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Wahl in Afghanistan - Sieben Millionen Fingerzeige

Hunderte Tote, 273 Anschläge: Der Mut der Afghanen, trotz der Barbarei der Taliban wählen zu gehen, flößt Respekt ein. Das gibt Grund zur Hoffnung - auch wenn schnelle Verbesserungen nicht zu erwarten sind. In Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

Schäuble, Juliane

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Sie haben ihre Drohungen wahrgemacht. Die Taliban wollten die Wahl in Afghanistan, die erste demokratische Machtübergabe in der Geschichte des Landes, stören. Potenziellen Wählern drohten sie mit dem Tod, und zur Strafe schnitten sie die in Tinte getauchten Finger von Wählern ab, wo immer sie ihrer habhaft wurden.

Die Bilanz ihres barbarischen Treibens: Landesweit gab es 273 Angriffe und Anschläge, 250 Menschen starben – der vergangene Samstag war damit der blutigste Wahltag in Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001. Doch was trotz des hohen Blutzolls in Erinnerung bleiben sollte, sind die Menschen, die sich von Einschüchterung und Gewalt nicht haben abschrecken lassen.

Die die Wahllokale bei der Stichwahl um das Präsidentenamt gefüllt haben, obwohl der Terror über ihnen schwebte. Mehr als sieben Millionen von insgesamt zwölf Millionen wahlberechtigten Afghanen haben den Aufständischen getrotzt und einen Nachfolger für Präsident Hamid Karsai bestimmt.

Würden Sie wählen gehen, wenn Sie bedroht werden?

Satte 60 Prozent betrug die Wahlbeteiligung – sie übertraf alle Erwartungen. Bemerkenswert angesichts ihres gesellschaftlichen Status ist auch der Anteil der Frauen, die ihre Stimme unbedingt abgeben wollten: 38 Prozent der Wähler waren weiblich. Was bewegt diese Menschen, die seit Jahren, seit Jahrzehnten mit Gewalt und Terror leben und von denen nicht wenige enttäuscht sind, dass das Land immer noch keine lupenreine Demokratie ist? Und die enttäuscht sind, dass der Wohlstand um viele auch weiterhin einen großen Bogen macht und der Westen sich im Grunde kaum noch interessiert für das Land am Hindukusch?

Hand aufs Herz: Würden Sie wählen, wenn Ihnen auch nur ansatzweise ähnlicher Schrecken angedroht würde? Betrachtet man die magere Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen oder zuletzt bei der Europawahl (in der Slowakei wollten nur 13 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, im europaweiten Durchschnitt waren es 43,1 Prozent, auch keine demokratische Glanzleistung), kann man nur beschämt sein.

Beschämt darüber, dass wählen zu dürfen für so viele keinen Wert mehr hat. Auch, weil es so selbstverständlich geworden ist. Auf jeden Fall verdienen die Menschen in Afghanistan allen Respekt für ihren Mut. 13 Jahre nachdem der Westen die Taliban stürzte und viele dem afghanischen Volk vollmundig eine bessere Zukunft versprachen, ist beileibe nicht alles gut in Afghanistan.

Die Stammeskultur hat nicht wirklich an Einfluss verloren, auch um Bildung und Frauenrechte könnte es deutlich besser bestellt sein, vom nicht enden wollenden Terror ganz zu schweigen. Aber offenbar hat sich die Sehnsucht nach demokratischen Verhältnissen, nach Teilhabe und Machtteilung in die Herzen eingegraben. Und der Wunsch ist so stark, dass er sich selbst von Todesdrohungen nicht unterdrücken lässt.

Dahinter steckt natürlich auch die Hoffnung auf ein wirtschaftlich besseres Leben. Aber dass dieses in einer Demokratie eher zu erreichen ist als in einer Diktatur, davon erzählt diese Wahl. Ein gewählter Präsident übergibt dem nächsten friedlich die Macht – so soll es sein, sagen die Menschen an den Urnen, so und nicht anders.

Sie wollen mitbestimmen, wer über sie herrscht, auch wenn der Wechsel vielleicht am Ende nicht gleich zu einer spürbaren Verbesserung führt. Lange genug haben andere über ihr Schicksal bestimmt. Jetzt wollen sie frei sein, frei zu wählen. Bedeutet das letzten Endes, dass der Westen sein Ziel erreicht hat, oder zumindest eines? Dass die These stimmt, dass die Fackel der Freiheit, einmal entzündet, nicht mehr zu löschen ist?

Skeptiker werden das nicht hören wollen, werden auf das Negative verweisen, auf Terror, Wahlmanipulationen, Clanstrukturen, auf die Korruption, die auch mit dem neuen Präsidenten nicht verschwinden wird. Werden davor warnen, dass das Rad zurückgedreht wird, sobald die Amerikaner und ihre Alliierten das Land endgültig verlassen haben.

Und manche werden auch sagen, dass der Westen mit seinem Eingreifen die Lage der Menschen am Ende nicht verbessert, sondern verschlimmert – so wie manche gerade mit Blick auf den Irak argumentieren. Das alles sind mehr oder weniger berechtigte Einwände. Aber wer sich nicht beeindrucken lässt von dem Mut dieser Wählerinnen und Wähler, die am Wochenende vor den Wahllokalen Schlange standen und stolz ihre mit Tinte beschmierten Finger in die Kamera hielten, der hat aufgehört zu hoffen.

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