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(picture alliance) Die Auszüge aus Hitlers "Mein Kampf", die in der Sammeledition "Zeitungszeugen" publiziert werden sollten, wurden letztlich unkenntlich gemacht. Das "unlesbare Buch" ist damit tatsächlich nicht lesbar

Mein Kampf - „Wir brauchen eine kommentierte Ausgabe“

Eine Münchner Forschergruppe arbeitet an einer kommentierten Gesamtausgabe von Hitlers "Mein Kampf". CICERO ONLINE sprach mit der Leiterin des Projektes Dr. Edith Raim über die Schwierigkeiten ihrer Arbeit. Der Streit um die Freigabe des Buches wird schon länger geführt

Frau Dr. Raim, Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ sollten in einer Beilage der Sammeledition „Zeitungszeugen“ im Buchhandel erscheinen. Das Land Bayern ließ dagegen eine einstweilige Verfügung erwirken. Nun wurden die Zitate unkenntlich gemacht. Was halten Sie von dem Projekt und von dem Verbotsreflex Bayerns?
In der Form, wie es jetzt publiziert ist, ist es natürlich völlig wertlos. Der Originaltext ist nicht lesbar und der Kommentar steht im leeren Raum. Der Verleger von „Zeitungszeugen“ Peter McGee hätte sich einigen Ärger ersparen können, hätte er sich an die Urheberrechtsbestimmungen gehalten. Die Gesetze gibt es nun mal. Daher finde ich den bayerischen Verbotsreflex, wie sie das nennen, nicht so problematisch. Außerdem ist Hitlers „Mein Kampf“ ja relativ leicht zugänglich. Sie können es jederzeit übers Internet beziehen oder es sich in einer wissenschaftlichen Bibliothek vorlegen lassen. Es steht immer noch in unzähligen von deutschen Bücherregalen herum, ist es doch immerhin 12 Millionen Mal gedruckt worden. Selbst wenn ein gewisser Teil vernichtet wurde, gibt es noch jede Menge dieser Exemplare. Das große Tabu, dass in im Vorfeld der Aktion suggeriert wurde, besteht meines Erachtens nicht.

Aber gerade weil „Mein Kampf“ so einfach zugänglich ist, müsste das Land Bayern doch eine andere Politik verfolgen, es kontrolliert freigeben, als kommentierte Version, so wie Sie es ja auch an Ihrem Institut planen.
Zunächst finde ich die Argumentation der bayerischen Staatsregierung nachvollziehbar und ehrenhaft. Dort heißt es, dass man aus Respekt vor den Opfern des Zweiten Weltkrieges von einer Freigabe absieht. Außerdem wolle man keiner rassistischen Ideologie Vorschub leisten. Allerdings brauchen Wissenschaftler und Historiker ihre Quellentexte. Man kann nicht über den Nationalsozialismus forschen, ohne Goebbels, den Völkischen Beobachter oder auch Hitler zu lesen. Deswegen ist für uns eine wissenschaftliche Fassung unumgänglich. Daher arbeiten wir an einer kommentierten Fassung, die Hitlers Schrift in den Kontext der Zwanziger Jahre stellt.

Hat das Land Bayern denn einer Gesamtausgabe mittlerweile zugestimmt?
Ich denke, dass den dortigen Verantwortlichen mittlerweile auch die Dringlichkeit des Problems klar geworden ist. Das war vor einigen Jahren noch nicht der Fall. Im Verlauf der nächsten Jahre wird sich sicherlich herauskristallisieren, dass wir diese kommentierte Fassung veröffentlichen können.

Aber gibt es eine konkrete, eine offizielle Zustimmung?
Nein. Es hat noch kein Gipfeltreffen stattgefunden. Wir haben noch kein finales „Ja“ erhalten.

Was machen Sie, wenn das Land Bayern weiterhin die Auffassung vertritt, dass „Mein Kampf“ nach Ablauf des Urheberrechts als Verbreitung verfassungsfeindlicher Propaganda sowie als Volksverhetzung strafbar sei? Es also keine kontrollierte Freigabe erteilt?
Ich bin doch sehr zuversichtlich, dass wir uns mit dem Land Bayern einigen werden. Unser Institut hat ja bereits die Goebbels-Tagebücher veröffentlicht. Außerdem haben wir eine große Edition „Hitler -Reden, Schriften, Anordnungen“ publiziert, ganz ohne größeres öffentliches Aufsehen. In dieser Reihe wird vermutlich auch „Mein Kampf“ seinen Platz finden.

Teilen Sie die Befürchtung, dass im Zuge der Debatte um den Rechtsterrorismus in Deutschland eine geplante Veröffentlichung von „Mein Kampf“ schwieriger werden wird? Dass die Politik sagt: Es heißt immer, wir seien auf dem rechten Auge blind, da ist es der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, dass wir jetzt eine kommentierte „Mein Kampf“- Version freigeben.
Rassistische und antisemitische Bewegungen gibt es, ob „Mein Kampf“ verboten ist oder nicht. Es ist natürlich auch so ein bisschen eine symbolische Sache, ob „Mein Kampf“ freigegeben wird. Die Erfahrung lehrt aber, dass sich ein möglicher Aufruhr, den eine Freigabe erregen würde, auch wieder schnell legen könnte. Es kann aber auch sein, dass eine Freigabe von „Mein Kampf“, weil sie auch international Aufsehen erregt, nicht so schnell ad Acta gelegt wird. Das weiß ich nicht. Das kann ich auch schlecht abschätzen.

Was ist aus heutiger Sicht das Brisante an „Mein Kampf“?
Zunächst muss man festhalten, dass dieses Buch natürlich stark gealtert ist. Es ist im Kontext der 20er Jahre entstanden. In dieser Zeit haben die Leute natürlich andere Themen bewegt, als im Jahre 2012. Klar ist auch, dass wir heute in einem völlig anderen Land leben. Unsere kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ wird also in einem Land erscheinen, dass sich politisch und gesellschaftlich gewandelt hat.

Was natürlich nach wie vor Sprengkraft besitzt, sind die rassistischen Ausfälle in Hitlers Buch. Wir dürfen aber nicht glauben, „Mein Kampf“ sei quasi eine Blaupause für den Holocaust. Hitler skizziert darin nicht detailliert seine Vernichtungspläne. In der ganzen Absicht, die Hitler verfolgt hat, musste er sein Buch so staatsmännisch wie möglich verfassen, es trotz aller Menschenverachtung so massentauglich wie möglich gestalten. Wenn er gesagt hätte, ich bringe, sobald ich an der Macht bin, im großen Stil Menschen um und werde einen Weltkrieg anzetteln, hätte es das Buch vermutlich schwerer gehabt.

Was gibt es zur Form zu sagen?
Stilistisch ist es ist nicht einfach zu lesen. Es finden sich unglaublich viele Wiederholungen. Dadurch, dass der erste Teil des Buches während seiner Zeit in Haft entstanden ist und Hitler auch keine wissenschaftliche Bibliothek zur Verfügung hatte, hat er vieles aus dem Kopf geschrieben. Hitler hat selbst einmal über sein Buch gesagt, es sei wie eine Häufung von Leitartikeln aus dem Völkischen Beobachter. Das ist eine ganz gute Charakterisierung. So ähnlich veraltet, wie sich die Artikel aus dem Völkischen Beobachter heute lesen, lesen sich die Kapitel aus Hitlers mein Kampf.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum die Demokratie heute Hitlers Kampfpamphlet aushält

Wenn Sie sagen, die heutige Gesellschaft sei eine andere, dann bedeutet das doch auch, dass „Mein Kampf“ die Sprengkraft die es in den 1920er Jahren hatte, heute nicht mehr hat. Ist die heutige Demokratie für „Mein Kampf“ also gefestigt genug?
Durchaus. Bonn war schon nicht Weimar und Berlin ist es erst recht nicht. Wir haben eine erfolgreiche Nachkriegs- und Demokratiegeschichte hinter uns. Seit Jahrzehnten fließt viel Geld in die politische Bildung. Wir sind heute in einer völlig anderen Situation. In der Weimarer Republik herrschte nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eine radikale Enttäuschung in der Bevölkerung vor. Außerdem waren die Deutschen gewöhnt an einen autoritär organisierten Staat, an ein Kaiserreich, dass alles regelt. Die Deutschen waren mit den ganzen innen- und außenpolitischen Problemen der Weimarer Republik schlichtweg überfordert.

Wie war eigentlich die Rezeption nach Erscheinen des Werkes, also bevor Hitler an die Macht kam?
Zunächst wurde „Mein Kampf“ vom Franz Eher-Verlag gepuscht und von der NSDAP stark beworben. Es wurde quasi als Bibel des Nationalsozialismus verbreitet. „Mein Kampf“ hat auch einige Besprechungen erfahren. Die These allerdings, Hitlers „Mein Kampf“ sei zwar weit verbreitet, aber kaum gelesen worden, hat Othmar Plöckinger in seinem Buch eindrucksvoll widerlegt. Wie viel die Leute tatsächlich gelesen haben, weiß man letzten Endes natürlich nicht. Aber es wurde vermutlich öfter gelesen als bisher angenommen wurde. Ich vermute, das war auch so ein Entnazifizierungsreflex. Nach dem Motto: „Ich besitze das Buch zwar, aber gelesen habe ich es nicht.“ Eine typische Reaktion aus der Nachkriegszeit.

Die weite Verbreitung des Buches kann auch an Kuriositäten abgelesen werden. Stimmt es, dass Ende der 30er Jahre deutschen Brautpaaren anstatt der Bibel „Mein Kampf“ auf den Standesämtern geschenkt wurden?
Ja. Es gab jeweils ein Exemplar von „Mein Kampf“ als Geschenk von der Kommune in der geheiratet wurde. Es gibt aber auch Städte, die sich geweigert haben, Brautexemplare anzukaufen – die Stadt Leipzig zum Beispiel.

Was Wünschen Sie sich von politischer Seite für Ihre Arbeit?
Was ich mir von der Politik schon wünschen würde, wäre ein klares „Ja“. Die Politik muss begreifen, dass die Wissenschaft eine kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ braucht. Ständig wird in der Politik zu recht das berühmte „nie wieder“ gepredigt. Dann müssen Wissenschaftler aber auch an solchen Texten forschen dürfen. Wenn man eine wissenschaftliche Ausgabe zulässt, wird man diesen publizistischen Wildwuchs, der unter Umständen – spätesten in drei Jahren, wenn das Urheberrecht entfällt – kommen könnte, Einhalt gebieten. Wenn es eine solche  Ausgabe gibt, muss man auch nicht mehr auf die Schmuddel-Ausgaben am Bahnhofskiosk ausweichen.

Frau Dr. Raim, vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Edith Raim forscht am Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ)

 

Das Interview führte Timo Stein

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