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Cicero Spezial - Die sechs Gesetze im System Merkel

„Wir werden Angela Merkel noch lange haben“, prognostizierte Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke vor einem guten Jahr in einem Cicero-Titel über die Kanzlerin. Sechs Eigenschaften machte er aus, die „das Geheimnis der Glucke“ und deren Sesshaftigkeit begründen

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

1. Angela Merkel nimmt sich nicht so wichtig. Sie überschätzt sich und ihre Rolle nicht
Den Sternsingern hat sie im Jahr 2010 im Kanzleramt einmal über ihre Rolle gesagt: „In bestimmter Weise habe ich auch etwas zu sagen.“ Das hörte sich nach Understatement an und wurde auch so ausgelegt, war aber ihre volle Überzeugung. Sie kennt ihre Grenzen. Und räumt sie auch ein. Nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin saß sie morgens mit ihrem Mann am Frühstückstisch. „Glaubst du eigentlich wirklich,
dass du die Rezepte für Deutschland hast?“, fragte er, und Merkel hielt diese Frage, jedenfalls unter Eheleuten, für absolut zulässig.

2. Sie kann Menschen in ihren Eigenschaften und Zwängen „lesen“
Es war auf einem Flug zu Jean-Claude Juncker nach Luxemburg, schon eine Weile her, zu einer Zeit, als Juncker noch in den höchsten Tönen von Merkel sprach. Und es war eine ganz einfache Frage, die eine erstaunliche Antwort zutage förderte.

Warum machen Sie das, warum tun Sie sich das an?

Daraufhin erzählte sie davon, welchen Reiz es für sie habe, politische Personen in ihren individuellen Eigenschaften und den strukturellen Zwängen zu betrachten und sich zu überlegen: Wie bekomme ich ihn oder sie unter Berücksichtigung der Umstände und persönlichen Eigenschaften so weit wie möglich dorthin, wo ich die Person in einem politischen Prozess haben möchte? Das sei für sie der Reiz der Politik, wenn dieser Reiz eines Tages nicht mehr da sei, dann müsse sie aufhören.

Sie scannt ihre Gegenüber und versetzt sich in sie. Wenn es sein muss, greift sie zu technischen Hilfsmitteln. Als ihr Mann vor Jahren einen DVD-Player anschaffen wollte und sie gerade mit einem hyperaktiven Franzosen ihre liebe Not hatte, bat sie ihn, ein paar DVDs von Louis de Funès mitzubringen. Irgendwann hat sie dann auch Nicolas Sarkozy erst verstanden und dann im Griff gehabt.

Das Spiel ausreizen, und je größer das Brett, je höher der Einsatz, je gerissener die Kontrahenten, desto größer der Reiz. Putin zum Beispiel – bei aller persönlichen Distanz, die auch auf ihre Russlanderfahrung in der DDR zurückgeht – hat sie immer als einen der reizvollsten Kontrahenten empfunden. Ein bisschen wie Klaus Maria Brandauer als Largo beim Spiel um die Welt mit James Bond in „Sag niemals nie“.

Merkel liebt dieses Spiel, und sie verliert nur sehr ungern. In geselligen Momenten erzählt sie gerne die Geschichte von ihrer ersten großen Umweltkonferenz. Sie als Umweltministerin der Bundesrepublik war in eine Art pendeldiplomatische Rolle zwischen den USA auf der einen und Indien und China auf der anderen Seite geraten. Sie vermittelte und vermittelte und verbrachte die Nacht pendelnd zwischen
den Konferenzsälen der Delegationen, bis ein Ergebnis herauskam, das sie für das maximal Machbare hielt. Und dann kam der indische Kollege des Weges, bedankte sich bei ihr für ihre Mühen und sagte lächelnd: „We never reached the bottom line.“ Sie haben uns nicht bis an den Rand geführt. Diese Lehre hat sie mitgenommen.

3. Sie macht sich nichts aus dem Gepränge der Macht
Angela Merkel mag die Essenz der Macht, die schiere Macht. Die verschafft ihr Satisfaktion, der Rest ist unwichtig. Alles, was an Gepränge damit einhergeht, das ist ihr „nüscht“, wie sie selbst formulieren würde. Sie ist die Gegenfigur zu einem Christian Wulff, den die Lust an der glamourösen Seite der Macht hat scheitern lassen. Merkel wird nie ein Opfer dieser Versuchung werden. Für sie ist das keine Versuchung.

Einmal hat sie beim „Goldenen Lenkrad“, einer PS-Protzveranstaltung mit allen deutschen Autobossen, zum Entsetzen der Winterkörner gesagt, sie fahre am liebsten mit ihrem alten Golf auf die Datsche in Hohenwalde. Das benzintriefende schwarze Ungetüm auf der Bühne ließ sie völlig kalt.

Betreiber besserer italienischer Lokale in Berlin bereiten sich auf den Besuch der Kanzlerin vor, indem sie entgegen ihrer sonstigen Küchenplanung genügend Hackfleisch vorrätig halten. Trüffel-Spaghetti, Hummer-Pappardelle? Bolognese bestellt sie, jedes Mal. Wenn sie selbst einlädt zum Gespräch in ihrem Speisezimmer im Kanzleramt, wird Kartoffelsuppe aufgetischt.

4. Sie schafft Loyalitäten guter Leute
Es wird oft gesagt, Merkel lasse keine guten Leute neben sich groß werden und sei dafür verantwortlich, dass die besten resigniert die CDU verlassen hätten. Diese Beobachtung ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass Merkel keine potenziellen Kontrahenten duldet und sie über kurz oder lang auf die eine oder andere Weise beseitigt. Der eine, Wulff, wird kurzzeitig Bundespräsident, der andere, Merz, nimmt eine Karriere als erfolgreicher Rechtsanwalt in Wirtschaftsfragen wieder auf, der dritte, Koch, leitet inzwischen einen großen Baukonzern. Es gibt noch viel mehr.

Man hält sich aber in Partei und Kanzleramt nicht so lange und so sicher, wenn man sich nur mit willfährigen, aber einfältigen Schranzen umgibt. Der engste Zirkel um die Kanzlerin besteht aus Leuten von einigem politischen Geschick. Und wer mit dem einen oder anderen aus diesem Kreis redet, der merkt, dass diese Chefin imstande ist, eine Faszination auszuüben, die zu einer ungeheuren Loyalität und Aufopferungsbereitschaft führt.

5. Sie ist kaum aus der Reserve zu locken
Ihre Miene hat Merkel nicht immer im Griff. Ihre Grimassen sind oft Ausdruck ihrer Stimmung. Ihre Worte und ihr Handeln aber hat sie immer unter Kontrolle. Engste Mitarbeiter sind daran schon verrückt geworden. Frau Merkel, wir müssen da was machen. Jetzt nicht, sagt sie dann immer. „Kommt schon noch.“

Als Gerhard Schröder in der legendären Elefantenrunde nach der Bundestagswahl 2005 seine Rumpelstilziade vor aller Augen vollzog, da fühlte sich Guido Westerwelle bemüßigt, den Kanzler außer Rand und Band zu kommentieren. Und gar nicht so schlecht. Merkel aber saß da, ertrug Schröders Unverschämtheiten, stierte nur vor sich hin, wie paralysiert. Und am nächsten Morgen ließ sie sich als Vorsitzende der Unionsfraktion bestätigen, ein Schritt, ohne den sie vermutlich nicht Kanzlerin einer Großen Koalition mit Schröders SPD geworden wäre. So paralysiert war sie dann doch nicht.

In Sotschi, auf seiner Sommerresidenz, legte Wladimir Putin, ihr besonderer Freund, ihr einmal einen großen schwarzen Labrador vor laufenden Kameras zu Füßen. Merkel hat Angst vor Hunden, dass das auch der KGB wusste, darf man annehmen. Sie ließ sich nichts anmerken.

Als ihr Vizekanzler Philipp Rösler sie an jenem denkwürdigen Wochenende im Februar nach Christian Wulffs Rücktritt mit der FDP-Unterstützung für Joachim Gauck aufs Kreuz legte, da hat sie Rösler gegenüber wenig zu erkennen gegeben. Aber fest steht seither, dass Rösler bei ihr nicht mehr ankommen muss. Er hat sich aus dem Spiel gebracht. Nicht weil Rösler Gauck am Ende unterstützt hat, sondern weil er in ihren Augen falsch gespielt und sich feige verhalten hatte.

6. Sie ist ungemein schnell im Kopf
Merkel sieht immer ein wenig verschlafen aus, etwas phlegmatisch. Das machen die außen hängenden Augenlider, die ihr bei den Karikaturisten ein unverwechselbares Antlitz eingebracht haben.

Aber das Hängelid täuscht. Merkel ist ungefähr so phlegmatisch wie eine Schnappschildkröte. Die liegt scheinbar reglos im Sumpf und beißt blitzschnell zu. Unterhaltungen mit ihr können zu Schachpartien werden. Einmal, nach einem langen Gespräch, wollte ich zum Abschied etwas plaudern. Der Fotograf brauchte noch Bilder. Am Morgen habe die Tochter mitbekommen, dass ich zu ihr ins Kanzleramt gehen würde, und dann gefragt: „Magst du die Merkel eigentlich?“

„Und“, fragte Merkel, „Was haben Sie gesagt?“

Verdammt. Voll in der Falle.

„Mögen, das ist nicht die Kategorie bei einer Kanzlerin, habe ich gesagt.“

Merkel: „Das haben Sie nicht zu einer Zehnjährigen gesagt.“

Stimmt. Falle zugeschnappt.

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