Ein Jahr nach dem Mord an Mia in Kandel - „Man hat mich den Kuppler von Kandel genannt“

Der Mord an der 15-jährigen Mia in Kandel hat die Gemeinde gespalten. Ein Jahr danach lädt ein so genanntes Frauenbündnis rechte Demonstranten aus ganz Deutschland in die Pfalz. Bürgermeister Volker Poß (SPD) sieht sich und den Ort als Opfer von Fremdenhass

Auch ein Jahr nach dem Mord an Mia demonstrieren Rechte in Kandel – doch wogegen eigentlich? / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Herr Poß, genau ein Jahr nach dem Mord an der 15-jährigen Mia durch einen jungen Afghanen ruft eine Initative namens „Frauenbündnis Kandel“ zu einer Gedenkdemo in Ihrer Gemeinde auf. Mit welchen Gefühlen sehen Sie diesem Tag entgegen?
Ich will nicht sagen, dass mir diese  Demonstration „Bauchweh“ bereitet. Wir haben hier bei uns im Laufe des Jahres bereits vielfältige Erfahrungen mit solchen Demos gesammelt. Wir haben ein Stück weit gelernt, damit umzugehen. Aber natürlich weiß man trotzdem nicht, was kommt.

Das „Frauenbündnis Kandel“ ist inzwischen bundesweit gut vernetzt. Bei seinen Demos wurden regelmäßig bekannte Mitglieder der AfD, Neonazis und vom Verfassungsschutz beobachtete Hooligans gesehen. Was zieht diese Menschen in Ihre Stadt?
Leider ist Kandel zu einem Treffpunkt für all diese Demonstranten geworden, die die für uns alle nach wie vor unfassbare Gewalttat für ihre Zwecke instrumentalisieren. Dabei geht es schon lange nicht mehr um das getötete Mädchen. Das „Frauenbündnis Kandel“ nutzt unsere Stadt als Plattform, weil es hier bei uns nach wie vor die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann und das mediale Interesse bekommt. 250 bis 300 Teilnehmer einer Demonstration würden in einer Großstadt kaum Beachtung finden; solche Demos sind dort nahezu alltäglich. Für Kandel mit seinen etwas mehr als 9.000 Einwohner sind solche Demos aber keineswegs Routine. Sie belasten unsere Bürgerinnen und Bürger in hohem Maße. Das „Frauenbündnis“ nutzt diese Situation ganz gezielt, um Verunsicherung, Besorgnis und Angst zu schüren.

Was heißt „schüren“? Wurde diese Angst nicht durch den Mord ausgelöst?
Auch wenn es sich bei dem getöteten Mädchen um eine Jugendliche handelt, die bei uns in Kandel aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, und bei dem Täter um einen jungen Flüchtling aus Afghanistan, so handelt es sich in erster Linie um eine Beziehungstat. Sie wurde begangen, weil die Beziehung zerbrochen ist.

In Chemnitz, wo im September ein junger Deutsch-Kubaner umgebracht wurde, hörten die Demos nach einigen Tagen auf. In Kandel dagegen wird auch noch ein Jahr danach  jeden ersten Samstag im Monat demonstriert. Wogegen eigentlich genau?
Auf den Transparenten steht zum Beispiel Merkel muss weg oder Nein zum UN-Migrationspakt“. Das sind Forderungen, die mit Kandel nichts zu tun haben. Wenn die Demonstranten damit durch die Straßen ziehen, dann versetzt uns das aber in Angst. Die Demos werden zu einer Belastung für unsere Bürgerinnen und Bürger, aber auch für den örtlichen Handel und für das Gewerbe, das an jedem Demonstrationstag starke Einbußen hinnehmen muss. Diese tiefe Verunsicherung wird vom „Frauenbündnis Kandel“ ausgenutzt, um unser demokratisches Verständnis in Frage zu stellen.

Frauenbündnis, das klingt, als handele es sich um eine feministische Initiative. Wer steckt dahinter?
Dieses Bündnis nennt sich zwar „Frauenbündnis Kandel“, die Mehrzahl seiner Mitglieder ist aber männlich; das Gros der Demonstrationsteilnehmer kommt weder aus unserer Stadt noch aus der Region. Kopf und Anführer des „Frauenbündnisses“ ist Marco Kurz, der auch nicht in der Region wohnt.

Sind unter den Demonstranten gar keine Einheimischen?
Doch, aber die sind deutlich in der Minderheit.

Über Marco Kurz heißt es in einem Bericht der Rheinpfalz, er habe vor dem Mord an Mia auf Facebook eine Demonstration von 500.000 Demonstranten nach Berlin organisieren wollen, die die Bundesregierung zum Rücktritt zwingen sollte. Was ist Ihr Eindruck, worum geht es ihm in Kandel?
Er will mit populistischen Hetzparolen Ängste schüren und unser demokratischen Verständnis in Frage stellen.

Stimmt es, dass Sie nach dem Mord an Mia Morddrohungen bekommen haben?
Nicht nur ich, auch meine Familie. So etwas geht unter die Haut und wühlt auf. Das steckt man nicht so leicht weg.

Man hat Ihnen unterstellt, als Verfechter eines liberalen Kurses in der Flüchtlingspolitik seien Sie mit Schuld an dem Verbrechen.
Ich habe unsere Bevölkerung unmittelbar nach der Tat zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Ich habe davor gewarnt, den Täter vorzuverurteilen und alle Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen. Meine Appelle, Ruhe zu bewahren, sind mir dann aber so ausgelegt worden, als wäre ich derjenige gewesen, der Flüchtlinge mit jungen Mädchen aus Kandel zusammengebracht hat. Man hat mich den „Kuppler von Kandel“ genannt.

Wie viele Flüchtlinge und Zugewanderte lebten denn vor dem Mord an Mia in Kandel – und welche Erfahrungen hat die Gemeinde mit ihnen gemacht?
In unserer Verbandsgemeinde hatten wir zu Hochzeiten bis zu 220 Flüchtlinge, die wir alle dezentral unterbringen konnten. Fast ausnahmslos haben wir mit allen gute Erfahrungen gemacht. Wir können dabei aber auch zurückgreifen auf eine Vielzahl von ehrenamtlichen Paten, die sich um diese Menschen kümmern und sorgen.

Gab es vorher gar keine Probleme?
Nein, gar nicht. Das hat alles sehr gut funktioniert. Es gab auch genügend Möglichkeiten für Begegnungen mit Flüchtlingen.

Und nach dem Mord an Mia?
Die Proteste gegen den Mord haben uns die Integration erschwert. Die Flüchtlinge sind vorsichtiger geworden. Viele haben sich zunächst nicht mehr auf die Straße getraut. Auch die Helfer waren zunächst verunsichert, weil sie Angst vor Anfeindungen hatten.

Mussten Sie in Kandel ausbaden, was Ihnen die Bundesregierung mit ihrer Politik der offenen Grenzen eingebrockt hat?
Von „Ausbaden“ will ich nicht reden wollen. Aber zweifelsohne sind wir als Kommunen hier in Kandel und überall in unserer Republik diejenigen, die die Flüchtlingspolitik vor Ort umzusetzen haben. Ich bin nach wie vor der Meinung: Wir haben das hier bei uns in Kandel gut hingekriegt.

Gegen das Frauenbündnis Kandelhat sich schnell Widerstand formiert. Es gibt die Initiativen „Wir sind Kandel“ und „Kandel gegen Rechts“. Sobald das Frauenbündnis eine Demo anmeldet, starten die anderen beiden eine Gegendemo. Wer mobilisiert denn mehr Bürger?
Noch bringt das Frauenbündnis mehr Menschen auf die Straße.

Volker Poß / SPD Kandel

Was glauben Sie, woran liegt das?
Weil man sich in Kandel mit Demos generell schwer tut und immer noch verunsichert ist, wie man sich verhalten soll. Das Frauenbündnis versucht gezielt, den Spaltkeil zwischen die Gegeninitiativen, zwischen die Parteien und zwischen die Kirchen zu treiben. Viele Bürger wissen nicht, was sie tun sollen – und bleiben deshalb lieber zu Hause. Viele sind der Meinung, man sollte das „Frauenbündnis“ buchstäblich ins Leere laufen lassen, in der Hoffnung, dass es dann mangels Aufmerksamkeit weg bleibt. Wie gesagt, es gibt unterschiedliche Auffassungen.

Die AfD hat bei der vergangenen Wahl zum Kreisparlament 6 Prozent der Stimmen erreicht. Deutet die große Zahl der Teilnehmer an den Demos des Frauenbündnisses nicht daraufhin, dass die Forderungen der Parteien doch von mehr Bürgern geteilt werden, als Sie wahrhaben wollen?
Zweifelsohne wird die eine oder andere Forderung geteilt, und man kommt nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen.

Warum reden Sie dann nicht mit Marco Kurz?
Man kann immer und auch gerne in einer sachlichen Art und Weise über das eine oder andere diskutieren. Wer jedoch mit populistischen Hetzparolen versucht, für tiefe Verunsicherung zu sorgen und Ängste zu schüren, mit dem ist eine sachliche Diskussion nahezu unmöglich. Deshalb sehe ich keine Grundlage, mich mit einem Herrn Kurz an einen Diskussionstisch zu setzen.

Die Initiative „Wir sind Kandel“ hat gerade einen Preis für ihr Engagment gewonnen, den die rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ausgelobt hat. Hat die Zivilgesellschaft hat über die Rechten triumphiert?
Triumphiert ist der falsche Begriff. Der von unserer Ministerpräsidentin ausgelobte Brückenpreis ist jedoch eine wichtige Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements der Bürger – und eine Auszeichnung für ihren Einsatz für unsere demokratischen Grundwerte und für ihre Zivilcourage.

Aber den Konflikt hat das nicht entschärft. In der Stadt kursieren mittlerweile Briefkastenaufkleber, auf denen steht „Keine Werbung von der AfD“ oder von „dem Frauenbündnis Kandel“. Deren Mitglieder wurden auch nicht in den Kultursaal der Stadthalle hereingelassen, als die Gemeinde zu einem Vortrag zweier Fotojournalisten über die rechten Demos in Kandel einlud. Tragen sie damit nicht zur weiteren Spaltung der Gemeinde bei?
Solche Briefkastenaufkleber sind ein privates Statement eines jeden Haus- bzw. Wohnungsbesitzers. Und bei der Veranstaltung in der Stadthalle handelte es sich nicht um eine öffentliche Veranstaltung, sondern um einen Vortrag, zu dem eine Gruppierung eingeladen hat, der dergestalt auch das Hausrecht zustand.

Demonstrieren die Rechten vielleicht auch deshalb immer weiter, weil sich der Konflikt mit den Gegen-Initiativen verselbständigt hat?
Ja, daran liegt es mit Sicherheit auch. Es ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass das Frauenbündnis immer noch die Aufmerksamkeit der Medien nach Kandel lenkt.

Im September wurde Abdul D. vor dem Landgericht Landau wegen Mordes an Mia unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Keiner weiß zwar, wie alt der Angeklagte wirklich ist. Aber auf Mord stehen normalerweise 15 Jahre. Können Sie nachvollziehen, dass das Urteil neue Proteste ausgelöst hat?
Ich habe schon gleich nach der schrecklichen Gewalttat gesagt, dass diese Tat konsequent verfolgt und geahndet und ungeachtet der Herkunft des Täters streng nach den Regelungen unseres Strafgesetzbuches verfolgt werden muss. So ist dies auch geschehen. Ich habe in vollstem Umfang Vertrauen in die Justiz und die Staatsanwaltschaft und bin davon überzeugt, dass in Anbetracht aller Umstände das der Tat entsprechende Strafmaß gefunden und dergestalt geurteilt worden ist.

Marco Kunz hat wiederholt gesagt, wenn es das Frauenbündnis nicht gäbe, hätte der Ort Mia längst vergessen. Stimmt das?
Nein, das stimmt keineswegs. Nochmal: Marco Kurz geht es nicht um Mia. Es geht ihm ausschließlich darum, die Tat in seinem Sinne und für sine Zwecke zu instrumentalisieren.

Was sagt denn Mias Familie dazu, dass der Mord an ihrer Tochter die Gemeinde gespalten hat?
Die Familie lebt zurückgezogen. Deshalb kann ich mich nicht dazu äußern.

Haben Sie den Eltern gar nicht kondoliert?
Angesichts des unendlichen Leids, das der Familie zugefügt worden ist, haben mir zugegebenermaßen nach der Tat die richtigen Worte gefehlt. Und es fiel schwer, Trost zu spenden, weil mir bewusst war, dass man nicht trösten kann. Was blieb, waren meine Hilflosigkeit und meine Ohnmacht.

Aber als Bürgermeister können Sie doch nicht so tun, als sei der Mord nicht passiert.
Ich hatte das große Bedürfnis, der Familie mein tiefes Mitgefühl und meine große Anteilnahme entgegenzubringen. Ich hatte damals eine Kontaktaufnahme über den Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde versucht. Die Eltern haben sich gegen einen Kondolenzbesuch entschieden. Dafür hatte ich großes Verständnis. Ich habe mich dann schriftlich be den Eltern gemeldet. Ich habe ihnen versichert, dass ich ihnen als Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung stehe.

Wie werden Sie dem Tod des Mädchens am 27. Dezember gedenken?
Unsere evangelische Kirche St. Georg ist an diesem Tag nachmittags geöffnet. Ich werde den Tag nutzen, um Mia in Stille zu gedenken.

Erinnern Sie sich noch daran, was Sie dachten, als Sie von dem Verbrechen erfahren haben?
Ich bin noch am selben Abend von der Polizei über diese schreckliche Tat informiert worden. Der erste Gedanke war für uns alle: Wie kann so etwas in so einer beschaulichen Kleinstadt wie Kandel passieren?

Und, haben Sie eine Antwort?
Nein. Letztlich ist die Tatsache, dass die Tat hier bei uns stattfand, dem Zufallsprinzip geschuldet. Eine solche Tat hätte in gleicher oder ähnlicher Weise nahezu überall begangen werden können – zwischen zwei Deutschen ebenso wie zwischen einer deutschen Jugendlichen und einem Flüchtling.

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