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Hannelore Kraft: Die Frau von nebenan

Trotz fehlender Mehrheit sitzt Hannelore Kraft als SPD-Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen nach den ersten 100 rot-grünen Regierungstagen erstaunlich fest im Sattel. Ihre Popularität ist gestiegen, Neuwahlen muss sie nicht fürchten.

Sie hat sich nie nach vorne gedrängt, sie wurde immer geholt, wenn Not am Mann war. Und Spitzenkandidatin wurde sie auch erst, als die Sache für die SPD aussichtslos erschien. Aber dann, als die Stimmen nach der Landtagswahl im Mai ausgezählt waren und ihr nur ein Mandat zur rot-grünen Mehrheit fehlte, verließ sie der Mut. Statt gleich das kalkulierbare Risiko einer von den Linken geduldeten Minderheitsregierung zu wagen, führte die 49-jährige Hannelore Kraft (Wahlslogan: „Wir können es besser“) einen seltsamen Eiertanz auf. Erst erklärte sie, man könne auch als Opposition eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung lahmlegen. Es gehe nicht um Posten. Man habe Zeit bis zum Herbst. Dann plötzlich konnte es gar nicht schnell genug gehen – ein merkwürdiger Zickzackkurs, der so gar nicht zu dem Bild der ruhigen, geradlinigen und zuverlässigen Frau passte, das man bisher von ihr hatte. Ob es die Grünen in NRW waren oder die Genossen in Berlin, die sie zum Jagen trugen, ist bis heute nicht ganz klar. Es spielt auch keine Rolle mehr. Denn seit dem merkwürdigen Stolperstart führt die attraktive blonde Frau das größte Bundesland der Republik zusammen mit der Grünen-Chefin Sylvia Löhrmann so geräuschlos und unaufgeregt, als habe sie nie etwas anderes gemacht. In der Koalition gibt es keine machohaften Muskelspiele, keine anstrengenden Kräche wie in den rot-grünen Regierungsjahren 1995 bis 2005. Die beiden Frauen bilden ein harmonisches Tandem. Und ihre Regierungsbilanz nach den ersten 100 Tagen ist besser als erwartet: Noch keine Abstimmung verloren, die in NRW als besonders unberechenbar geltende Linke einstweilen gezähmt, CDU und FDP immer noch mit sich selbst beschäftigt. Hannelore Kraft kommt aus Mülheim-Dümpten. Der Vater war Schuhmacher, die Mutter Schaffnerin. In der weitverzweigten Ruhrgebietsfamilie war die Tochter das erste Mädchen, das auf das Gymnasium ging und dann auch noch studierte. „Bei uns gab es wenig Bücher, wenig Kunst und Kultur. Man würde meine Familie heute bildungsfern nennen.“ In ihrer Klasse mit 40 Schülern saßen, so schätzt sie, höchstens sechs Arbeiterkinder. Und die hatten es schwer, bei Mitschülern und Lehrern. Auch das erklärt Hannelore Krafts energischen Einsatz für eine andere Schule, in der Kinder nicht schon mit zehn Jahren sortiert werden in Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten. Als die Abiturientin eine Lehrstelle suchte, hagelte es über 50 Absagen, bevor es mit der Banklehre klappte. Sie kann sich also hineinversetzen in die Frustrationen der „Generation Praktikum“. Ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften finanzierte sie sich als Aushilfssekretärin: „Studiengebühren hätte ich nicht mehr schultern können.“ Das alles macht sie glaubwürdig in ihrem Engagement für mehr Chancengerechtigkeit, also Gebührenfreiheit bei Kindergärten, längeres gemeinsames Lernen an den Schulen und die Abschaffung der Studiengebühren. Die Politik kam relativ spät in ihr Leben. Studium und Nebenjobs, der Sport, die Familie mit kleinem Kind und der berufliche Aufstieg ließen keine Zeit für eine Juso-Karriere oder die übliche Ochsentour mit Hinterzimmerkungeleien. In die SPD trat sie erst 1994 ein. Aber dann ging es Schlag auf Schlag: 2000 wurde sie in den Landtag gewählt. Ein Jahr später – der Ministerpräsident hieß Wolfgang Clement – war sie schon Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Ende 2002 Ministerin für Wissenschaft und Forschung im Kabinett von Peer Steinbrück. 2005 nach der spektakulär verlorenen Landtagswahl wurde sie Fraktions- und bald auch Landesvorsitzende der SPD. Jetzt muss sie ein Land voller Probleme regieren. Die bisherigen Beschlüsse ihres Kabinetts kosten Geld, viel Geld, und die Kassen sind leer. Und doch kämpft sie gegen Hungerlöhne, die es auch im öffentlichen Dienst gibt. Gegen die Agenda 2010 war sie schon, als sich kaum ein Genosse aus der Deckung wagte. Sie wird bald erklären müssen, wo sie sparen will. Der Haushalt wird die Nagelprobe, denn vom Sparen halten die Linken, die sie braucht zur Verabschiedung des Etats, nur wenig. CDU und FDP werden ihr nicht helfen. In ihrem Privatleben geht es offenbar genauso unaufgeregt und unspektakulär zu wie in ihrer Koalition. Ihren Mann, Udo Kraft, einen Elektrikermeister, kennt sie schon aus Kindheitstagen. Verliebt hat sie sich in ihn erst 1992, dann aber „Hals über Kopf“. Ein Jahr später war Sohn Jan auf der Welt, der sie heute, ebenso wie der Ehemann, um mehrere Haupteslängen überragt – man schmunzelt, wenn man die Landesmutter zwischen ihren baumlangen Männern stehen sieht. Die Leute an Rhein und Ruhr mögen das. Sie sieht aus wie eine von ihnen – wie die Frau von nebenan. Dass auch sie – wie einst Johannes Rau – die Herzen der Menschen erreichen kann, hat sie bald nach ihrem Amtsantritt bewiesen. Nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg hielt sie die Trauerrede. Sie fand den richtigen Ton, die Menschen fühlten sich verstanden. Vielleicht auch deshalb, weil eine Frau zu ihnen sprach, die selbst um ihren Sohn hatte bangen müssen, der ebenfalls auf der Loveparade gewesen war. Es waren qualvolle Stunden, bis die Nachricht kam, dass Jan am Leben und unverletzt war. Ihre Popularität steigt. Nach den neuesten Umfragen liegen SPD und Grüne vorn. Sie muss keine Eiertänze mehr aufführen. „Vor Neuwahlen“, sagt sie, „habe ich keine Angst.“

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