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Angela Merkel bei Anne Will - Verzweifelter Kampf um die Deutungshoheit

Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten versuchte Angela Merkel, den Deutschen in einer Talkshow ihre Flüchtlingspolitik zu erklären. Die Kanzlerin blieb ihrer Linie treu und bleibt doch eine Getriebene

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Es ist kurz vor halb Elf am Sonntagabend, da wird Angela Merkel ein wenig ungehalten. Vierzig Minuten lang hat die Kanzlerin Anne Will da bereits Rede und Antwort gestanden und immer wieder ihren Dreiklang in der Flüchtlingspolitik wiederholt: Fluchtursachen bekämpfen, EU-Außengrenzen schützen, mit der Türkei zusammenarbeiten. So will die Kanzlerin den Flüchtlingsstrom nach Europa und vor allem nach Deutschland eindämmen.

Doch noch immer blickt Anne Will skeptisch. Sie hakt nach und zitiert jene Kritiker, die nicht mehr glauben, dass wir es schaffen. Da sagt die Bundeskanzlerin mit energischer Stimme jenen Satz, der vielleicht wie kein anderer an diesem Abend ihren politischen Kompass in der Flüchtlingskrise auf den Punkt bringt. Einen Satz, in dem aber zugleich auch ein wenig Verzweiflung mitschwingt: „Mit Verlaub, meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit besteht darin, dass Europa einen gemeinsamen Weg findet.“

Der Druck ist noch einmal gestiegen


Es ist das zweite Mal innerhalb von fünf Monaten, dass die Bundeskanzlerin der Talkmasterin Anne Will in Sachen Flüchtlinge Rede und Antwort steht. Schon im Oktober vergangenen Jahres hatte Merkel versucht, mit einem 60-minütigen Talkshowsolo die Deutungshoheit in der Flüchtlingskrise zu behaupten. „Wir schaffen das, da bin ich ganz fest davon überzeugt“, hatte Merkel im Oktober betont und versichert: „Ich habe einen Plan.“

Seitdem sind der innenpolitische und der außenpolitische Druck noch einmal deutlich gestiegen. Die politische Deutungshoheit in der Flüchtlingskrise scheint der Kanzlerin mittlerweile entglitten zu sein. Außenpolitisch wird diese von Österreich und den Balkanstaaten bestimmt. Der letzte EU-Gipfel Mitte Februar hat keinen Durchbruch gebracht. Innenpolitisch bestimmen mittlerweile die CSU und die Kritiker in den eigenen Reihen die Debatte. Zuletzt hatten sich vor einer Woche die Spitzenkandidaten von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, Guido Wolf und Julia Klöckner, mit einem Merkel-kritischen Plan zu Wort gemeldet.

Die Stimmung in der CDU ist mittlerweile verheerend. Auch die SPD zeigt inzwischen immer häufiger mit dem Finger auf die Kanzlerin, wenn es darum geht, die Verantwortliche für die große Zahl von Flüchtlingen, die in den letzten Monaten nach Deutschland gekommen sind, zu benennen. Köln und die Ereignisse in der Silvesternacht waren für die politische Debatte in Deutschland eine zusätzliche Zäsur.

Die entscheidende Phase beginnt


Es ist zugleich nicht zu übersehen, die Lösung der Flüchtlingskrise tritt in den kommenden Tagen und Wochen in ihre entscheidende Phase. Und Angela Merkel könnte am Ende zu den Verlierern gehören. Eine europäische Lösung ist auch auf dem eilig einberufenen EU-Sondergipfel am 7. März nicht in Sicht. Merkels Plan droht also endgültig zu scheitern. Anschließend könnte die innenpolitische Abrechnung der Wähler mit der Kanzlerin folgen. In vierzehn Tagen finden in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt drei für die CDU wichtige Landtagswahlen statt. Angesichts der Flüchtlingskrise sind die drei sicher geplanten Wahlsiege wieder in Gefahr geraten.

Immer mehr Parteifreunde drängen Merkel deshalb zu einem Kurswechsel, die Schwesterpartei CSU versucht sich gar in Fundamentalopposition gegenüber der Kanzlerin. In einem Spiegel-Interview hat der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer die CDU an diesem Wochenende davor gewarnt, den Blick für die Realität zu verlieren und warf der Kanzlerin vor, das Land zu spalten.

Viel intensiver und viel kritischer


Dass die Situation im Fernsehstudio eine andere ist als beim letzten Mal, fällt schnell auf. „Können wir es wirklich schaffen, Frau Merkel?“, hatte Anne Will im Oktober gefragt, nun heißt es: „Wann steuern Sie um, Frau Merkel?“ Im Oktober war es eher ein fast freundschaftliches Gespräch zwischen der Journalistin und der Politikerin, dieses Mal fragt Anne Will viel intensiver und viel kritischer nach.

Auch Merkel ist die Anspannung anzusehen. Von der Zuversicht, die sie im Herbst auszustrahlen versucht hatte, ist wenig geblieben. Bei allem Optimismus, den Merkel auch weiterhin artikuliert. Die Kanzlerin versucht sich treu zu bleiben, sie habe alles „gut durchdacht“, versichert sie und verspricht, zu „kämpfen“. Wer hingegen gehofft hätte, Angela Merkel würde ihren Fernsehauftritt nutzen, um einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik anzukündigen oder zumindest anzudeuten, der wurde enttäuscht.

„Deutschland gespalten, in Europa isoliert“, so hatte Will die Talksendung an diesem Sonntag überschrieben. Beides liegt auf der Hand, doch Merkel will davon nichts wissen. Ja, sagt sie, die Polarisierung im Land sei gestiegen. Aber 90 Prozent der Deutschen seien laut einer Umfrage dafür, dass Deutschland Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehme. „Unglücklich“ sei sie darüber, dass Österreich und die Balkanstaaten ihre Grenzen geschlossen hätten, weil in Griechenland jetzt das Chaos drohe. Nein, sagt die Kanzlerin schließlich, „es ist überhaupt nicht der Zeitpunkt, über nationale Lösungen nachzudenken“, die 28 EU-Länder würden ihren Kurs unterstützen. Und sie fügt hinzu: „Ich bin sehr optimistisch, dass mein Weg erfolgreich sein wird.“

„Ich steuere nicht um“


Und weil Anne Will immer noch skeptisch blickt, an die Schlagbäume auf dem Balkan erinnert und an die Obergrenze, die die CSU fordert. Und weil die Gastgeberin schließlich noch einmal fragt, ob es angesichts des politischen Gegenwinds in Deutschland und Europa nicht an der Zeit wäre, ihre Politik zu ändern, auch die deutschen Grenzen zu schließen, da antwortet die Kanzlerin in aller Klarheit: „Nein, ich steuere nicht um.“ Nicht vor den Landtagswahlen am 13. März und auch nicht danach. Und was ist, wenn der EU-Gipfel am 7. März scheitert, zieht sie möglicherweise dann Konsequenzen? Selbst dann nicht, „dann muss ich weitermachen“, sagt die Kanzlerin, am 18. März gebe es schließlich den nächsten EU-Gipfel. Plan B? „Ich habe ihn nicht!“

Es sind dies die Momente in dem Auftritt von Angela Merkel, in denen die Kanzlerin nicht mehr verbergen kann, wie sehr sie mittlerweile eine Getriebene ist. Getrieben von den Tatsachen, die andere EU-Staaten längst geschaffen haben, und auch getrieben von den Kritikern in CDU und CSU. Die politische Realität in Deutschland und Europa ist ihr entglitten.

„Europa zusammenhalten, Menschlichkeit zeigen“, so formuliert Angela Merkel bei Anne Will ihre politischen Maxime. Diejenigen jedoch, die mittlerweile bei politischen Diskussionen in Deutschland und in Europa den Takt vorgeben und in der Flüchtlingspolitik nationale Tatsachen schaffen, haben längst eine andere Leitlinie populär gemacht. Die Kanzlerin mag kämpfen wollen, doch ein Talkshow-Auftritt allein kann daran nicht mehr viel ändern. Auch bei ihrem verzweifelten Kampf um die politische Deutungshoheit steht Merkel mittlerweile ziemlich alleine da.

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