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(picture alliance) Der eine wird geschmäht, der andere gefeiert

Wulff vs. Ackermann - Zwei deutsche Sittengemälde

Das Land bestraft seine Politiker hart für Abweichungen vom Pfad der Tugend – während sich die „Verantwortlichen“ in der Finanzbranche lächelnd davonstehlen

 

Sittenbild Nummer eins:

Welch ein Abgang! Die Staatsanwaltschaft befragt ihn, Verfahren bedrohen ihn, das politische Berlin ächtet ihn.

Sein neues Büro, das ihm der Deutsche Bundestag zugewiesen hat, ist „klein wie eine Abstellkammer“. Die Telefonzentrale des Parlaments kennt ihn nicht: „Wulff? Mit zwee f? Hamm wa hier nich.“ Beides will der Spiegel in Erfahrung gebracht haben. Nachrichten von einem Ausgegrenzten. 

Und wer ihn leibhaftig vor sich sah, hat Tristes zu vermelden: Als „Auftritt eines Gezeichneten“, beschreibt die Süddeutsche Zeitung seine Anwesenheit bei einer Feierstunde. Der gescheiterte Bundespräsident, bleich und abgemagert. Der gefallene Politiker, einsam und verlassen. Was hat er bloß verbrochen? 

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Ein unordentlicher Kredit für ein ordentliches Häuschen im höchst ordentlichen Großburgwedel. Dazu kostengünstige bis kostenlose Ferien bei und mit Freunden. Auch eine Hotelübernachtung, für die ein Unternehmerfreund geradestand. Das Upgrade für einen Flug, Economy auf Business. Ein paar Partynächte in unschicklicher Nähe zu Wirtschaftsgrößen. Welch piefiges Sündenregister! Zu peinlich, um wahr zu sein. 

Doch alles leider nun mal nicht vereinbar mit Wulffs vorangegangenem Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten. Deshalb leider auch nicht vereinbar mit der Würde des Bundespräsidenten. Ja, die deutsche Demokratie bestraft ihre Politiker streng für Abweichungen vom Pfad der Tugend. Selbst wenn ihre Missetaten nichts weiter sind als Spießersünden, Geschmacksverirrungen, Stillosigkeiten – Verteidigungsminister Rudolf Scharping etwa musste gehen, weil er sich zur Unzeit eines Kampfeinsatzes der Bundeswehr mit seiner Freundin im Pool ablichten ließ. 

Sittenbild Nummer zwei:

Welch ein Abgang! Die Schweiz heiligt ihn, die Finanzwirtschaft huldigt ihm, die Medien bewundern ihn. Lachend lässt er sich im Formel-1-Cockpit ablichten – jeder Zoll ein Champion, ein Weltmeister, ein „Master of the Universe“, wie sich Banker seines Kalibers nun mal gern sehen. 

Deutschland behält Josef Ackermann strahlend in Erinnerung. Seine Heimkehr in die Eidgenossenschaft nach zehn Jahren als Chef der Deutschen Bank war triumphal. Lukrative Mandate fallen ihm reihenweise in den Schoß: in Deutschland, in der Schweiz, in der Türkei, in Kuwait, in Schweden. Natürlich und selbstredend, und wie könnte es anders sein, ist er doch auch noch Vizepräsident des „World Economic Forum“. Reputation verpflichtet.

Was hat er geleistet? Die Deutsche Bank entwickelte sich unter seiner Ägide zu einer der größten, wenn nicht zur größten Spekulantenbank überhaupt. Sie steckte tief im Sumpf der US‑Subprime‑Krise, die 2007/2008 zur Weltfinanzkrise wurde. „Joes“ Bank war damals Täter. Und sie ist es erneut im Libor-Betrug. 

Wo immer gezockt wurde, wo immer gezockt wird, das Institut mit dem Schweizer Siegelbewahrer war dabei und ist dabei. Anything goes, solang es nur der Rendite dient. Ziel unter Ackermann: 25 Prozent – und auch schon mal 14 Millionen Jahresgehalt für den Chef selber. Soll man ihn, darf man ihn den „obersten Verantwortlichen“ nennen? 

Verantwortung ist das Sonntagswort aller „Joes“ dieser bizarren Halbwelt. Damit begründen sie ihre exorbitanten Boni. Doch sobald tatsächlich einmal Verantwortung getragen werden muss, verflüchtigt sich das Sonntagswort. Im Ernstfall nämlich sind für Schuld und Sühne höchstens die Chargen auf der nächstunteren oder der nächstnächstunteren Ebene zuständig. 

Auf der folgenden Seite: Die Diskrepanz zwischen Politik und Finanzwelt

Und der Chef selber? Natürlich über jeden Zweifel erhaben. Dasselbe gilt ebenso selbstredend für den neuen Deutsche-Bank-Chef Anshu Jain, ehedem „verantwortlich“ für das Investmentbanking der Deutschen Bank in London, oberster Koch also in der Giftküche der globalen Finanzwirtschaft, „verantwortlich“ für fragwürdigste Finanztaten gegen Nationen, Gesellschaften und Menschen.

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Zieht ihn jemand zur Verantwortung? Nein. Man hängt an seinen Lippen! Anshu Jain verspricht „eine neue Kultur“. Der Bock verspricht zu gärtnern. Das Versprechen wird respektvoll begrüßt. Auch Christian Wulff versprach einst eine neue Kultur. Ganz Deutschland höhnte. Der Täter Anshu Jain ist gesellschaftsfähig. Das Täterchen Christian Wulff dagegen nicht. Das ist es, was uns die zwei Sittenbilder vor Augen führen: die Moral der Politik. Und die Amoral der Finanzwirtschaft. Und wie stehen wir Journalisten dazu? Chefredakteur Georg Mascolo lieferte im Spiegel jüngst ein Beispiel – es sei ausführlich zitiert: 

„Die Banken erpressen uns, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel in einem Thesenpapier geschrieben, und es ist zu hoffen, dass in dem Getöse über seine teilweise berechtigten, teilweise überzogenen Forderungen die wirklich wichtige Wortmeldung dieser Woche nicht vergessen wird. Sie kommt von Sandy Weill. Er war acht Jahre lang die bestimmende Figur der US-Großbank Citigroup.“ Die Politik – „Getöse“, übertrieben, nicht ernst zu nehmen. Der Finanzspekulant – „die wirklich wichtige Wortmeldung der Woche“. 

So gegensätzlich sind die Sitten: 

Der Politiker hat Wahlen zu fürchten, außerdem Staatsanwälte, Untersuchungsausschüsse und die gesellschaftliche Ächtung, selbst wenn er sich nur bei unappetitlichen Petitessen ertappen lässt. Wie Wulff.  Der Vormann der deutschen Finanzwirtschaft hingegen bleibt unbehelligt, bei welcher Tat auch immer er ertappt wird, sei es beim Sturmlauf auf Währungen, beim Zerstören von Volkswirtschaften, beim Aushebeln von Demokratie. Sei es Ackermann. Sei es Jain. 

Was für eine Gesellschaft zeigt sich da? Eine Gesellschaft, die ihre Politiker argwöhnisch beäugt und akribisch verfolgt – ihre Geldmächtigen dagegen bewundernd bestaunt und rechtsfrei schalten und walten lässt. Primat der Politik? Primat des Rechtsstaats? 

Im Sommer 2012 vor aller Augen verdampft. 

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