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(picture alliance) Wie organisiert man eine Partei mit 27.000 Mitgliedern?

Bundesparteitag - Piraten suchen ihren Weg in die analoge Welt

Die Piraten werden älter, gesitteter und opportuner. Auf dem Bundesparteitag gelingt ihnen zudem ein wichtiger Schlag gegen rechts. Sind das Anzeichen dafür, dass nicht sie das System verändern, sondern das System sie?

„Wo geht’s denn hier zu den Piraten?“ Der Weißhaarige hat sich auf dem Parkplatz zwischen den Backsteinblöcken verlaufen. Hier, in den Holstenhallen in Neumünster, halten die Piraten an diesem Wochenende ihren Bundesparteitag ab. Der 54-Jährige hat auch seinen Sohn mitgebracht – und gesteht, dass er sich von ihm als Mitglied habe werben lassen, wegen des „neuen Politikstils“. Es ist ihr erster Parteitag.

So, wie die beiden über den Parkplatz irren, so sucht auch die Netzpartei noch ihren Weg in die analoge Welt. Irgendwie sind sie ja auch schon angekommen, in der Realpolitik: Nach ihren Erfolgen in Berlin und im Saarland sehen Umfragen die Piraten auch in zwei weitere Landtage einziehen – Schleswig-Holstein am 6. Mai und Nordrhein-Westfalen bei den Neuwahlen am 13. Mai.

Die Partei hat bald vier Landtage, über 150 Kommunalmandate, 27.000 Mitglieder – aber noch null Ahnung, wie die sich effizient organisieren soll.

Äußerlich gibt man sich bei Vorstandswahlen sehr bürokratisch. Alles ist geregelt, Geschäftsordnungspunkte, Satzungsänderungsanträge, viele zusammengesetzte Wörter. Sogar die Toilettenfrage: Wegen des ungleichen Geschlechterverhältnisses dürfen die Männer bei den Frauen aufs Klo gehen. Das hat eine Arbeitsgemeinschaft zur Gleichstellung beschlossen.

Aber wie löst man die wirklich wichtigen Fragen, die mit den Vorständen zusammenhängen? Wie wird der Streit zwischen Parteiführung und Fraktion gelöst? Wie sollen sich die Spitzenleute zu tagesaktuellen Fragen verhalten? Wie verwaltet man eine Organisation so groß wie eine Mercedes-Fabrik?

Als das Wahlergebnis verkündet wird, erheben sich die 1.500 Piraten in der Holstenhalle. Bernd Schlömer, der bisherige stellvertretende Vorsitzende, wird neuer Parteichef der Piraten. 66,6 Prozent Zustimmung, stehende Ovationen. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]

„Jetzt wird es 3.000 Prozent besser, mindestens.“ Christopher Lauer, Berliner Piraten-Abgeordneter in braun-kariertem Anzug, ist die Erleichterung anzusehen. Julia Schramm, die eigentlich selbst für den Spitzenposten kandidiert hatte, twittert, Schlömer sei „die richtige Wahl“. Auch der Berliner Fraktionschef Andreas Baum zeigt sich zufrieden.

Zuvor tobte zwischen der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und dem Parteivorstand ein regelrechter Kleinkrieg. Der Ex-Vorsitzende Sebastian Nerz, 29, hatte sich in einem persönlichen Brief über das brutale Mobbing beklagt. Der Fraktionschef reagierte gereizt, stellte das Schreiben ins Internet. Nerz war blamiert. Er wurde beschimpft und beleidigt, geriet in eine digitale Empörungswelle.

Schlömer, 41, gilt als ruhiger. Viele Piraten hoffen nun, dass er mehr Beständigkeit in die Partei einbringt, vielleicht Lebenserfahrung. Wenngleich Piraten das mit der Kontinuität nicht ganz so wichtig nehmen: Ein Antrag, die Amtszeit des Vorstandes von einem auf zwei Jahre zu verlängern, scheitert. Zu den älteren Aufsteigern gehört neben Schlömer auch der nordrhein-westfälische Spitzenkandidat Joachim Paul. Auch der 54-jährige ist seinem Sohn in die Partei gefolgt.

Seit Saarland sind rund 5.000 neue Mitglieder hinzugekommen, viele von ihnen sind älter als 40. „Die Menschen fragen uns, ob sie einen Internetanschluss brauchen, um bei uns mitzumachen“, erzählt Heiko Schulze, Generalsekretär der Piratenpartei Schleswig-Holstein. „Was natürlich schwierig ist, wenn sie kein E-Mail haben.“ Die Alten als junge Früchtchen, als politische Avantgarde, das hat es so auch noch nie gegeben.

Die Piratenpartei, dieses neue politische Gemüse, erlebt einen ungebremsten Wachstumsschub wie manch stark zerrende Pflanze im Gartenbeet. Der Pflanzkörper und die Früchte wuchern schneller, als die Wurzeln nachwachsen können. Manche würden sagen: Wenn sie nicht gestutzt oder gestützt wird, droht sie das Gleichgewicht zu verlieren.

Ein Bundestagsabgeordneter der etablierten Parteien formuliert es kürzlich so: „Entweder, die Piraten werden Teil des Systems, oder sie verschwinden.“ Der Berliner Fraktionsgeschäftsführer Martin Delius – der den Aufstieg der Piraten mit der NSDAP verglichen hatte und deswegen seine Kandidatur für den Parteivorstand zurückziehen musste – sieht das anders. Vielmehr würden die Piraten „das System“ verändern, es von „Hinterzimmer-Politik und mangelnder Transparenz“ befreien.

Weil sie schon jetzt zu viele sind, erlegen sich die Piraten zu Beginn des Parteitags erstmals Hürden für die Vorstandswahlen auf. So muss jeder Bewerber 20 Unterstützerunterschriften sammeln, und die Fragen für das sogenannte „Kandidatengrillen“ werden gelost. Sonst wäre das straffe Programm kaum in zwei Tagen zu schaffen.

Allein, das reicht noch nicht. „Wenn sie langfristig erfolgreich sein wollen, steht eine Professionalisierung dringend an“, sagt der Göttinger Piraten-Experte Alexander Hensel. „Aber sie haben bisher noch ein hohes Vertrauen in die Selbstorganisation.“

Was in Neumünster tatsächlich beim Thema Rechtsextremismus funktioniert. Mit überwältigender Mehrheit verabschieden die Piraten eine Erklärung gegen die Leugnung und Relativierung des Holocaust. Er sei „unbestreitbar Teil der Geschichte“.

Unter den Vorstandskandidaten ist auch Dietmar Moews, der im Vorfeld des Parteitags das „Weltjudentum“ in einem YouTube-Video kritisiert hatte. Als er spricht, verlassen Hunderte Piraten den Raum, die rote „Nein“-Stimmkarte in der Hand. Einer hält einen weißen Zettel vor die Kamera. #keinfußbreit steht da, drunter ein Pfeil nach rechts. Es ist eine Anspielung auf die parteiinterne Anti-Nazi-Kampagne. Der Boykott läuft sehr gesittet ab, man marschiert schweigend. Und er funktioniert. Moews erhält gerade mal 0,9 Prozent der Stimmen.

Kann sich das Piraten-Pflänzchen also von selbst stützen? Schützen gegen rechten Befall, ja. Aber was ist mit den täglichen Politikanforderungen, an denen es zerbrechen könnte?

Während Nerz, der am späten Abend auf den Stellvertreterposten (73 Prozent) gewählt wird, von der Basis befragt wird, erklärt er, warum sich ein Vorstand nicht politisch äußern sollte. „Derzeit haben wir noch kein System, wie verbindlich Beschlüsse zwischen den Parteitagen herbeigeführt werden könnten.“

Jörg Nickel, der den Piratenparteitag für die Grünen beobachtet, schüttelt den Kopf. Damit seien die Piraten politisch „nicht handlungsfähig“, sagt der netzpolitische Sprecher der Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein. „Man wählt doch einen Vorstand, damit er die eigenen Positionen vertritt, auch bei tagesaktuellen Fragen.“ Die Grünen hätten diese Evolution durchgemacht. „Das steht den Piraten noch bevor. Sie werden da weniger transparenter werden.“

Nickel hält es aber dennoch für unsinnig, die Piraten mit den Grünen zu vergleichen. „Die versprechen, dass es Schokolade regnet, stellen dann aber alles unter Finanzierungsvorbehalt“, schimpft er und ergänzt: „Politik sollte keine Fragen stellen, sondern Antworten geben.“

Einige Piraten, die bereits Parteiämter oder Mandate innehatten, haben Antworten, zumindest, was die Organisation betrifft. Bislang können sie sich aber nicht gegen den Schwarm durchsetzen. Delius sagt: „Eine solch große Gruppe braucht eine bezahlte Verwaltung.“ Das sieht auch der Berliner Parteichef Hartmut Semken so: Für Buchhaltung und IT seien professionelle Kräfte nötig, da „die Freiwilligen an ihre Grenzen kommen“.

Das musste etwa Marina Weisband erleben. Die politische Geschäftsführerin hatte angekündigt, sich aus „gesundheitlichen Gründen“ aus dem Vorstand zurückzuziehen – und gab in den vergangenen Wahlkampfwochen dennoch Vollgas. Bis es nicht mehr ging: Vor einer Talkshow mit Maybrit Illner brach sie zusammen, kam ins Krankenhaus. In einem Interview gestand sie einmal: „Durch den Erfolg der Piraten musste ich zuletzt 80 bis 90 anstatt 30 Stunden pro Woche arbeiten.“

Weisband, die zum Auftakt des Parteitags den Piraten „einen geilen Vorstand“ wünscht, entschuldigt sich später noch, nicht alles geschafft zu haben. Die repräsentativen Aufgaben hätten seit Oktober überhandgenommen.

Der frühere Piratenchef Jens Seipenbusch hätte gern dabei geholfen, so etwas in Zukunft zu verhindern. Er schlug einen Beirat vor, „um den Vorstand personell und arbeitstechnisch zu entlasten“. Martin Haase, der in der parteieigenen Abstimmungssoftware „Liquid Feedback“ als Superdelegierter unterwegs ist, hielt dagegen. Ein Beirat sei nur „ein weiteres Parteiorgan“, sagte der mächtige Basispirat. Der Antrag wurde abgelehnt.

Was macht das eigentlich mit Menschen, denen die Partei Meinungsäußerungen erschwert und sie permanenten Shitstorms aussetzt?

Julia Schramm hat Wochen vor dem Parteitag jeglichen Fernsehauftritt abgesagt. Interviews gab sie nicht, aus Angst, etwas Falsches zu sagen.

Der neue Parteichef wurde kurz vor seiner Wahl gefragt, ob er Auslandseinsätze deutscher Soldaten befürworte. Schlömer, der selbst im Verteidigungsministerium arbeitet, beantwortete diese Frage „positiv“. Er ergänzte: „Wenn die Piraten sagen, sie sind gegen Bundeswehreinsätze, dann vertrete ich das natürlich.“

In anderen Parteien würde man das wahrscheinlich „opportun“ nennen. Vielleicht ist das mit der Systemwerdung doch nicht so abwegig.

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