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Arme Politiker - Die Wahlkampf-Bürden vor Rotzlümmelpublikum

Im Wahlkampf trifft es sie besonders hart: die Politiker. Sie treffen auf die Bürger und müssen sich so allerhand gefallen lassen

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Sie beißen in Würste, schütteln Hände, stolpern und poltern durch Deutschlands Fußgängerzonen. Weil wir Authentizität fordern, menscheln sie sich von Tür zu Tür und laden sich selbst und vor allem zum Fremdschämen ein: Politiker im Wahlkampfmodus.

Besonders hart trifft es naturgemäß die Vertreter der Opposition. Sie müssen in der Funktion der Herausforderer einmal mehr in jede Kamera grinsen. Einmal mehr schütteln. Einmal mehr rühren: die Herzen, den Verstand, den Menschen.

Peer Steinbrück kann einem da schon mal leidtun. Ein Beispiel: RTL sah sich beauftragt – im Namen der Bürger und des schlechten Geschmacks – Peer Steinbrück in Geiselhaft zu nehmen. In gekünstelter Wohnzimmeratmosphäre wurden dem Klare-Kante-Peer „echte“ Menschen an die Seite gesetzt. Während Angela Merkel zur selben Sendezeit im ZDF einen kuscheligen Nachmittag mit Bettina Schausten verbrachte, durfte sich Peer Steinbrück von Entertainment-Größen wie Corny Littmann oder Let’s-Dance-Juryaugust Joachim Llambi die Meinung soufflieren lassen. [[nid:54912]]

So sah er sich vor seinem Rotzlümmelpublikum nicht nur gezwungen, allerhand Belanglosigkeiten zu falsifizieren, sondern durfte sich am Schluss auch noch benoten lassen. Immerhin – eine kritische Bürgerin am Tisch, die mit der Überzeugung in die Sendung ging, auf einen „arroganten alten Sack“ zu treffen, stellte dem Kanzlerkandidaten schließlich die Note 1 aus. Bleibt zu fragen: Wo sind die Leute von Amnesty, wenn man sie braucht…

Das Schmerzensgeld heißt dann Macht auf Zeit. Wenn überhaupt.

Sonntag in Berlin-Mitte. 0 Uhr 33. Grau-bärtige Endfünfziger huschen über die Straßen. Es sind SPD-Anhänger. Mit Leiter und Kabelstrapsen bewaffnet, schnüren sie fleißig Wahlplakate. Auf die Frage, warum sie dies nicht tagsüber machen, lautet die Antwort, man habe keine Lust, sich andauernd beschimpfen zu lassen.

Ist es wirklich schon soweit, dass die Volksparteien ihre Basis im Dunkeln auf die Straße schicken müssen, damit die parteitreuen Lehrer, Beamten und Frühpensionäre nicht des Volkes Zorn zu spüren bekommen?

Was erwarten wir eigentlich von unseren Politikern, beziehungsweise, was glaubt die Politik eigentlich, was von ihr erwartet wird? Haben sich Demos und Regierende soweit voneinander entfernt, dass sich Politiker, sobald sie alle paar Jahre zu direktem Kontakt mit ihren Bürgert qua Wahl gezwungen sind, derart zombiehaft durch die Realität bewegen müssen? Parallelgesellschaft Politik?

Ihr Auftreten ähnelt dem der Menschen im Science-Fiction-Film „Surrogates – mein zweites Ich“. Als sich die Menschheit nach jahrzehntelanger Realitätsverweigerung (sie erfährt die Wirklichkeit nur ferngesteuert von zuhause, mittels Maschinenmenschen) schließlich mühsam, unbeholfen und bleichgesichtig aus ihren Häusern zurück in die Realität wagt.

Steinbrück hat es besonders schwer, ungleich schwerer als die Kanzlerin zumindest. Er muss reden, kommunizieren. Nur der Amtsbonus lässt Schweigen zu. Peer Steinbrück aber gelingt es nicht, seinen „Klartext“ so zu formulieren, dass das Gesagte am Ende der medialen Rezeption nicht in eine argumentatorische Einbahnstraße führt.

Heißt: Steinbrück will klar texten, ohne sich gleichsam festlegen zu müssen. Steinbrücks Klartext ist somit gar keiner. Er ist allenfalls Chiffre für die Annäherung an klare Positionierungen. Nicht mehr, nicht weniger. Bei genauem Hinsehen ist es ein Klartextwust, der erst in der medialen Nachbearbeitung zu wirklichem Klartext wird. Ist schließlich der Klartext erst einmal medial herausgeschält,  fällt er dem Sender auf die Füße.

Die Folge: Die Politik schweigt, weil sie schweigen muss. Sie spricht, ohne etwas zu sagen. Das Wenige, was sie sagt, reicht der Onlinemaschine für ihr Banalitätenkarussell. Die vermeintlichen Fettnäpfchen Steinbrücks beispielsweise sind bei Lichte betrachtet – von der ein oder anderen Ausnahme einmal abgesehen –Nichtigkeiten, die erst im Nachklang durch die Entrüstung zu wirklichen Fehltritten wurden.[[nid:55315]]

Spätestens nachdem das „Fettnäpfchen“- und „Pannen-Peer“-Postulat zum zehnten Mal niedergeschrieben wurde, wird es zur publizierten Wahrheit. Eine Wahrheit, auf die sich dann wirklich jeder berufen kann.

In diesem System kommt den Medien eine entscheidende Rolle zu. Wenn alles Inhaltliche sofort kontextlos überhöht wird, warum sollten Politiker dann überhaupt noch Inhalte liefern? Die vierte Gewalt selbst sitzt in einer Falle: Sie lebt von Inhalten, deren Produktion sie durch ihr schnelllebiges Verwerten konterkariert.

Hinzu kommt, dass in Onlinezeiten der Konsument weniger als Rezipient gefragt ist, sondern als Verteiler. (Unter Journalisten heißt das dann: der Leser liest keine Texte, sondern Überschriften.) Wenn der Klick zählt und Google der Filter ist, dann hat im Zweifel die verkürzte Zeile Vorrang vor tatsächlichem Inhalt. Echter Diskurs hat es schwer, Gehör zu finden neben all diesen Häppchen, die Facebook, Posteingang und Smartphone verstopfen.

Wenn also alle Jahre wieder die Politik auf den Bürger trifft, seien wir gnädig. Sie meint es nicht böse, sie will nur spielen.

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