Hört auf zu psychologisieren!

Deutschlands Intellektuelle beschäftigen sich lieber mit Nationalpsychologie oder mit sich selbst als mit politisch-moralischen Problemen. Doch Demokratien brauchen keine Kollektivtherapien, sondern gute Argumente.

Junge Intellektuelle haben es nicht leicht in Deutschland. Noch immer bestimmen die Giganten der alten Bundesrepublik wie Habermas und Walser das Geschehen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche der Jungen ihnen am liebsten zurufen würden: „Gebt uns end- lich unseren Platz an der Sonne!“ Aber wie einst Max Weber nach der ersten deutschen Nationalstaatsgründung haben sie gleichzeitig Angst, zu Epigonen gestempelt zu werden. Es ist vielleicht diese Unsicherheit, die erklärt, warum manch jüngere Denker so oft in auftrumpfendem, wenn nicht gar schneidendem Ton eine Art Selbstvermarktung als neue Intellektuellen-Generation betreiben. Statt der üblichen generationellen Selbstbespiegelung – „wer sind wir?“, „was wollen wir?“, „wie erringen wir diskursive Macht?“ – lohnt es sich jedoch, noch einmal die grundsätzliche Frage zu stellen: Welche Rolle können Intellektuelle in einer hochkomplexen liberalen Demokratie überhaupt spielen? Ganz allgemein gilt: Intellektuelle haben ein Problem. Oder zumindest sollten sie ein Problem haben und zwar vorzugsweise ein moralisches. Denn ihre Nützlichkeit für die Demokratie besteht darin, die Bruchstelle zwischen Politik und Moral zu beobachten und, wenn nötig, den Schmerz zu artikulieren, den ein Bruch verursacht. Die Intellektuellen sind zwar nicht die Chirurgen, sprich Experten, welche in der Lage sind, den Bruch zu richten – aber sie sind idealerweise Diagnostiker. Auch deutsche Intellektuelle, ob jung oder alt, sehen sich oft in einer quasi-ärztlichen Rolle. Nur verstehen sie sich vor allem als Nationalpsychologen und Vaterlandstherapeuten, die sich um den deutschen Seelenzustand sorgen. Die Tendenz, politische Fragen zu psychologisieren, ist ein unseliges Erbe der alten Bundesrepublik. Besonders in den achtziger Jahren begannen die Intellektuellen, eine diskursive Endlosschleife um das nationale (oder halbnationale) Ego zu ziehen. Die „unruhige“, „ruhelose“ oder gar „gestörte“ Nation – solche Diagnosen fand man besonders bei eher rechten Intellektuellen. Aber auch die Linke, bei aller Aversion gegen das Nationalthema an sich, ließ sich vom Jargon der Nationalpsychologie (oder -parapsychologie) anstecken. Günter Grass erlegte den Deutschen ein Nationalstaatsverbot auf, weil der deutsche Volkscharakter immer noch höchst verdächtig war, die Neuen Rechten sehnten sich nach einer „selbstbewussten Nation“ – und die Extreme berührten sich im Hang zur Psychologisierung. Anstatt nun im gewohnten und vor allem auch sehr bequemen Jargon der Nationalpsychologie weiterzureden – bei dem eigentlich jeder alles behaupten und niemand, außer vielleicht mit Umfragewerten, etwas beweisen kann – hätte man vielleicht ein anderes Erbe der alten Bundesrepublik erwerben sollen, um es zu besitzen. Die Frage, bei der Intellektuelle eine herausragende und vor allem eine fast durchweg positive Rolle gespielt haben, war die nach dem Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Sicherlich spielte dabei auch Psychologie eine Rolle. In erster Linie war es aber eine moralische Frage, inwieweit man sich der Vergangenheit stellen oder sie beschweigen sollte. Und bei einer solchen moralischen Fragestellung, die weder Expertenwissen noch einen privilegierten Zugang zur deutschen Volksseele erforderte, konnten die Intellektuellen dem Gemeinwesen als Warner und sogar Wächter von Nutzen sein. Es ist wohl eine Geschichtsklitterung, wenn man der Frankfurter Schule den Gründungsakt des Geisteslebens der alten Bundesrepublik zuschreibt. Aber richtig ist doch, dass Adornos Frage „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ immer wieder zum Ausgangspunkt einer kollektiven Selbstbefragung wurde. Die Warnungen vor Verdrängen und Vergessen wurden gewissermassen zu self-negating prophecies für das demokratische Gemeinwesen. Intellektuelle schufen eine „Kultur des Verdachts“, in der man „deutschen Kontinuitäten“ nachspürte, aber sich auch für eine gewisse geistige Hygiene in der Öffentlichkeit verantwortlich fühlte. Die politisch-paranoiden Exzesse dieser Kultur des Verdachts sind bekannt und in den vergangenen Jahren oft kritisiert worden. Was hingegen aus dem Blick geraten ist, wird erst wieder aus der Langzeitperspektive ersichtlich: Die provinzielle Bonner Republik, angetreten mit dem Staatsziel, eine Wiederholung der Vergangenheit zu vermeiden, war zwar keine funkelnde „Republik des Geistes“, wenn man sie wie Klaus Harpprecht in Cicero mit Weimar oder gar dem Paris des achtzehnten Jahrhunderts vergleicht. Aber genau in der Verfestigung einer Art skeptischer Vermeidungsrepublik, die eben um jeden Preis nicht Weimar sein wollte, bestand eine wichtige Leistung der Intellektuellen. Die meisten Kollektivpsychologen hatten von jeher ein Problem mit dieser de facto linken Leitkultur. In ihren Augen erschien sie als permanente nationale Selbstkasteiung, die dem deutschen Volk noch den letzten Rest Selbstbewusstsein rauben würde. Doch die Geschichte hielt für die Nationaltherapeuten eine Überraschung parat: Es war gerade der demokratische Wille zum Nicht-Vergessen, der Deutschland in den Augen anderer Länder als zuverlässig liberal und anti-nationalistisch erscheinen ließ. Auch wenn sich 1990 viele Linke mit aller Macht gegen die Vereinigung sträubten – es war paradoxerweise eher der langfristige Beitrag linker als rechter Intellektueller in der alten Bundesrepublik, welcher die Vereinigung überhaupt denkbar werden ließ. Das Geheimnis der Kultur des Verdachts, so ist man zu sagen versucht, war die Erlösung vom Verdacht von Seiten anderer Nationen. Oder, noch drastischer formuliert: Das Geheimnis nationaler Erinnerung war die Wiedergewinnung nationaler Souveränität. Nur ein Deutschland, das sich mehr oder weniger postnational verstand, konnte einen Nationalstaat erwerben, um ihn zu besitzen. Dies soll kein Argument für eine immer weitere Verfeinerung der Praktiken von Vergangeheitsbewältigung oder gar eine Exportoffensive in Sachen Erinnerungskultur sein. Zwar haben sich einige Enkel Adornos nicht entblödet, deutsche Erinnerungswertarbeit zum Vorbild für Osteuropa und Südafrika zu erklären (und dies im Zweifelsfalle ohne jede Kenntnis lokaler Umstände) – aber am deutschen postnationalen Wesen wird die Welt nicht genesen und vor allem auch nicht genesen wollen. Im Gegenteil: Es ist wichtig, die intellektuellen Traditionsstränge der Bonner Republik nicht einfach gedankenlos weiterzuführen. Gerade was von der Kultur des Verdachts noch übrig ist – in der Diskussion um Vertreibungen oder Bombenkrieg –, bietet eine Art falsche Sicherheit. Zur Vergangenheit hat inzwischen auf die eine oder andere Weise fast jeder eine wohlfeile Meinung. Nur, so paradox das klingen mag: Die Zukunft hat die Vergangenheit längst eingeholt. Die eigentliche – und vielleicht nicht besonders aufregende – Lektion der Bonner Republik für junge Intellektuelle ist denn auch, dass sie sich ernsthaft an einem moralisch-politischen Problem abarbeiten müssen, anstatt entweder alte Muster fortzuführen oder mit nassforschen Selbstermächtigungsparolen aufzutrumpfen. Gleichzeitig relativiert diese historische Perspektive die Leistungen der Giganten der Bonner Republik. Wenn man der hier vorgeschlagenen Berufsbeschreibung für Intellektuelle folgt, haben die Denker der alten Bundesrepublik geradezu ideale Arbeitsbedingungen vorgefunden. Der Umgang mit der Vergangenheit erforderte kaum Expertenwissen, sondern gerade die intellektuellen Primärtugenden, welche der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer als Mut, Mitleid und Augenmaß beschrieben hat. Dass die Intellektuellen diesem Ideal nicht immer gerecht wurden, versteht sich von selbst – aber dass sie sich zäh und ernsthaft an moralischen Problemen abgearbeitet haben, wird einem Habermas, Grass oder Walser niemand bestreiten. Hier wird man einwerfen, die Beschäftigung der Intellektuellen mit Moral leiste doch nur dem unsäglichen „Gutmenschentum“ Vorschub, das vor allem konvertierte Achtundsechziger in den neunziger Jahren zu Recht diskreditiert hätten. Das öffentliche Moralisieren, möglichst noch aus der machtgeschützten westdeutschen Innerlichkeit auf die Welt projiziert – ist das nicht die eigentlich deutsche Krankheit, die durch die ganze Nachkriegszeit hindurch verschleppt wurde? Als Nationalpsychologe wäre man nun versucht, ein ehrwürdiges Klischee über „die Deutschen“ zu bemühen. Denn viele Intellektuelle, so scheint es, sind von einem Extrem ins andere verfallen. Ging früher nichts, was gewaltsamer war als Gandhi, setzt man sich heute schon dem Verdacht der Gesinnungsethik aus, wenn man nicht mit Carl Schmitt die Unabhängigkeit der Politik von aller Moral dekretiert. Doch oft genug sind pazifistische Irrealpolitik und gewollt martialische Realpolitik zwei Kehrseiten derselben Medaille. Nicht zuletzt sollte den politischen Hyper-Realos zu denken geben, dass Intellektuelle in den angelsächsischen Ländern, mit denen man sich so gern vergleicht, auch viel eher eine vorsichtig abwägende Verantwortungsethik befürworten, die zum Teil dem „Gutmenschentum“ näher kommt als man denkt. Gleichzeitig gilt: Moralisches Engagement kann sich nicht in reiner Empörung erschöpfen, sondern muss – horribile dictu – auch theoriegeleitet sein. Mit anderen Worten: Intellektuelle Tugenden wie Mut und Augenmaß entfalten sich vor dem Hintergrund einer distanzierten, aber eben auch dezidierten Sicht auf die Welt (denn nichts anderes heißt ja „Theorie“). Hier wird man ebenfalls einwerfen, diese Theorielastigkeit sei typisch deutsch. Dabei zeigt ein tiefenschärferer Vergleich mit angelsächsischen politischen Kulturen auch, dass ohne Theorie eigentlich gar nichts geht. Denn anders als aus der Ferne oft wahrgenommen, erschöpfen sich die Interventionen vieler Intellektueller in England und den Vereinigten Staaten eben nicht in einem verschwommenen „Pragmatismus“. Man denke zum Beispiel an Michael Ignatieff, dessen Tageskommentare zur internationalen Politik auf dem Fundament des skeptischen Liberalismus des Philosophen Isaiah Berlin stehen, einem Liberalismus also, der Politik vor allem durch tragische Entscheidungssituationen charakterisiert sieht. Moralisches Engagement hat allerdings nicht nur seinen Platz – es hat im Zweifelsfalle auch seinen Preis: den Preis der Möglichkeit, zu sehr zu vereinfachen, zu projizieren und vor allem: sich öffentlich zu irren. Eine eigentümliche Mischung aus Angst und Arroganz scheint viele in Deutschland davon abzuhalten, dieses Risiko einzugehen: Angst vor dem öffentlichen Irrtum, vor einer Urteilsbildung, die nicht automatisch durch Analogieschlüsse mit Auschwitz und anderen deutschen Vergangenheiten abgesichert ist; und Arroganz, weil man viele Fragen überhaupt nur mit gründlicher deutscher Wissenschaftlichkeit anzugehen bereit ist. Auch hier ist vielleicht ein Hinweis auf den schon erwähnten Michael Ignatieff erhellend: Ignatieff hat sich im vergangenen Jahr – vor allem aus Mitleid, so möchte man vermuten – für den Irakkrieg ausgesprochen, weil ihm die Präzedenzfälle Bosnien und Kosovo vor Augen standen. Ein Jahr später hatte er wiederum den Mut, in der New York Times öffentlich einzugestehen, dass die amerikanische Regierung wohl die Menschenrechtsproblematik – und damit auch ihn – benutzt habe, um Zustimmung für einen Krieg mit ganz anderen Zielen zu gewinnen. Auch dieses Eingeständnis wurde wohl erst möglich vor dem Hintergrund eines tragischen Liberalismus, der zumindest theoretisch zu Selbstzweifeln und Selbstkorrekturen ermutigt. Das deutsche Manko in dieser Art von Engagement wird besonders in einem Bereich deutlich: Es fehlt an einer international ausgerichteten, politisch informierten, aber auch moralisch engagierten Diskussion. Sicherlich gab es in den vergangenen Jahren unzählige Konferenzen mit Spezialisten zu Deutschlands fast schon sprichwörtlicher neuer Rolle in der Welt. Aber Intellektuelle sind im Umgang mit internationalen Fragen auffallend unsicher. Eben hier verhält es sich anders in post-imperialen Mächten wie Frankreich und England. Eine moralisch flammende Medienkampagne für Bosnien, wie sie der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy in den neunziger Jahren unternahm, würde in der Bundesrepublik wohl als Gutmenschentum belächelt. Und eine moralisch engagierte Geschichtsschreibung, die mit dem moralischen Versagen der eigenen Regierung im ehemaligen Jugoslawien ins Gericht geht, wie sie in England – aus durchaus konservativer Perspektive – Noel Malcolm und Brendan Simms betreiben, würde leicht dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit verfallen. Ebenso undenkbar erscheint ein deutscher Paul Berman, der, ohne allzu breite islamwissenschaftliche Rückendeckung, einen Liberalismus fordert, der dem Terror gewachsen ist und der sich darob in Deutschland eines „kulturkämpferischen Tons“ schelten lassen musste. In Deutschland hat der „Kampf gegen den Terror“ zwar kluge Analysten gefunden, aber keine moralischen Advokaten vom Schlage eines Berman – ganz so, als ginge dieses Thema die Deutschen nicht wirklich an. Dies ist umso befremdlicher, als dass die bundesdeutschen Erfahrungen mit der RAF – und der Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Zähmung der Exekutive – hier durchaus relevant sind. Was amerikanische Intellektuelle sich im Moment erst mühsam erarbeiten – liberale Theorien zum Ausnahmezustand oder zur Kontrolle der Regierung durch Parlamentsausschüsse statt durch Gerichte, welche im Zweifelsfalle der Exekutive den Rücken stärken – das haben Ernst-Wolfgang Böckenförde und andere schon in den siebziger Jahren gewusst. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: das notorisch schwierige und für viele notorisch langweilige Thema Europa. Dabei geht es gerade hier ans Grundsätzliche: Was rechtfertigt den europäischen Einigungsprozess eigentlich noch, ob nun im Sinne von Vertiefung oder Erweiterung? Und wie soll man zu dem viel beklagten „demokratischen Defizit“ stehen, auf einem Kontinent, der die Demokratie erfunden hat? Demokratie, das wird in diesem Zusammenhang oft ausgeblendet, ist nicht automatisch gleich Legitimität. Aber damit die EU in den Augen ihrer Bürger legitim ist, muss sie zumindest ein Mindestmaß reflektierter Akzeptanz finden. Ein elementares „Recht auf Rechtfertigung“, von dem der politische Philosoph Rainer Forst gesprochen hat, darf man den Europäern nicht nehmen, will man sie nicht vollends wie unmündige Kinder behandeln, die im Zweifelsfalle (sprich bei Abstimmungen) wieder nach dem verbotenen Spielzeug Populismus grabschen, um ihre wohlmeinenden Eltern zu ärgern. Was aber taugt als fundamentale Rechtfertigung des Einigungsprozess im Jahre 2004? Kann man wirklich noch mit der Kohlschen Rhetorik von „Europa oder Krieg“ kommen? Ganz so absurd ist dieser Gedanke nicht, wenn man sich „Europäisierung“ als eine Art Liberalisierungsprozess vorstellt, der es ehemals undemokratischen Ländern erlaubt, sich freiwillig an supranationale Normen und eine freiheitliche Wirtschaftsordnung zu fesseln. Nur spräche dieser Gedanke vor allem für eine stetige Erweiterung der EU nach Süden und Osten und vor allem nach Südosten. Auch die Aufnahme der Türkei ließe sich in diesem Sinne rechtfertigen. Die EU als transnationales Liberalisierunsprojekt ist aber nur eine mögliche Rechtfertigung der europäischen Vereinigung. Intellektuelle wie Jürgen Habermas sprechen sich mehr oder weniger offen für eine Art Euro-Staatsbildung – oder Euro-Nationbuilding – aus. Zwar mag das keiner so ganz zugeben – aber diese europäische Nationswerdung liefe im Zweifelsfalle nach dem klassischen Schema aus dem neunzehnten Jahrhundert ab: europäisierte Bildung, vor allem europäisch ausgerichtete Geschichtsbücher, eine genuin europäische Armee und, nicht zuletzt, eine wirklich überzeugende europäische politische Symbolik, welche das zum Beispiel von Rem Koolhaas angemahnte „ikonografische Defizit“ der EU ausgleichen würde. Nun ist es nicht ohne Ironie, dass viele der Intellektuellen, welche den (nun endlich normativ gezähmten) europäischen Nationalstaat verteufelt haben, sich jetzt in den Prozess einer europäischen Nationalstaatsbildung mit mehr als ungewissem Ausgang stürzen wollen. Im neunzehnten Jahrhundert mag man mit Sprachunterricht, Bürgerkunde und Wehrdienst „Bauern zu Franzosen“ gemacht haben, wie der Titel eines einflussreichen Buches über die Nationalstaatsbildung im Hexagon lautet. Aber wo finden sich heutzutage die provinziellen Analphabeten, welche freiwillig oder unfreiwillig „europäisiert“ werden müssten? Ob nun Europa als liberales Friedensprojekt für den Kontinent oder als potenzielle „Nation Europa“, die als Global Power Player auftreten kann – in diesem Spektrum bieten sich unzählige Möglichkeiten genuiner geistiger Auseinandersetzung. Hier könnten Intellektuelle, jenseits der Sonntagsrhetorik der Politiker und des EU-Jargons der Politikwissenschaftler, den Bürgern grundsätzliche Optionen aufzeigen und ihre politisch-moralischen Vor- und Nachteile diskutieren. In Deutschland interessiert aber vorwiegend Deutschland – und es ist bedauerlich, dass junge Intellektuelle so stark auf die „Reformdebatte“ fixiert sind. Denn auch diese Debatte wird inzwischen vorzugsweise wieder im Jargon des selbstbezogenen deutschen Psychologismus geführt. Man diagnostiziert eine „German Angst“ vor Veränderung, will den Bürgern „Zuversicht“ einflößen oder bemüht einen neuen „feel-good“-Patriotismus der Zukunftsgestaltung. Aber Demokratien sind keine überdimensionierten Therapiegruppen, in denen man sich gegenseitig Mut zuspricht, um von der Sozialleistungssucht loszukommen. Demokratien sind vielmehr politische Gemeinschaften, in denen offen und vernünftig darüber diskutiert wird, was wem warum zugemutet werden darf. Letztlich verrät der psychologische Blick auf politische Probleme schlicht eine gewisse Denkfaulheit: Es ist im Zweifelsfalle immer einfacher, über deutsche „Identität“ zu spekulieren, als zum Beispiel deutsche Interessen zu definieren. Identitätsspekulationen müssen sich nur selten bei einem Rendezvous mit der politischen Realität bewähren – bei neu konzipierten Ideen, Interessen oder gar Institutionen ist dies anders. Junge Intellektuelle täten also gut daran, sich nicht als Nationalsozialtherapeuten zu gerieren oder ihre Energien in endlosen generationellen „Metadiskursen“ zu verbrauchen. Sie sollten über Grenzen und ans Grundsätzliche denken. Fragen wie „wer sind wir?“ und „wohin wollen wir?“ beantworten sich von selbst, wenn man sich erst einmal mutig auf moralisch-politische Probleme eingelassen hat. Dieses langsame Bohren dicker Bretter mit intellektueller Leidenschaft und politischem Augenmaß ist der eigentliche Gradmesser eines für die Demokratie nützlichen intellektuellen Engagements. Jan-Werner Müller ist Fellow am St. Antony’s College, Oxford. Zu seinen Publikationen gehören „Another Country: German Intellectuals, Unification and National Identity“ (Yale University Press) sowie „A Dangerous Mind: Carl Schmitt in Post-War European Thought“ (ebd.)

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