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Internetmetropole Berlin - Willkommen in der „Silicon Alley“

Die Hauptstadt entwickelt sich zu Europas Internetmetropole. Niedrige Mieten, der attraktive Standort und gut ausgebildete Mitarbeiter locken Gründer und Investoren an

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Marcus Pfeil beobachtet als Kolumnist des Wall Street Journal die deutsche Internetszene

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Einen Hinterhof weiter verkaufte früher der Modedesigner Andreas Murkudis seine Kleidung, bis es ihn aus Berlin-Mitte weg nach Schöneberg zog. Jetzt frisst sich das Start-up „Outfittery“ von Anna Alex durch das Jugendstilgebäude an der Münzstraße. Outfittery ist ein virtueller Einkaufsberater, Anna Alex stellt Kleidung für Herren zusammen, die entweder allergisch aufs Einkaufen reagieren oder wenig Zeit haben. Ein Jahr nach der Gründung hat das Unternehmen bereits 50 000 Kunden und beschäftigt 30 Mitarbeiter.

Outfittery ist eines von 2500 Internet-Start-ups, die seit 2008 in Berlin gegründet wurden. Das jedenfalls ist die Zahl, die der neu gegründete Bundesverband deutscher Startups e. V. ermittelt hat. Berlin kämpft dabei mit Städten wie Istanbul, Warschau oder Tel Aviv um die digitale Vormachtstellung diesseits des Atlantiks.

In Europa dürfte derzeit keine Stadt mehr Gründer und Investoren anziehen als die deutsche Hauptstadt. Wie viele es tatsächlich sind, weiß zwar niemand genau, weil täglich neue Firmen entstehen, es keine vernünftige Branchenstudie gibt, nicht klar ist, ob sich schon Start-up nennen darf, wer nur eine Idee ausbrütet, oder ob der Eintrag im Handelsregister entscheidet. Die New York Times jedenfalls adelte Berlin – in Anlehnung an das Silicon Valley – schon zur „Silicon Alley“.

„Internet-Start-ups haben in den vergangenen Jahren rund 20 000 Arbeitsplätze in Berlin geschaffen“, sagt Florian Nöll, Vorstandsmitglied im Start-up-Verband. Wenn man jede IT-Firma mitzählt, sind es laut einer Studie der Industrie- und Handelskammer sogar 45 000 neue Jobs. Jede 25. Stelle in Berlin hängt inzwischen von der Branche ab. So entsteht in der industriefreien Hauptstadt etwas, das sich zum Mittelstand von morgen auswachsen könnte.

Weil der Mittelstand von heute sich in der Finanzkrise als Rückgrat der deutschen Wirtschaft erwiesen hat, lassen sich neuerdings auch Politiker mit den Jung­unternehmern ablichten. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Bilder bis zur Wahl im September halten und sich weder Kanzlerin noch Herausforderer mit Nachwuchs-Pleitiers verewigt haben.

Berlin scheint für den Boom wie geschaffen, geht es hier doch unangepasster und wilder zu als anderswo. Jeder kann hier sein Ding machen. Getragen von einer Melange aus Euphorie, Unsicherheit und Zweifeln fühlt sich Berlin ja selbst ein wenig an wie ein Start-up. Noch fehlt das große Geld, der ganz große Deal, noch ist Berlins Start-up-Boom vor allem eins: ein Zukunftsversprechen.

Gründer wie Investoren vereint dabei die Hoffnung, ein neues Instagram zu entwickeln. Instagram ist eine Foto-App, die es den Nutzern erlaubt, die mit dem Smartphone geschossenen Bilder direkt mit ihren Freunden online zu teilen. Das soziale Netzwerk Facebook kaufte den Instagram-Entwicklern deren Unternehmen kurz vor dem eigenen Börsengang für eine Milliarde Dollar ab. Von derartigen Deals ist die deutsche Szene noch weit entfernt: So heißt es in einer Analyse des renommierten Tech-Blogs Startup Genome zwar, Berlin sei zurzeit der beste Standort, um eine Firma zu eröffnen. Allerdings sei „das Ökosystem noch nicht reif genug, um sie hier auch wachsen zu lassen“. Im Global Startup Ecosystem Index liegt Berlin deshalb abgeschlagen hinter Städten wie Toronto, Paris, São Paulo oder Hongkong auf Platz 15.

Zwar sitzen in Berlin eine Menge Business Angels und Inkubatoren, also Brutkästen, die sich in eine Idee verlieben, die neue Ideen mit Cash päppeln und auf Rendite hoffen. Um es aber mit dem richtigen Valley aufzunehmen, fehlen in der Alley die großen Investoren, die auch bereit sind, in späteren Finanzierungsrunden ins Risiko zu gehen. Nach einer Analyse der Nachrichtenagentur Dow Jones haben Deutschlands Gründer im vergangenen Jahr 822 Millionen Euro eingesammelt, das sind zwar 48 Prozent mehr als 2011, und ein Großteil davon floss auch nach Berlin. Insgesamt ist das aber nicht viel mehr als die Summe, die Investoren vor dem Börsengang allein in Facebook pumpten.

Vor allem die deutsche Erbengeneration scheut das Wagnis, sich mit Start-ups einzulassen. Das meiste Geld, das nach Berlin fließt, kommt aus dem Ausland: „Ab einem Volumen von über 15 Millionen Euro finanzieren fast nur die großen angelsächsischen Venture-Capital-Fonds“, sagt Florian Nöll vom Start-up-Verband. Auch bei der jüngsten Finanzierungsrunde des Online-Händlers Zalando kamen die knapp 300 Millionen Euro von der schwedischen Beteiligungsgesellschaft Kinnevik. Innerhalb der EU investieren schwedische Wagniskapitalgeber im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung am stärksten, deutsche Investoren liegen nur auf Rang zwölf.

Um die Risiko- und Unternehmerkultur am Standort Deutschland zu verbessern, hat Nöll im Oktober mit drei anderen Gründern den Bundesverband deutscher Startups e. V. gegründet. „Um gegenüber der Politik mit einer Stimme sprechen zu können“, sagt er. Die Themen sind: Steuererleichterungen, eine Reform der Insolvenzordnung oder eine Verbesserung der Einwanderungspolitik. Die Politik hat inzwischen erkannt, dass der Hype um Berlins Start-up-Szene auf lange Sicht gerechtfertigt sein könnte. Im Wahlkampf hat SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bereits kurz nach Ostern die Factory, einen Gründer-Campus an der Bernauer Straße besucht, in den Google eine Million Euro investiert hat. Die Kanzlerin schaute Anfang März beim Spieleentwickler Wooga und bei Researchgate, einer Vernetzungsplattform für Wissenschaftler, vorbei und rief eine „neue Gründerzeit“ aus.

Wirtschaftsminister Philipp Rösler protegiert die Gründerelite mit speziellen Investitions- und Förderprogrammen. Ende Februar war der Vizekanzler sogar auf Dienstreise im Silicon Valley. Dort gefiel es ihm so gut, dass er im Mai für eine ganze „German Valley Week“ hinfliegen will. Berlins Gründer wollen ihn in einem eigenen Charterflieger begleiten.

Auch Outfittery-Gründerin Anna Alex will mitfliegen. Auf der Reise will sie Rösler als Kunden gewinnen. „Genau unsere Zielgruppe: einer, der keine Zeit zum Shoppen hat“, sagt die 28-Jährige, die Volkswirtschaft in Paris und Freiburg studiert hat.

Rösler und Alex eint der Traum von einem deutschen Apple, Google oder Facebook. „Noch fehlt Berlin die ganz große Idee von internationaler Bedeutung“, sagt Kolja Hebenstreit vom Inkubator Team Europe. Zwar gab es auch schon Exits, so nennen Gründer und Investoren den Verkauf eines Start-ups oder dessen Börsengang, die zu Träumen verleiten. Ende 2012 etwa hat der Online-Reisevermarkter Expedia 477 Millionen Euro für das Vergleichsportal Trivago bezahlt, und im Sommer davor kaufte die US-Firma Care, eine Plattform für Betreuungsdienstleistungen, für einen zweistelligen Millionenbetrag ihre deutsche Kopie Betreut.de. Aber im Vergleich zu den USA nehmen sich die Summen noch bescheiden aus.

Der Online-Versandhändler Zalando könnte der erste Berliner Milliardendeal sein, wenn er es bis an die Börse schafft. Oder die Musiktauschbörse Soundcloud, die inzwischen mehr als zehn Millionen Menschen nutzen. Die Firma des Schweden Alexander Ljung, die auch in der Berliner Factory residiert, hat es zumindest in die dritte Finanzierungsrunde geschafft und vor gut einem Jahr 50 Millionen Euro vom US-Investor Kleiner Perkins Caufield & Byers eingesammelt.

„Vielleicht braucht die Stadt aber auch noch ein paar Jahre, bis sie eine große Company ausspuckt. Im Silicon Valley machen die das schließlich etwas länger“, sagt Jens Munk, Deutschland-Chef der britischen Investmentbank Torch Partners. „Berlin war immer eine kreative Stadt, das verbindet sich jetzt mit den relativ günstigen Immobilienpreisen und hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern.“ Munk glaubt fest daran, dass der aktuelle Start-up-Boom beständiger ist als das Phänomen der New Economy um die Jahrtausendwende.

Heute dominieren die Berliner Szene die nach dem Dotcom-Crash zur Jahrtausendwende übrig gebliebenen Gründer, die mit ihrem Geld jetzt andere Firmen finanzieren. Lukasz Gadowski mit Team Europe gehört dazu, Verlage wie Dumont, Madsack oder Holtzbrinck hoffen, im Netz ihr wegbrechendes Kerngeschäft kompensieren zu können. Handelskonzerne wie Otto oder Tengelmann sind angefixt vom E-Commerce. AWD-Gründer Carsten Maschmeyer und SAP-Mitgründer Hasso Plattner wetteifern um die heißesten Geschäftsideen. Angeführt wird diese Generation von den Samwer-Brüdern Marc, Oliver und Alexander, die einst Alando, Jamba und Citydeal teuer an Ebay, Verisign und Groupon verkauften. Ihre Holding Rocket Internet, über die sie an diversen Internet­unternehmen beteiligt sind, beschäftigt 8000 bis 10 000 Mitarbeiter auf der ganzen Welt, die meisten bei Zalando.

Auch Anna Alex hat dort vorher gearbeitet, ihre Mitgründerin Julia Bösch kennengelernt und den Kontakt zu ihrem ersten Investor Holtzbrinck Ventures geknüpft. Und so ist ihr junges Unternehmen längst Teil eines immer engmaschigeren, immer größer werdenden Netzwerks in Berlin, das sich schon bald aus sich selbst heraus nähren könnte. 

Marcus Pfeil beobachtet als Kolumnist des Wall Street Journal die deutsche Internetszene.

 

 

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