorstehenden Europaparlamentswahlen der Fall ist? Diesen Szenarien ist der Status quo klar vorzuziehen.

Und wie steht es um die erhoffte Legitimitätszufuhr für die mit neuen Aufgaben betraute Kommission? Zweifellos richtig ist, dass das neue Euro-Regime tief in die nationalen budget-, wirtschafts- und sozialpolitischen Zuständigkeiten der teilnehmenden Länder schneidet und das europäische Demokratiedefizit damit vergrößert, ja sogar radikalisiert. In den Krisenländern administriert die Troika Rentenkürzungen und Sozialabbau, kürzt im Gesundheitswesen, senkt Mindestlöhne und beschädigt die Tarifautonomie der Sozialpartner. Doch verschwinden Troika-Eingriffe, kommissarische Aufsicht und sanktionsbewehrte Korrekturverfahren durch die Benennung von Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft nicht. Die Hoffnungen richten sich vielmehr auf eine Erhöhung der Akzeptanz und Folgebereitschaft durch die Betroffenen.

Demokratisierungsstrategie fördert Rechtspopulismus
 

Wie berechtigt aber sind diese Hoffnungen? Werden die Betroffenen den Eingriffen wirklich mehr Legitimität zusprechen, wenn man sie – wie es die Rechtswissenschaftler Christian Joerges und Florian Rödl einmal treffend ausgedrückt haben – darüber belehrt, dass sie den Kommissionspräsidenten als treibende Kraft der Eingriffe ja schließlich mitgewählt haben? Das scheint schwer vorstellbar. Naheliegender ist wohl die Möglichkeit, dass sich die Betroffenen umso bereitwilliger antieuropäischen Parteien zuwenden oder den Wahlen zum Europaparlament gänzlich fernbleiben. Wiederum hätte die Demokratisierungsstrategie das Gegenteil dessen bewirkt, wofür sie eigentlich angetreten ist. Und ziehen mehr Europagegner in das Europaparlament ein, müssen die großen Fraktionen sogar noch mehr zusammenarbeiten als in den vergangenen Wahlperioden. Es wäre dann sogar mit weniger Polarisierung entlang der Links-Rechts-Achse zu rechnen.

Auch ein weiterer Umstand verdient Beachtung – nämlich die Möglichkeit, dass keiner der von den Parteienfamilien vorgeschlagenen Spitzenkandidaten Kommissionspräsident wird. Denn Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrages verlangt vom Rat lediglich, die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bei der Nominierung des von den Abgeordneten zu wählenden Kandidaten zu „berücksichtigen“. Das Gebot der Berücksichtigung impliziert indes nicht, dass die Liste möglicher Kommissionspräsidenten ausschließlich die Spitzenkandidaten der Parteienfamilien umfasst. Der nächste Kommissionspräsident könnte also durchaus auch – um ein Beispiel zu nennen – David McAllister heißen, was unter den europäischen Parteien einige Erklärungsnot auslösen würde. Aber ernsthaft beschweren dürften sich die europäischen Parteien hierüber nicht. Denn sie haben das neue Verfahren ohne Beteiligung des Rats proklamiert. Es gibt aber gute Gründe für seine Mitwirkung an der Auswahl des Kommissionspräsidenten. Ohne Vertrauen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten kann Europa keine Probleme lösen. Für Großbritannien etwa dürften die überzeugten Föderalisten Juncker und Schulz gleichermaßen inakzeptabel sein. Auch darf gefragt werden, warum die Staats- und Regierungschefs ausgerechnet den Repräsentanten einer Steueroase (Juncker) zum Kommissionspräsidenten ernennen sollten. Bei genauer Hinsicht also bleibt von der Behauptung eines demokratischen Quantensprungs nichts übrig.

Was bleibt, ist die Radikalisierung des europäischen Demokratiedefizits. Sie besteht darin, dass die supranationalen Organe mit immer mehr Befugnissen zur Überwachung und Korrektur der demokratischen Prozesse in den Mitgliedstaaten ausgestattet werden, um jene Konvergenzen auf Ebene der mitgliedstaatlichen Politiken zu erzwingen, die der Fortbestand des Euro erfordert. Die Vorstellung, die dadurch ausgelösten Legitimationsprobleme ließen sich durch das Drehen an einigen wenigen Schrauben der europäischen Institutionenmaschinerie beheben, ist naiv. Die Probleme sitzen tiefer – in der Diskrepanz zwischen den Konvergenzerfordernissen eines festen Wechselkursregimes einerseits und den heterogenen Präferenzen, Praktiken, Institutionen und Prozessen in den mitgliedstaatlichen Demokratien andererseits. Demokratieschützend wäre vor diesem Hintergrund die Suche nach europäischen Lösungen, die den demokratischen Prozessen in den Mitgliedstaaten mehr Spielraum lassen, statt ihnen autoritativ vorzugeben, zu welchen Ergebnissen sie gelangen dürfen.

 

 

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