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() Horst Seehofer
Der Maikäfer

Horst Seehofer und unser Autor haben eines gemeinsam: Sie kommen beide aus Ingolstadt.

In Ingolstadt erzählt man sich folgende Geschichte über Gerolfing, den Wohnort von Horst Seehofer. Einst kam ein Wanderer und quartierte sich in einem Gasthaus ein. Er aß und trank und schlief. Als er nach dem reichlichen Frühstück zahlen sollte, übergab er dem Wirt statt Geld einen Schuhkarton. Darin befänden sich mehrere Uhren, sagte er, das müsse für die Rechnung reichen. Der Wirt legte sein Ohr an den Karton und hörte ein Surren, ein Ticken. Dem Wirt war’s recht. Der Reisende verschwand. Als der Wirt den Karton öffnete, lagen darin statt der versprochenen Uhren nur eine Menge Maikäfer. Deshalb nennen die Ingolstädter die Gerolfinger in ihrer Mundart „Moiakäfa“. Horst Seehofer kennt die Geschichte natürlich. Der 57-Jährige wohnt seit mehr als 20 Jahren in Gerolfing und sieht sie „als Warnung, dass die Gerolfinger wachsam sein sollen vor Zuagroasten“. Die Geschichte stammt aus der Zeit, als der Ort noch ein Dorf war. Das ist lange her. Längst gilt Gerolfing als gefragtestes Wohnviertel Ingolstadts, wo sich Chefärzte und führende Audi-Manager in idyllischer Nähe von Golfplatz, Eichenwald und Donauauen niederlassen. Nicht zuletzt durch den Zuzug von Seehofer und seinen Aufstieg zum Minister haben die Gerolfinger an Selbstbewusstsein gewonnen. Sie benähmen sich mitunter, als sei Ingolstadt ein Vorort von Gerolfing, wird beklagt. Wenn man die Geschichte heute in Ingolstadt erzählt, fragt sich der eine oder andere auch, ob nicht Seehofer selbst ihnen jahrelang Maikäfer als Uhren verkauft hat. Meine Mutter beispielsweise. Sie trug 1980 sicher dazu bei, dass Horst ­Seehofer als unser Wahlkreis-Kandidat in den Bundestag einzog. Seehofer könnte die allgemeine Sonntagsarbeit einführen, und sie würde ihn dennoch wählen. Aber als im Januar Details seines Privatlebens bekannt geworden sind, fühlte sie sich getäuscht. Am Tag vor der Enthüllung in Bild war in Ingolstadt ein Werbeblatt verteilt worden, mit einem Fragebogen an Seehofer. „Auf welche eigene Leistung sind Sie stolz?“ Antwort: „Auf meine Familie.“ „Was sollte man Ihnen niemals auftischen?“ „Unehrlichkeit, Unaufrichtigkeit – das schmeckt mir nicht!“ An diese Worte erinnerte sich meine Mutter, als sie las, dass Seehofer in Berlin eine schwangere Geliebte habe. Spontan dachte sie: „Du hast zwei Gesichter. Dir glaube ich nicht mehr. Dich wähle ich nicht mehr.“ Stauffenbergstraße, Donaukurier: Die Lokalzeitung, in der ich vor 20 Jahren begann, hatte stets „ihre“ Politiker. Ihr Verleger Wilhelm Reißmüller hatte in seinem Haus am Westfriedhof eine so niedrige Tür zu seinem Büro eingebaut, dass jeder Besucher – insbesondere der lange Seehofer – nur gebückt vor ihn treten konnte. Als der damalige Ministerpräsident Max Streibl (auch er einst Ingolstädter Wahlkreiskandidat) sich vor 15 Jahren über eine allzu kritische Berichterstattung beschwerte, feuerte der Herausgeber den Münchner Korrespondenten. Als Seehofer vor 15 Jahren Gesundheitsminister wurde, feierte ihn die Zeitung auf drei vollen Seiten in einer Beilage. Ein Hort des kritischen, aufklärenden Journalismus ist der DK auch heute nicht. Aber er hält seine Leser über neue Enthüllungen auf dem Laufenden. Chefredakteur Michael Schmatloch schrieb: „Kein Politiker muss ein Engel sein, allerdings darf er dann aber auch nicht so tun, als ob. Und wenn Horst Seehofer grundsatzkonform den Wert von Ehe und Familie beschwört, wirkt das plötzlich ebenso unglaubwürdig, wie es in der aktuellen Situation dreist anmutet, sich um den Parteivorsitz der CSU zu bemühen.“ Seehofer wuchs einen Steinwurf vom Verlagsgebäude auf. Damals rümpften ehrbare Stadtbürger die Nase über jemanden wie Seehofer, weil südlich der Donau „nur Sozialisten und Kommunisten“ wohnten. Der Vater war Lkw-Fahrer, verdiente zu wenig, um seine Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Horst musste durch den zweiten Bildungsweg, ebenso sein Bruder Dieter, der heute Chef der Sparkasse Ingolstadt ist. Seehofer wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. Noch vor wenigen Jahren, als Seehofer erneut Minis­ter wurde, sagte seine Mutter im Lokalfernsehen, nun müsse sie wieder mehr für ihn beten. Seehofer war einst Mitarbeiter der Sportredaktion (Kürzel: see) und berichtete über die Spiele der eigenen Handball-Mannschaft des MTV Ingolstadt. Er sei ein guter Mannschaftsspieler gewesen, sagen seine Mitspieler von damals. Lange her. Viele Archivtexte handeln von regelmäßigen Besuchen in der Heimat; zur Feier seines Ministeramtes posierte er 2005 mit Frau, zwei der drei Geschwister und seinen drei Kindern. Während er im Sommer 2006 den Lesern der Bunte mit seiner Eisenbahn und seiner Familie (in dieser Reihenfolge) eine heile Welt vorführte, ahnten die Ingolstädter spätestens seit dem Bundestagswahlkampf 2005, dass Frau und Kinder ein völlig anderes Leben führen als er. Damals lud er die Lokalzeitung erstmals nach Hause ein. Der Reporter begann seinen Bericht mit den viel sagenden Worten: „Horst Seehofer, sein politisches Credo oder sein Auftreten in der Öffentlichkeit, das ist die eine Sache. Seine Familie die andere. Eine ganz andere – nur war das bisher nicht bekannt.“ Wie viel anders, das war wohl nicht einmal seiner Familie und dem Donaukurier klar, als er diese Zeilen druckte. Doch die Zeitung schloss den Bericht versöhnlich: „Die Chemie scheint zu stimmen, auch wenn es sicher kein einfaches Familienleben ist.“ Ingolstädter kennen Seehofer als Nachbarn und Mitbürger. Einmal, bei einem Fußballturnier der Pfadfinder, führte ich mit ihm den Anstoß aus. Kann auch sein, dass es Ministranten waren und ich nur daneben stand. Das Ganze ist mindestens 25 Jahre her. Nicht vergessen habe ich, dass Seehofer im Frühnebel zur Stelle war, obwohl um diese Zeit kein einziger Zuschauer zu sehen war. Später, als Lokalreporter, traf ich ihn beim Spargelessen der Schrobenhausener CSU. Nach seiner Rede tranken wir ein Bier zusammen. Viele Ingolstädter haben ähnlich banale Dinge zu erzählen. Ihn zu erleben, war uns ebenso wichtig wie die Politik, die er vertrat. Als ich Seehofer vor zwei Jahren für ein Buch über sein Vorbild Franz Josef Strauß befragte, sprach ich ihn auf unseren Fußballanstoß an – und er behauptete, sich gut daran zu erinnern. Er weiß, dass wir Ingolstädter uns über so eine Bemerkung freuen, ob sie nun stimmt oder nicht. Das ist die halbe Wählerstimme. Aber offenbar versagt sein Politikerinstinkt derzeit. Seine angemessene Reaktion nach der Enthüllung seines Privatlebens hätte aus Sicht der Basis eine Fahrt zu ihr nach Ingolstadt sein müssen. Tatsächlich ist er eigenen Angaben zufolge jedes Wochenende hier, aber nur „privat“. Am Aschermittwoch redete er in Krefeld, weil das „langfristig“ vereinbart war, und rechnet vor, dass er außerdem doch in Berching aufgetreten sei. Er verstecke sich nicht. Berching liegt fast eine dreiviertel Autostunde von Ingolstadt entfernt.

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