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Franz Müntefering - Die Rente mit 63 ist ein Irrweg

Heute debattiert der Bundestag erstmals über das Rentenpaket der Großen Koalition. Für Franz Müntefering sind die Rente mit 63 und die Lebensleistungsrente Irrwege. Die Große Koalition handele populistisch statt verantwortlich 

Autoreninfo

Der Sozialdemokrat Franz Müntefering war von März 2004 bis November 2005, und noch einmal von Oktober 2008 bis November 2009, Bundesvorsitzender der SPD. Von 2005 bis 2007 war Müntefering Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales im ersten Kabinett von Angela Merkel. Er steht wie kein anderer deutscher Politiker für die beiden zentralen Reformwerke des vergangegenen Jahrzehnts.

So erreichen Sie Franz Müntefering:

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Kein Zweifel: Nach diesem Wahlergebnis vom 22. September 2013 ist diese Koalition auf Bundesebene sinnvoll. Sie hat auch wichtige Vorhaben vereinbart und es bleibt Anlass und Zeit, weitere wichtige Zukunftsausgaben anzugehen.

Aber nicht alle Maßnahmen zum Bereich Alterssicherung und Rente, die angekündigt sind, sind nützlich, einige sind falsch. Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der Alterssicherungssysteme entsteht mit ihnen nicht. Kann man noch auf Einsicht hoffen?

Wer in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt, versichert sich und die anderen, die auch einzahlen. Der Staat organisiert das und hat die Langfristerfordernisse auszubalancieren.

Die zentralen Parameter sind bekannt: Das Äquivalenzprinzip, das sich in Beitragsumfang und Rentenanspruch ausdrückt, kann nur gerecht sein, wenn die Rahmenbedingungen dazu passen. Die Beitragshöhe soll immer auskömmliche Rente für die jeweiligen Rentenempfänger sichern, darf aber gleichzeitig die jeweiligen Beitragszahler, also die Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht überfordern. Wenn die Zahlen der Beitragszahler und die der Rentenempfänger sich in ihrer Relation nachhaltig verändern, tangiert das das System erheblich. Jedes Individuum ist anders und jeder Arbeitsplatz auch.

Es werden die falschen Weichen gestellt

 

Die Formel des Erfolgs heißt: Sichere Arbeit + gute Löhne + humane Arbeitswelt + stabiler Altenquotient = ausreichende Alterssicherung. Aber diese Formel erfüllt sich zurzeit in mancherlei Hinsicht nicht. Das muss keine Panik auslösen und auch das Beschwören eines Generationenkonflikts ist überflüssig. Aber nun dürfen nicht auch noch die Weichen falsch gestellt werden. Genau das passiert aber!

Positiv ist, dass die, vor allem demografiebedingten Rentengesetze von Rot-Grün und von der 2005er Großen Koalition von dieser Koalition nicht infrage gestellt werden: Begrenzung des Beitragssatzes, Senkung des Rentenniveaus mit Interventionspflicht, verstärkter Zuschuss aus dem Steuertopf an die Rentenkasse, schrittweise Anhebung des faktischen Rentenalters und des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre bis zum Jahre 2029 und der Anspruch auf eine abschlagsfreie Rente mit 65 Jahren bei mindestens 45 Beitragsjahren. Es wäre gut, wenn das auch ausdrücklich gesagt und in der Debatte nicht vernuschelt würde. Es auszusprechen, führt an die Realitäten heran.

Positiv auch: der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Wichtig ist die dringliche Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und nach einem angemessenen Lohn für Berufe, in denen vor allem Frauen tätig sind. Beide Felder sind bisher schwere Hypotheken für die Zukunftsfähigkeit des Rentensystems. Das gilt auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf generell, bei Alleinerziehenden im Besonderen. Da bewegt sich was.

Aber: Die in rot-grüner Zeit geschaffene Grundsicherung, also die Aufstockung von Minirenten bis zur Höhe des Existenzminimums und Freistellung der Kinder von Zuzahlungspflichten hierzu, immerhin mit vier bis fünf Milliarden Euro jährlich aus der Steuerkasse bezahlt, soll „fortentwickelt“ werden. Die von der jetzigen Großen Koalition dafür gefundene Formel von der „Lebensleistungsrente“ ist vielleicht populistisch brauchbar, aber unehrlich, denn sie ignoriert das Prinzip unseres Rentensystems. Die Rente berechnet sich nicht nach Lebensleistung, sondern nach der Beteiligung an der Rentenversicherung. Nette Formeln helfen da nicht weiter, sondern lösen letztlich Verwirrung und Enttäuschung aus. Wie soll man denn die Lebensleistung in einer umlagebasierten Versicherung bemessen?


Der Dank für gesellschaftlich relevante Lebensleistung ist gut. Den Ehrenamtlichen sollten wir zum Beispiel besser danken. Und es fallen einem dazu auch Elternzeiten und Pflegezeiten ein. Aber das ist nicht die Aufgabe der Rentenversicherung. Das muss aus der Steuerkasse geleistet werden. Und wenn die das nicht hergibt, muss sie aufgefüllt werden mittels gerechter Steuerpolitik. Die Leistungen dürfen nicht zulasten der nachwachsenden Rentenversicherten abgewickelt werden, nur weil es da heute den geringsten Widerstand gibt.

Die Volte hin zum Maßstab Lebensleistung berührt das System im Kern: Mit dieser Ausrichtung verlieren Löhne und Beiträge weiter an Gewicht und der eingeschlagene Weg sieht sehr aus nach einem Einstieg in die allgemeine Grundrente. Ich hoffe, niemand in der Koalition will diesen Weg wirklich beschreiten. Sonst sollte man es sagen. So ist es ein Spiel mit dem Feuer.

Mit der 63er Regelung wird eine bizarre Sonderregelung erfunden
 

Vergleichbar fragwürdig ist die Absicht, ab 2014 für 63-Jährige mit mindestens 45 Beitragsjahren (plus Sonderregelung) die abschlagsfreie Rente zu garantieren – die sie nach geltendem Recht seit 2012 mit 65 Jahren erhalten. Mit dieser neuen 63er Regelung wird eine bizarre Sonderregelung erfunden. 65 ist das seit über 100 Jahren bekannte Renteneintrittsalter. Als dieses auf 67 Jahre geändert wurde, haben wir bei 65 Jahren eine Grenze gezogen für die, die früh ins Erwerbsleben eingetreten sind. Für sie blieb es bei der alten Regelung. Eine Art Vertrauensschutz.

Nun soll das absolute Rentenalter für eine sehr kurze Zeitspanne auf 63 Jahre gesenkt werden (Allzeitrekord). Ein einziger Jahrgang erhält einen Zwei-Jahres-Vorteil, nämlich eine abschlagsfreie Rente schon im Alter von 63 Jahren statt mit 65. Dann schrumpft dieser Vorteil, parallel zum Anstieg des Rentenalters für die folgenden Geburtenjahrgänge (1952 bis 1963) Schritt für Schritt. 2029 gilt das schon bestehende Gesetz des Renteneintritts mit 67 oder 65 Jahren dann für alle. Eine – freundlich gesagt – sehr vertrackte Art von Gerechtigkeit, deren Kosten überdies auf die Jungen geschoben werden.

Falsch ist die Fixierung auf die Versicherungsjahre. Die andere Seite der Medaille, die Lebenserwartung, also die voraussichtliche Dauer der Rentenzahlung, bleibt dabei unbeachtet. Das ist ignorant. In Deutschland erhalten wir unsere Renten nicht mehr über einen Zeitraum von zehn Jahren, sondern inzwischen von 19, bald von 22 Jahren. Heute ist nicht mehr nur ein Zehntel der Bevölkerung 65 Jahre oder älter, sondern bereits 20 Prozent und bald werden es 30 Prozent sein. Mitte der sechziger Jahre wurden in Deutschland jährlich 1,2 bis 1,3 Millionen Kinder geboren, 2012 waren es weniger als 700 000. Was bedeutet das für uns heute? Welche Folgen hat das in 20 bis 30 Jahren? Macht alles nichts? Sollen wir einfach mal abwarten?

Abgesehen von all dem bleibt schleierhaft, weshalb trotz der aufziehenden Arbeits- und Fachkräfteproblematik die 63-jährigen Facharbeiter, die in erster Linie von der Regel erfasst würden, geradezu hinauskomplimentiert werden aus dem Berufsleben. Die meisten von ihnen haben Wissen, Können und Engagement. So, wie es im Entwurf des Arbeitsministeriums angekündigt ist, ist das Vorhaben renten- und arbeitsmarktpolitisch ein Irrweg.

Das jahrelange, erfolgreiche Bemühen, Schritt für Schritt die Mentalität zur Frühverrentung umzukehren, wird konterkariert.

Auf jeden Fall sind hierzu zwei Komplexe zügig anzugehen:
Bei einem Berufseinstieg mit 21 Jahren und einer Lebenserwartung von 82, bald 85 Jahren, ist es für die Kohorte zwischen 22 und 65 beziehungsweise 67 Jahren schwer, Wohlstand und soziale Sicherheit für das ganze Land zu erwirtschaften. Die Anstrengung aller ist nötig. Eine Flexibilisierung des Renteneintritts durch Erwerbsminderung oder Altersteilzeit kann die individuellen Potenziale angemessener als bisher beachten, darf aber nicht die Illusion von der Frühverrentung fördern, sondern muss über 65/67 hinausweisen.
 

Wer länger aktiv bleiben kann, hat auch länger was von seinem dann höheren Rentenanspruch
 

Dazu gehört es, stärker als bisher Berufswechsel in einem langen Leben populär, organisierbar und finanzierbar zu machen. Weshalb sollte die letzte Berufsdekade nicht immer öfter eine mit weniger Druck und Belastung sein und der ballistischen Kurve der körperlichen Kräfte folgen. Ja, das könnte sich auch auf die Lohnhöhe auswirken. Das Senioritätsprinzip darf da kein Hindernis sein. Lebensqualität hat viele Gesichter. Wer länger aktiv bleiben kann, hat auch länger was von seinem dann höheren Rentenanspruch.

Dass bei all dem betriebliche und individuelle Altersvorsorge und demografiebetonte Tarifverträge wichtig, ausbaufähig und förderungswürdig bleiben, sei nur als Stichwort erwähnt.
Endlich: Eine Rentenversicherung, die keine verbesserte Pflegeversicherung an ihrer Seite hat, kann keine ausreichende Altersversicherung sein. Das kostet auch mehr Geld, ja. Es geht um Zeit und Zeit kostet Geld. Bei Hospiz- und Palliativdiensten ist es gut eingesetzt. Die Pflegeversicherung ist seit Mitte der neunziger Jahre ein wichtiges Standbein der sozialen Sicherung geworden. Sie ist aber Zuschussversicherung und garantiert nicht die volle Pflegekostenerstattung, verhindert also nicht die Inanspruchnahme der Kinder-Familie für ungedeckte Pflegekosten. Wie wird diese anwachsende Problematik angegangen? Bei der Pflegereform müssen die Kommunen verantwortlich eingebunden und auch entsprechend ausgestattet sein. Die Koalition ist am Zuge.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat seinerzeit den „Rat für Nachhaltige Entwicklung“ eingesetzt, um die Regierung beraten zu lassen. Seit 2004 gibt es auch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, der sich im Parlament bemüht, den Debatten um Nachhaltigkeit Aufmerksamkeit und verlässlichere Strukturen zu verschaffen. Man darf gespannt sein, ob sich da zu unserem Thema etwas tut.

In Sachen Ökologie ist begriffen, dass falsches Handeln heute Hochwasser und Dürre für morgen bedeutet. Im Sozialen ist das im Prinzip nicht anders. Eine Politik, die erkennbar auch hier auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist, würde das Vertrauen aller Generationen in unsere soziale Sicherheit dauerhaft deutlich stabilisieren. Und das wäre gut. 

 

 

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