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(picture alliance) Trotz der Eurokrise: Es gibt keine Alternative zur EU

Europa und der Euro - Der Nationalstaat hat ausgedient

In Leitartikeln wird wieder das Misstrauen zwischen den europäischen Völkern beschworen. In Wahrheit sind es die Intellektuellen und die Medien, die Zerrbilder verbreiten. Die EU ist die Zukunft, und die Fiskalunion ist ein richtiger und wichtiger Schritt zur politischen Union. Trotz vieler Bedenken werden wir auf nationale Souveränitätsrechte verzichten müssen

Die vielleicht bedrückendste Begleiterscheinung der Eurokrise, schrieb Nikolas Busse seufzend in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sei „die Renaissance des nationalen Vorurteils“. Hemmungslos schlügen sich von neuem „die europäischen Völker charakterliche Zerrbilder um die Ohren“.

Sind es wirklich die „Völker“, die verbal aufeinanderschlagen? Doch wohl eher die Trommler in den Medien und die Gassenschreier unter den Politikern. Auch in Griechenland. Nana Mouskouri, die Sängerin, die das Land ihrer Herkunft fünf Jahre lang im Europäischen Parlament vertrat, bemerkte nüchtern, das Verhältnis zwischen Griechen und Deutschen sei „getrübt, aber nicht grundsätzlich gefährdet“: Zu fest sei die Vertrauensbasis, die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen sei – vor allem, das muss hinzugefügt werden, durch die Integrationsfähigkeit der griechischen Arbeiter in der Bundesrepublik.

Dennoch, die gekränkten hellenischen Seelen brauchten angesichts des heraufziehenden Elends veritable Sündenböcke. Die Schulmeister in Berlin boten sich dafür an. Die Einpeitscher der Bild-Redaktion stießen in Athen auf Amtsbrüder von ebenbürtiger Niveaulosigkeit. Mag sein, dass die Hetzer sich selber glauben.

Einige – unter ihnen der Chefredakteur von Bild – verfügen über den intelligenten Zynismus, den es braucht, um die erwünschten Hysterien künstlich aufschäumen zu lassen. Die ungesühnten deutschen Kriegsverbrechen, von denen Griechenland heimgesucht wurde, scheren sie nicht.

Vielleicht schürte das Gefühl der Erniedrigung in der Tat so etwas wie einen griechischen Volkszorn. Aber sonst? In Frankreich machten sich die Karikaturisten lustig über „Merkozy“, das seltsame Paar, und sie stülpten flugs der Kanzlerin nach dem vorlauten Vergleich des sozialistischen Hans Dampf Arnaud Montebourg eine Bismarck’sche Pickelhaube aufs Haupt.

Der sozialistische Kandidat fürs Élysée, der Parteibürokrat François Hollande, versicherte eifrig, er werde, wenn gewählt, der Kanzlerin unverzüglich seine Aufwartung machen, aber seine Maulhelden vom linken Flügel ließ er ungeschoren. Das minderte den Respekt seiner Landsleute vor der formidablen Pastorentochter kaum. Freilich, den französischen Bürgern entging auch nicht, dass sich manche Herren in Berlin angesichts der Konjunktur zu heftig in die deutsche Brust warfen.

[gallery:Europäische Einigung]

Die alte Furcht, in böser Eintracht geschürt von der Ultrarechten und der extremen Linken, scheint sich wieder zu regen. Mitte März wünschten nach einer Umfrage von Le Monde nur noch 23 Prozent der Franzosen ein engeres Zusammenwachsen des „couple franco-allemand“.

Zum anderen: Nach einer breiten und intensiven Befragung, die von der deutschen Botschaft in Auftrag gegeben wurde, fiel nur 5 Prozent der Franzosen beim Stichwort „Deutschland“ zuerst der Nazismus ein, unter ihnen – neben den Familien der Opfer – keine geringe Zahl der Intellektuellen, die nicht nur Gefäße der Aufklärung, sondern auch der Ressentiments sind, mit der Mobilisierung von Vorurteilen rasch zur Hand.

Für die Mehrzahl der französischen Bürger ist die Zusammenarbeit mit den Deutschen längst selbstverständlich geworden. Dennoch, Merkels Angebot, für Sarkozy in den Wahlkampf zu ziehen, kam zur Unzeit: Die Nerven liegen, angesichts der Notwendigkeit schmerzhafter Reformen, allzu blank.

Warum der Nationalstaat nach französischem Muster keine Zukunft hat

Also trifft es zu, dass „die Europapolitik die Beharrungskraft des Nationalgedankens unterschätzte“? Charles de Gaulle hat den Franzosen einst die Einsicht in die Köpfe gewalkt, dass die nationalen Interessen Frankreichs mit dem Erfolg Europas identisch seien (und vice versa).

Im Trommelfeuer der populistischen Phrasen von der Notwendigkeit protektionistischen Selbstschutzes und der Rückeroberung der nationalen Souveränität mögen Monsieur und Madame Dupont die Lehren des Generalpräsidenten für den Augenblick vergessen haben. Nach den Wahlen werden sie sich erinnern, dass der Salto rückwärts in die Geschichte katastrophale Konsequenzen hätte, nicht nur für Frankreich.

Unter dem Einfluss deutscher Genossen, die ihm durch Sigmar Gabriel ihr Wohlwollen zusicherten, hat der sozialistische Kandidat seine Forderung einer Neuverhandlung der Stabilitätsklauseln im Lissabon-Vertrag ein wenig moderiert. Die hochfahrende Phrase, Frankreich werde seinen Haushalt niemals einer Kontrolle durch die Europäische Kommission unterwerfen, nahm er allerdings nicht zurück.

Sie fügt sich ins traditionelle Bild vermeintlicher altjakobinischer Tempelwächter der Souveränität. Hollande ist ein unbekehrter Nationaletatist – wie der einstige Premierminister Lionel Jospin. Die bekennenden Europäer der französischen Linken sind seit dem Tod Mitterrands verwaist (der in Wirklichkeit kein Sozialist war – Ideologien kümmerten ihn nicht).

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Jacques Delors, der große Präsident der Kommission (nach seiner Prägung eher ein Christdemokrat) hat sein Europäertum leider nicht der Tochter Martine Aubry vererbt, und um Michel Rocard, den bedeutendsten Premierminister der Fünften Republik, ist es still geworden. Jack Lang, einst der strahlende Kulturminister, kämpft ums politische Überleben. Der steinreiche Laurent Fabius, der die europäische Verfassung zu Fall gebracht hat, spinnt ungeschoren seine Intrigen.

Freilich haben sich Frankreichs Präsidenten, gleichviel woher sie kamen, nicht anders als die deutschen Bundeskanzler ausnahmslos dem europäischen Gebot der Geschichte und der Notwendigkeit der französisch-deutschen Zusammenarbeit gebeugt. Das hieß aber auch: Wer immer die Regierungsgeschäfte lenkte, akzeptierte die europäische „Bündelung der Souveränitätsrechte“ – ein griffiger und nicht einmal falscher Tarnbegriff für den Verzicht auf Grundelemente der „nationalen Unabhängigkeit“, die es in Wahrheit längst nicht mehr gibt.

Man kann getrost fragen, ob die Welt realiter „noch immer im Zeitalter des Nationalstaates“ lebt, wie in der FAZ zu lesen war. Die schwankenden Gefühlsverhältnisse in Ost- und Südosteuropa scheinen die These zu bestätigen, dass den Völkern nach der Befreiung aus dem sowjetischen Imperium die Renaissance der freien Nation wichtiger war als die europäische Pflicht, kaum gewonnene Souveränitäten unverzüglich wieder preiszugeben.

Kann der Nationalstaat nach französischem Muster noch ein tragendes Konzept für die Welt der nachkolonialistischen Epoche sein? Zweifel sind erlaubt. Es ist fraglich, ob er auch nur dem Mutterland Frankreich gut bekommen ist. Die napoleonische Diktatur, die mörderischen Kriege des Korsen, drei Revolutionen, insgesamt mehr als 20 Verfassungen stehen in der Bilanz.

Die Provinzen wurden seit ­Ludwig XIV der Beutegier des Pariser Zentralismus’ überlassen. Erst jetzt, eine Folge der inneren Europäisierung, beginnt Frankreich, den Reichtum seiner regionalen Kulturen wiederzuentdecken. Ohne Zweifel schuf die Union dafür die Voraussetzung. Schon lange redet niemand mehr von der „Grande Nation“. Frankreich glaubt keineswegs „verzweifelt“ an diesen Mythos, wie der Zeit-Autor Thomas E. Schmidt verkündet.

Es ist der deutsche Journalismus, der auf das pathetische Klischee nicht verzichten will. Denn die jakobinisch geprägte Republik wandelt sich, nach einer gescheiten Beobachtung von Jean-Marie Colombani, des einstigen Chefredakteurs von Le Monde, allmählich zwar, aber stetig in ein „girondistisches“, liberal-libertäres und föderalistisches Staatswesen.

Und der Nationalstaat Deutschland? Bismarck brauchte drei Kriege, um sein kleindeutsches, großpreußisches Reich zusammenzuhämmern. Auch ohne Österreich hat seine schiere Masse das europäische Gleichgewicht chronisch gefährdet, was der Gründungskanzler selbst genau genug wusste.

Der Erste Weltkrieg war der schreckliche Nachweis, dass die Albträume des Alten im Sachsenwald nicht täuschten: Die Architektur seines Reiches taugte nichts. Erst recht nicht die des „großdeutschen Reiches“, Vollzugsanstalt für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, Initiatorin eines Vernichtungskriegs, mit dem sich dieses selbst in den Abgrund beförderte.

Dennoch trat die Bundesrepublik völkerrechtlich – darauf stützte sich der Anspruch auf die Wiedervereinigung – die Rechtsnachfolge des Reiches an. Aber befahl dies eine Auferstehung des missglückten Nationalstaats? Das Bundesverfassungsgericht neigt, wie das fragwürdige Lissabon-Urteil besagt, dieser Meinung zu.

Warum es im Europäischen Parlament viel spannender zugeht als in Berlin

Die Installierung einer gemeinsamen Finanzpolitik in der Eurozone, die ein entscheidender Schritt zur politischen Union wäre, wird die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten weiter beschränken: unter den gerunzelten Stirnen des Karlsruher Gerichts, das uns bis heute die Antwort auf die Frage schuldig blieb, warum die künftige Verlagerung der Souveränitätsrechte auf die Union eine Änderung der Verfassung verlange.

Auch die Wiedervereinigung vollzog sich ohne eine Korrektur des Grundgesetzes. Sie war, die Richter wissen es so gut wie wir, nur dank der Europäischen Union möglich. Hätte sie nicht das ganze Deutschland aufgefangen, wären weder Frankreich noch Großbritannien oder gar Polen zu einer Zustimmung bereit gewesen.

Mangels rationaler Argumente raunte der Richter Di Fabio schließlich von der „Schicksalsgemeinschaft“ der Nation. Diesen romantisch verschwiemelten Titel gestand er Europa nicht zu. Hätte er ein halbwegs klares Geschichtsbewusstsein, müsste ihm deutlich sein, dass spätestens der Vernichtungskrieg Großdeutschlands die Völker des Kontinents in ein gemeinsames Geschick zusammengezwungen hat.

Darum gibt es Europa. Sein Aufbau ist, dank der Garantie des Friedens, die große historische Leistung der Gründergeneration. Die Union ist fest verankert. Sie hat vielen Krisen widerstanden. Sie wird die Aggressionen der neunationalen Reaktionäre von links und rechts überstehen, vielleicht gar gestärkt. Was sagte Generalfeldmarschall von Moltke vom ewigen Frieden? Er sei ein Traum, und nicht einmal ein schöner. Das kann heute mit größerem Recht von der angeblichen Renaissance der Nationalstaaten gesagt werden.

Es ist wahr, dass die Beschlüsse, die den Prozess der Vereinigung vorwärtstrieben, für gewöhnlich von der „Zweiten Kammer“, dem Rat der Regierungschefs, ins Werk gesetzt wurden, und so wird es bleiben, bis das Europäische Parlament das Initiativrecht gewinnt – das letzte Instrument, das ihm fehlt, um eine klassisch gerüstete Vertretung der Völker zu sein.

Die stereotype Beschwerde über die „mangelnde demokratische Legitimation“ der Union ist schieres Geschwätz: In Wirklichkeit ist jedes Mitglied des Rates – nicht anders, als es die Vertreter der Länder im Bundesrat sind – durch Wahlen legitimiert. Das Europäische Parlament aber kontrolliert schon heute die Kommission. Es kann sie bestätigen, es kann sie abberufen.

Liegt es an den Institutionen der Union, wenn „Berliner Hinterbänkler … bekannter sind als Brüsseler Kommissare“, wie Nikolas Busse in einem zweiten Leitartikel zu Europa konstatiert? Oder eher an den deutschen Medien, die nicht bereit sind, über Europa mit gleicher Aufmerksamkeit zu berichten wie über den Binnenbetrieb der Berliner Republik?

[gallery:Die Europäische Union - Die Kandidaten]

Manche Persönlichkeiten in der Kommission lassen das Bundeskabinett als eine Versammlung bleicher Langweiler erscheinen, Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen, vielleicht auch Norbert Röttgen ausgenommen. Die Debatten im Europäischen Parlament sind, im Vergleich zum ausgemergelten Bundestag, wahre Feuerwerke von Esprit, Weltkenntnis, Bildung und rhetorischer Brillanz. Im Bundestag sitzen nicht viele, die einem Cohn-Bendit das Wasser reichen könnten.

Thomas E. Schmidt aber schrieb in der Zeit, Europa habe „kein Subjekt“ (was immer das heißen mag), und es habe „keinen Autor generiert, der einen Masterplan der Zukunft entwirft und ihn auch noch durchsetzt“. Nicht einmal ein auferstandener Jean Monnet könnte diesem Anspruch gerecht werden. Dazu brauchte es doch wohl eher einen genialen Diktator, vor dem uns Gott bewahren möge.

Die „deutsche Hegemonie“? Es gibt sie in Wahrheit nicht. Sie fiele sofort in sich zusammen, wenn der europäische Binnenmarkt von Importbeschränkungen blockiert würde. Angela Merkel weiß das so gut wie der Bürgermeister von Krähwinkel, der auf Brüssel nicht gut zu sprechen ist – sowenig wie er einst gut über Berlin oder über Bonn geredet hat. Man zeigte von jeher missmutig „auf die da oben“, die nun eher in Brüssel zugange sind.

Auch den hartnäckigsten Nörglern mag es die Sprache verschlagen haben, als der polnische Außenminister Sikorski öffentlich sagte, er fürchte sich nicht vor deutschen Panzern in Warschau, sondern vor dem Zagen und Zögern der Deutschen, ihre gewachsene Verantwortung in Europa zu übernehmen. Wer hätte das vor 20 Jahren für möglich gehalten?

Die schönste Bestätigung des Wandels war der herzliche Empfang des Bundespräsidenten Gauck in Warschau, das er mit klugem Bedacht als erste europäische Hauptstadt aufsuchte – Polen als ein Land der Freiheit preisend.

Es ist wahr: Europa braucht neuen Elan, eine schärfere Profilierung (auch gegenüber den Vereinigten Staaten), ein neues Bewusstsein der Solidarität. Es braucht das soziale Europa, das die Wucherungen des globalen Finanzterrors zurückdrängt. Es darf nicht dulden, dass die Einkommensschere weiter und weiter auseinanderklafft und muss dafür sorgen, dass die Armut in Schach gehalten wird.

Die Tugenden der sozialen Marktwirtschaft (oder des „rheinischen Kapitalismus“, wie die Nachbarn sagen): Sie sind das Vermächtnis der Gründerväter. Das wichtigste Element, das die Deutschen in die Union einzubringen haben.

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