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Steinbrück, Roth und Brüderle - Shitstormen bis einer heult

Eine verletzte Claudia Roth, ein gedemütigter Rainer Brüderle und ein weinender Peer Steinbrück. Ist das denn nötig? Dabei müsste doch, was Knigge schon 1788 wusste, auch heute gelten

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Da ist ein fremder Mann in einem weißen Hemd. Er ist groß und rund und macht eigentlich einen ganz netten Eindruck. Aber er ist stinksauer auf mich. Er schreibt in seinem Blog, dass ich zwar harmlos aussehe, aber spießig sei, neidisch, eine „geborene Gaga-Expertin.“

Gut, es gibt viel Schlimmeres im Netz über andere Menschen zu lesen, aber ich bin das nicht gewohnt. Nicht, dass mich wildfremde Mitbürger – und dieser Mann war nur einer von vielen – anranzen. Ich komm schon klar, danke. Aber hat meine Kollegin recht, wenn sie meint, dass ich mit so etwas in Zukunft rechnen müsse? Dass mich wildfremde Menschen anpöbeln? Dass sie persönlich werden, während es mir um die journalistisch-sachliche Auseinandersetzung geht?

Auslöser für den kleinen persönlichen, gegen mich gerichteten Shitstorm war ein Artikel zum Fall Mollath. Ich rüttelte – ganz vorsichtig – an den fest gefügten Feindbildern vieler deutscher Zeitungsleser, die in Mollath ein vollkommen unschuldiges Opfer der bayrischen Justiz sehen. Ich will da nicht noch einmal drauf eingehen, ich stehe zu dem, was ich recherchiert und aufgeschrieben habe. Zwischendurch habe ich eine Kolumne über Selbstbefriedigung geschrieben. Ich bin entspannt. [[nid:54800]]

Ausgehend von meiner Shitlüftchenerfahrung der vergangenen beiden Wochen habe ich mich aber einigen Menschen in dieser Zeit sehr nahe gefühlt: Da war Claudia Roth, die für eine Reise nach Istanbul zuerst einen Tränengasanschlag und dann ein Wutgewitter über Facebook, Twitter und alle möglichen anderen digitalen Kanäle über sich ergehen lassen musste, welches sicherlich schmerzhafter war als das Brennen in ihren Augen nach dem Angriff der türkischen Truppen.

Dann kam Rainer Brüderle. Der gereicht sicherlich nicht gerade als Identifikationsfigur mit seiner Altherrenart und den zweifelhaften Manieren. Aber ist das ein Grund, ihn für einen Treppensturz derart hämisch zur Sau zu machen, wie das gerade im Netz passierte? Zuguterletzt trat in dieser Woche des fröhlichen Politikertretens Peer Steinbrück auf einem SPD-Parteikonvent auf – mit seiner Angetrauten Gertrud. Trocken-spröde und liebevoll sprach die medienscheue Frau an seiner Seite über ihren Mann. Darüber, wie witzig er sein könne und was für ein Sturkopf  (Er: „Was bin ich?“) und dass er keine Amsel von einem Star unterscheiden könne. Dass er aber auch seine gesamte Freiheit, ja ihre gemeinsame Freizeit für diesen Kandidatenposten drangeben würde, weil er etwas bewegen wolle – und dafür werde er „nur verhauen“. Steinbrück ruckelte auf seinem Stuhl, presste die Unterlippe gegen die Oberlippe, trank einen Schluck und konnte dann doch nicht verhindern, dass sein Atem hörbar zitterte und ihm Tränen in die Augen stiegen als Moderatorin Bettina Böttinger ihn fragte: „Was ist es, wofür sie kämpfen?“

Was einer durchmacht, der über Monate im Fadenkreuz der Kritiker steht, der über soziale Netzwerke persönlich angegangen wird, das können sich Normalbürger wohl kaum ausmalen. Die Unmittelbarkeit, die Schnelligkeit und die Direktheit der modernen Kommunikation hat Schleusen geöffnet, die nicht mehr zu schließen sind. Um so wichtiger, endlich ein paar Dämme zu ziehen.

Aufschlussreich ist ein Blick in die Schrift „Über den Umgang mit Menschen“ von Adolf Freiherr Knigge aus dem Jahr 1788 in der er über den „Halbgebildeten“ schimpft. Der sei „so dreist, über Dinge zu entscheiden, wovon er nicht früher, als eine Stunde vorher, das erste Wort gelesen oder gehört hat, aber so zu entscheiden, dass selbst der anwesende bescheidene Gelehrte es nicht wagt, zu widersprechen, noch Fragen zu thun, die des Schwätzers Fahrzeug aufs Trockene werfen könnten.“ Und weiter: „Kurz der Satz, dass jedermann nicht mehr und nicht weniger gelte, als er sich selbst gelten macht, und dass Bescheidenheit genommen wird, ist die große Entdeckung für Abenteurer, Prahler, Windbeutel und seichte Köpfe, der sie ihr Fortkommen zu danken haben.“

Knigges Arbeit glich die eines Soziologen, der das Miteinander verschiedenster Menschengruppen zu ordnen und kategorisieren versuchte. Neben dem „Umgang mit Ärzten“, „mit Jähzornigen“ oder „mit Schurken“ fehlt uns in seinem Werk nun der Umgang mit Trollen, Bloggern und gehässigen Kommentatoren. Denn es sind die sozialen Normen, die im Netz ins Wanken geraten, die aus den Fugen sind. Ihre Entstehung verdanken sie Sitten, Gebräuchen, Verboten und Gesetzen, sie sollen unsere Werte schützen, das Zusammenleben in einer Gemeinschaft ermöglichen. Vor allem aber stehen soziale Normen permanent unter Druck, weiterhin als legitim anerkannt zu werden. Wer Normen permanent verletzt, der ändert sie, schwächt sie, beugt sie.[[nid:54800]]

Die Einhaltung von Normen basiert nicht auf unserer Vernunft. So kommen wir denn auch dem klassischen Shitstormer nicht bei. Wenn sich unflätige Kommentare ihre Bahn brechen und allein durch ihre schiere Masse an enormer Kraft gewinnen, ist es mit der Ratio nicht weit her. Normen werden wie ein pawlowscher Reflex trainiert. Statt dem Twitterunhold aber eins auf die Nase zu geben, müssen andere Sanktionsmöglichkeiten her. Und die sind im Netz einfach noch nicht stark genug: Hausverbot, Platzverweis, Kommentare löschen – das Netz ist groß, weit und frei. Mit Strafen jagt man da keinen kreischenden Affen vom Baum.

Trotzdem will ich fest daran glauben, dass dieser Prozess auch im Internet anläuft. Dass sich gutes Benehmen auch im Netz durchsetzt. Dass es nicht zum Grundgefühl im Internet gehören muss, dass wir uns beschimpfen lassen müssen. Spätestens wenn meine Kinder ihr erstes Profil in einem sozialen Netzwerk anlegen, wünschte ich mir ein bisschen mehr Contenance. Oder, wie Knigge schrieb: „Ohne sich zur Prahlerei und zu niederträchtigen Lügen hinabzulassen, soll man doch keine Gelegenheit verabsäumen, seine vorteilhaften Seite hervorzukehren“. Also bitte. Versuchen wir es damit.

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