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Und er lebt doch, der Leitartikel!

Zeitungen und Zeitschriften sterben, das Internet gewinnt an Deutungsmacht. Die Medienwelt befindet sich in einer Epoche des grundlegenden Umbruchs: Gute Zeiten für Qualitätsjournalismus, findet Klaus Harpprecht

Man weiß es: Totgesagte leben länger. Vor einem halben Jahrzehnt stand an dieser Stelle ein Nachruf auf den deutschen Leitartikel, das langweiligste Produkt der Belehrungsmaschine, die sich als die deutsche Publizistik ausgibt. Natürlich gibt es ihn noch, den „Leiter“. Er steht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Süddeutschen Zeitung, in der Welt, in der Zeit dort, wo er immer stand. Oft genug sind – wir gönnen ihnen das zähe Leben – nach wie vor die Autoren von damals am Werk, verdrossen und unverdrossen zugleich, den Zeigefinger noch immer hoch erhoben (wie es der heimliche neudeutsche Gruß gebietet), der Born ihrer Moralität nicht ausgetrocknet, ihre immer ein wenig näselnde Vernunft wie eh und je auf mittlere Tonlagen gestimmt, damit die Leser verstehen, was so bitter- und bierernst gemeint ist, obwohl die weltliche Predigt selten an die schlichten Bürger, sondern in Wahrheit an die dort droben in Berlin adressiert ist, die Frau Kanzlerin, die Damen und Herren Minister, die Abgeordneten, die einen Namen haben, die Vorsitzenden und Parteisekretäre, seltener die Verbands- und Gewerkschaftsbosse, in Ausnahmefällen die Bischöfe beider christlichen Konfessionen, neuerdings auch der Heilige Vater, der des Deutschen ja mächtig ist (vorausgesetzt, die einschlägigen Prälaten wagen es, ihn mit den – nicht immer erbaulichen – Medienerzeugnissen heimzusuchen). Nach wie vor ist der Leitartikel, das versteht sich, vom Hochgefühl des Autors durchdrungen, er debattiere mit den Mächtigen in Berlin, in Brüssel, ja selbst in Washington D.C. „auf gleicher Augenhöhe“, er nehme Einfluss, er erkläre nicht nur seiner staunenden Leserschaft die große Politik, die Weltstrategie, die fundamentalen Glaubensfragen, sondern habe in all den entscheidenden Fragen ein Wort in die Waagschale zu werfen, das nicht unbeachtet bleibe, kurzum: er sei am Fortgang der Dinge beteiligt, er kommentiere die Politik nicht nur, sondern mache sie auch. Vielleicht brauchen sie das, die Leitautoren, um sich mit dem nötigen Elan in den Laptop werfen und der Gattin beim Abendbrot berichten zu können, dem hätten sie es aber gegeben… (Ein rechter Leitartikler hat eine Gattin.) Die Mitglieder des Elitekorps der Leitartikler sind nicht dämlich. Sie begreifen in einsichtigen Momenten – wenn sie’s wissen wollen –, dass die dort droben höchstens die Schultern heben, wenn ihnen gesagt wird, „was Sache ist“. Sind sie in der Hauptstadt zugange, müssen sie leider wahrnehmen, dass in der Regel nur den Fernsehmoderatoren, dem Chefpaukenschläger des Stern und den Stars des Spiegel das Glück zuteil wird, dass die Herrschaften von Rang und Namen aufschauen, wenn sie das „Borchardt“ oder das „Café Einstein“ betreten. Dass zum andern so gut wie nie ein diskretes Gruß- und Erkennungslächeln über die dünnen Lippen der Prominenten huscht, wenn sie, die Chef-Präzeptoren der Republik, ein freies Stühlchen suchen. Früher, ja früher saßen sie mit Höfer beim Frühschoppen, was dem optischen Bekanntheitsgrad in der Regel aufhalf. Heutzutage trifft man sie selten bei „Illner“, bei „Will“, bei Plasberg, dem Gesinnungsathleten von „Hart aber fair“, oder gar bei „Beckmann“ und „Kerner“, den Allesverstehern der deutschen Television, die der hartnäckigen Überzeugung sind, dass Verona Pooth und Alice Schwarzer am Ende doch mehr dahermachen. Indes, der deutsche Leitartikel lebt unangefochten fort – weil ihn niemand so recht wahrnimmt. Weil er keinen stört. Weil es ihm geht wie dem Opa und der Oma drüben im Austraghäusl, die in Frieden vor sich hin welken. Und gerührt herüberwinken, wenn der Vetter aus der Großstadt bei ihrem Anblick spontan und lautstark bemerkt: „Was, die leben noch immer?!“ Nur eines könnte die Existenz der meinungsbildenden Institution, die uns lenken und leiten soll, ernsthaft bedrohen: die Platzfrage. Niemand vermochte sich in den vergangenen Monaten der leidvollen Beobachtung zu entziehen, dass die Zeitungen erheblich dünner geworden sind (ausgenommen die Provinzblätter, denen die regionale Anzeigenkundschaft in der Regel noch treu ist – auch wenn die Auflagen Jahr für Jahr um minimale Prozentpunkte sinken). Selbst am Samstag kommen die großen, die überregionalen Blätter– obwohl nach wie vor stattlicher als unter der Woche – nicht mehr so üppig daher, wie wir es gewohnt waren. Ganze Anzeigen-Plantagen wurden niedergemäht. Fielen einfach fort. Nun waren es aber die Annoncen, die den Aufwand an Papier, Druckerschwärze und Autorenhonoraren (so bescheiden sie auch sein mochten) für die Ballett-Kritik aus Oberhausen, den Geburtstagstusch zum Sechzigsten des verdienstvollen sorbischen Romanciers oder die Neubesetzung zentraler theologischer Lehrstühle in Bamberg finanzierten. Nach aller Voraussicht werden die mageren Jahre – auch am Ende der sogenannten „Krise“ – bei den sogenannten Qualitätsblättern kaum mehr fetteren Zeiten weichen, falls es die im Zeitungsgewerbe überhaupt noch einmal geben sollte, was nicht einmal für die Boulevard-Presse ausgemacht ist, obwohl Dieckmann und Co alle Register ziehen werden. Aber was wollen sie machen: Mehr als entblößen können sie die Damen nicht, Fritzl gibt es nur alle Schaltjahre, Benedikt und seine Seidenschühchen müssen geschont werden, eine entfesselte Polenhetze kommt auch nicht mehr so richtig an. Der Niedergang vollzieht sich vorläufig noch gemächlich. Bild brauchte fast ein Jahrzehnt, um von vier Millionen auf drei herabzusinken. Um Bild müssen wir uns fürs Erste nicht sorgen. Auch die Tages- und Wochenblätter werden so rasch nicht aussterben. Doch keine dicken Anzeigen werden sie säugen und nähren. Sie werden dünn und drahtig sein, teurer werden, am Ende vielleicht besser. In der Gesellschaft der westlichen Welt sind es nur die Prolls, die sich mit Junkfood vollstopfen, kastenweise mit Bier volllaufen lassen, auf feisten Hintern hocken und dicke Bäuche vor sich her schleppen. Elitemenschen haben kein Gramm Fett zu viel auf den Knochen. Sie sind alert. Sie arbeiten konzentriert. Sie können das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden. Sie holen sich aus dem Fernsehen und vom Internet die Informationen, die ihnen nützlich sind. Schauen sich dann und wann einen guten Film an. Hören im Kleinwagen nicht die Schmankerln von „Klassik Radio“, sondern ganze Suiten, Sonaten, Symphonien – so wie sie komponiert wurden. Warten, bis die letzten Pubertätsgreise des Regie-Theaters das Feld geräumt haben, dann erwerben sie für sich und die Freundin auch wieder ein Abonnement fürs Schauspielhaus. Hielten sich Zeitschriften von der Qualität der Review of Books, des New Yorker oder des alten Monat, wenn es sie bei uns denn gäbe. Immerhin kaufen sie Bücher, obschon ihnen nicht zu viel Zeit zum Lesen bleibt: Denn bei den Gebildeten wird sich, wenn unsere Zivilgesellschaft nicht völlig versagt, nach der „Krise“ des Voodoo-Kapitalismus mehr Macht sammeln als vordem. Das heißt freilich auch, dass sich eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickelt: die der lesenden Minderheit und der konsumierenden Mehrheit. Man wird die Elite (unter anderem) an den Zeitungen erkennen, die auf ihren Schreibtischen liegen. Vielleicht eine deutsche Version der Herald Tribune: intelligente Zusammenfassung der wichtigen (oder amüsant entlegenen) Informationen, originelle Reportagen und Porträts, brillante Kolumnen (die gescheiteste derzeit von Roger Cohen geschrieben), Buchrezensionen, Exkurse auf die Bühnen, in die Konzertsäle, außerdem prangende Modeberichte, vermutlich nicht nur der Annoncen wegen, sondern weil das Blatt von Frauen gelesen wird, die nicht einsehen, dass der Beruf oder die Mutterpflichten (oder beides) die Eleganz verbieten. Blätter wie die Frankfurter Allgemeine oder die Neue Zürcher Zeitung werden sich auf gründliche politische Analysen konzentrieren, glänzende Korrespondenten-Berichte (nicht nur aus den Hauptstädten), kulturelle Debatten, aufregende Polemiken, weit ausgreifende Feuilleton-Reportagen, Kritiken, die Lesestoff von der Qualität des unvergessenen Sieburg bieten – kurzum: Sie werden sich durch die Qualität ihrer Autoren ausweisen müssen. Das sollte nicht zu schwierig sein. Denn in unseren Ländern, denen man einen unaufhaltsamen Rückfall in den (partiellen) Analphabetismus vorhersagt, gedeiht zugleich eine Garde junger Schreiber, die nicht nur den Reichtum unserer Sprache beherrschen, sondern ihn mit ansteckendem Vergnügen – und oft virtuos – zu nutzen wissen. Die Redaktionstüren auf! Was für eine Chance, mit der uns die „Krise“ beschenkt. Foto: Picture Alliance

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