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Umgang mit Russland - Europa muss nachsitzen

Die Krim wurde annektiert. In Donezk marodieren Separa­­tisten. Von Moskau aus zieht Putin die Fäden. Und der Westen traut seinen Ohren nicht. Hätte er doch besser hingehört 

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Schlögel, Karl

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Im Nachhinein ist man immer schlauer. Vor einem Jahr hatte sich kaum jemand vorstellen können, dass es einmal Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben könnte. Putin hat das Undenkbare fertiggebracht – Krieg gegen das Brudervolk.

Territoriale Integrität gilt nichts mehr, Truppen und Material werden über die ukrainische Grenze geschafft, Tausende sind inzwischen getötet worden, Hunderttausende auf der Flucht, aus der Millionenstadt Donezk ist eine Geisterstadt geworden, terrorisiert von Freikorpsbanden aus Kriminellen, Ex-Tschetschenien-Kämpfern und russischen Speznas-Einheiten.

Was als Blitzaktion gegen die Krim begann, ist in einen unerklärten Krieg übergegangen, dessen Ende nicht absehbar ist. Putin hat die Ukraine nicht bezwungen. Bisher jedenfalls nicht. Eher umgekehrt: Wider Willen wurde er zum Geburtshelfer einer beschleunigten Nationenbildung. Seine Rechnung ist nicht aufgegangen. Vielmehr hat er Russland auf eine Weise isoliert, wie es keine Eindämmungspolitik und keine Sanktionen je geschafft hätten. Niemand kann sagen, was als Nächstes passieren wird.

Ukraine? - Interessiert uns nicht
 

Aber Europa, aufgerüttelt durch die Maidan-Bewegung, die Annexion der Krim und den Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine, zusammengerückt in einem Reflex der Selbstverteidigung, will sich offensichtlich wieder anderen und wichtigeren Sorgen zuwenden. Davon gibt es genug: Griechenland, der Euro, die dramatisch ansteigende Zahl der Flüchtlinge, der islamistische Terror. Ob Europa seine inneren Konflikte aus- und der äußeren Erpressung standhalten sowie die Sanktionen gegen die russische Aggression aufrechterhalten wird, ob es in der Krise wächst oder auseinanderfällt, ist offen. Auf dem Spiel steht nicht allein das Schicksal der Ukraine, sondern das Europas.

Von diesem Schock sind besonders jene betroffen, die sich ein Lebtag lang mit Russland und der Verbesserung der Beziehung zwischen Deutschen und Russen befasst haben; es sind nicht wenige. Sie alle fragen sich, ob sie etwas überhört oder übersehen, sich selbst und anderen sogar etwas vorgemacht haben und sich jetzt ihr Scheitern eingestehen müssen.

Putins große Auftritte in Deutschland
 

Einige behaupten, sie hätten alles kommen sehen. Ich gehöre nicht dazu. Viele haben noch die Rede Putins vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 im Ohr. Einige erinnern sich an seine Rede vom Ende der Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ im Jahre 2005, und für viele war sein Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 das Sig­nal einer Wende und einer Rückkehr in den Kalten Krieg.

Die Reden sind inzwischen tausendfach kommentiert, auf ihre rhetorischen Qualitäten und semantischen Nuancen hin analysiert worden. Die Rede im Reichstagsgebäude, gehalten an einem Ort, an dessen Wänden die Inschriften der Rotarmisten vom Endkampf um Berlin vor 70 Jahren sorgfältig restauriert worden waren, erfasste ein Momentum, in dem vieles zusammenkam: dass ein russischer Präsident überhaupt im deutschen Parlament sprach, noch dazu einer, der Wert darauf legte, seine Rede „in der Sprache Schillers und Goethes“ zu halten. Dass er in Leningrad aufgewachsen war, das noch gezeichnet war von der durch die deutsche Wehrmacht verhängten Blockade.

Mit einem Schlag schien alles, was man gegen den ehemaligen Dresdener KGB-Agenten haben konnte, als Vorurteil widerlegt. Vom Reichstag aus an die deutsch-russischen Tragödien im 20. Jahrhundert zu erinnern, ja sogar vom Totalitarismus und dann über Zukunftsperspektiven zu sprechen, von denen Unternehmer, Ingenieure, Banker, Künstler und Museumsdirektoren schon seit Jahren geträumt hatten – alle Widersprüche und Widerstände schienen sich aufzulösen in einer Sphäre des wechselseitigen Verstehenwollens und Verstehenkönnens.

Es ist auch Jahre später nicht schwer nachzuvollziehen, warum die Rede immer wieder von Beifall unterbrochen wurde und am Ende in stehende Ovation überging. Hier kam ein Ensemble von Stimmungen und Erwartungen zum Tragen, das bis heute wie ein mentaler Block – nun schon nostalgisch und oft rührselig-kitschig – fortwirkt. Bis hin zu der festen Überzeugung, dass „der“ Westen Putins „Liebeswerben“ nicht recht ernst genommen und damit die Zukunft verspielt habe.

Putins Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 wurde als Rückkehr eines selbstbewusst auftrumpfenden Russlands empfunden, Putin als der Mann, der dem Westen, vor allem den USA die Leviten las, indem er den Westen der moralischen Doppelstandards sowie des Wortbruchs und die USA des Strebens nach einer unipolaren Weltordnung und Weltherrschaft zieh. Die USA, die sich selber schwertaten, mit der neuen Weltunordnung, mit dem Ende der alten bipolaren Welt klarzukommen, boten dafür genug Angriffsflächen: vor allem den Irakkrieg George W. Bushs, der mit einer Täuschung der Weltöffentlichkeit begonnen hatte.

Seither ist Putin der Mann, der es „dem Westen zeigt“, vor allem aber „den Amerikanern“, die angeblich hinter allem stehen; er ist der Rächer für all jene, die sich – von rechts bis links – als Opfer verstehen, sei es des Bomben- oder Konsumterrors, der NSA oder auch einer misslungenen deutschen Wiedervereinigung. So gesehen muss man nichts von Russland wissen, um Putins Politik zu beurteilen, es reicht, gegen Amerika zu sein. All das läuft auf das Narrativ hinaus, dass „der Westen“ die Verantwortung für die „Ukrainekrise“ trage und Russland Opfer der aggressiven Politik des Westens, der Nato und Amerikas sei.

Erniedrigung und Demütigung Russlands gibt es wirklich. Aber sie hat wenig mit einer angeblichen Bedrohung oder einer angeblich schon seit Jahrhunderten anhaltenden Einkreisung Russlands zu tun. Wer die chaotischen, an darwinistische Überlebenskämpfe erinnernden Zustände im Russland der neunziger Jahre miterlebt hat, konnte die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung der Bevölkerung nur zu gut verstehen. Die sogenannten Eliten waren damit beschäftigt, sich in einem geschichtlich beispiellosen Raubzug das gesellschaftliche Eigentum an sich zu reißen und ihre Reichtümer ins Ausland zu schaffen. In den Neunzigern waren es vor allem die Oligarchen, in den Zweitausendern der neue Adel aus Geheimdienst und Machtapparaten. Zypern, die City of London, die Immobilienhändler an der Côte d’Azur, die Offshore-Zonen – sie alle haben daran mitverdient, davon gelebt.

Soziales Gefälle wie in einem Entwicklungsland
 

Auch als Nichtpolitologe konnte man sehen, dass etwas nicht stimmte an der neuen Stabilität, die mit der Gleichschaltung der Medien einherging. Nirgends war der Reichtum so maßlos und so schamlos zur Schau gestellt wie in Moskau, in dem die Petromilliarden zusammenströmten. Zustände, wie man sie sonst nur aus Ländern der Dritten Welt kannte: gespenstischer Luxus in der Metropole und Rückfall in die Wegelosigkeit draußen im weiten Land. Als von Marx aufgeklärter Mensch wusste man, dass auch im Westen das Kapital „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt gekommen war und es Generationen brauchte, bis es sich „zivilisiert“ hatte.

Als regelmäßiger Besucher des Landes konnte man auch sehen, wie es punktuell vorwärtsging, wie Russland ein „normales“ Land wurde. Man schöpfte daraus seine Zuversicht, dass auch Russland es schaffen würde – aus eigener Kraft. Aber der Reichtum, der dem Land in einer glücklichen globalen Konjunktur des Öl- und Gasbooms zufloss, floss nicht in die Modernisierung des Landes, nicht in die Erneuerung eines Jahrhundertbauwerks wie der Transsibirischen Eisenbahn 100 Jahre zuvor oder den Neubau von Hochgeschwindigkeitsstrecken, Technoparks und Kommunikationsnetzen.

Beispielloser Exodus
 

Russland ist heute abhängiger vom Auf und Ab des Weltmarkts als je zuvor. Nie haben so viele Menschen Russland verlassen wie in den vergangenen zehn Jahren – ein beispielloser Exodus gut ausgebildeter junger Leute, die für sich keine Chance im eigenen Land sehen. Nicht einmal in der russischen Emigration nach 1917 gab es eine derartige Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte.

Zudem sind Millionen russischer Staatsbürger in den vergangenen 20 Jahren im Ausland gewesen und haben mit eigenen Augen gesehen, was man in ein, zwei Jahrzehnten an Infrastruktur, Service und Geschäftskultur schaffen kann; besonders schockierend war für russische Touristen die Erfahrung des chinesischen Wirtschaftswunders. Sie kehrten zurück und mussten feststellen, dass sich im eigenen Land nichts geändert hat und sich nichts ändern ließ.

Wut, Enttäuschung, Suche nach Sündenböcken gab es genug in einem Land, in dem Oligarchen und eine korrupte Bürokratie ungestraft tun und lassen konnten, was sie wollten. Im Land, in dem „Stabilisierung“ so viel hieß wie Gleichschaltung, Machtvertikale, Umverteilung des Eigentums zugunsten einer zügellosen Kleptokratie, gab es Hass und Neid im Überfluss und jenes tiefsitzende Gefühl der Demütigung und Erniedrigung, über das russische Meinungsforscher längst informiert waren und das nicht erst durch eine Nato oder EU oder gar Obamas spitze und törichte Bemerkung, Russland sei eine Regionalmacht, erzeugt worden ist.

Die sogenannte Ukrainekrise ist zuerst eine Russlandkrise, in die sie eine Regierung geführt hat, die der säkularen Aufgabe, das Land zu modernisieren, nicht gewachsen war. Oder knapper ausgedrückt: Es ist leichter, einen kleinen erfolgreichen Krieg vom Zaun zu brechen, als endlich die Autobahn zwischen Moskau und Sankt Petersburg fertigzustellen.

Auch das Fach Ukraine müssen wir noch einmal wiederholen und uns das Land genauer ansehen. Die Ukraine, immerhin eines der größten Länder in Europa mit rund 45 Millionen Einwohnern, ist seit 1991 ein unabhängiger Staat. Aber auf der mentalen Landkarte der meisten Deutschen existierte sie bis in die jüngste Zeit nicht, es sei denn als Teil des ehemaligen russischen, dann sowjetischen Imperiums.

Ukraine? - Irgendwo da bei Russland
 

Bis in die jüngste Zeit galt das Ukrai­nische nicht als eigenständige Sprache, sondern eher als eine Abart des Russischen. Man konnte oder wollte in Deutschland irgendwie nicht verstehen, dass man russischsprachiger Ukrainer sein kann und dass das Land zweisprachig ist wie kaum ein anderes in Europa.

In Deutschland weiß man viel über die deutschen Verbrechen in der Sowjet­union. Aber Schuld empfindet man lediglich gegenüber „den Russen“ – so als gäbe es nicht Hunderttausende von ukrainischen Rotarmisten, Millionen ukrainischer Ostarbeiter und keine Schoah auf ukrainischem Territorium.

Ukraine, das war bis vor kurzem im Horizont der meisten Deutschen nichts weiter als Peripherie, Hinterhof, Einflusssphäre und Objekt anderer, nicht politisches Subjekt, das eine eigene Vorstellung von seiner Geschichte hat und sein Leben einrichten kann, wie es will und wie es jeder anderen Nation zugestanden wird – ohne Wenn und Aber.

Nach wie vor wird in Deutschland die geschichtliche Erfahrung der Völker „dazwischen“ – Polens und der baltischen Republiken vor allem – leichtfertig als Idiosynkrasie abgetan, während man Russland wie selbstverständlich ein Sonderrecht auf „seine“ Einflusszone zubilligt. Weshalb eigentlich?

Die Ukrainekrise als Gefährung der EU
 

Wenn wir uns, „dem Westen“ oder der EU etwas vorwerfen können, dann nicht, dass wir uns zu früh und übermäßig für die östlichen Nachbarn engagiert hätten, sondern dass diese eher als eine Zumutung empfunden wurden, die den Zusammenhalt Europas und der Europäischen Union – besonders in Zeiten der Krise – gefährdete.

Nicht nur die Politik war 2013 vom Maidan und der folgenden „Ukraine­krise“ überfordert, sondern auch Experten, Intellektuelle, Denkfabriken. Auch hier kam viel zusammen. Zu lange wurde – wie zur Selbstberuhigung – das Mantra von der Transformationsgesellschaft, also vom automatisch-zwangsläufigen Übergang von Plan zu Markt, von Diktatur zu Demokratie heruntergebetet, während die Geschichte in einer Zeit der Wirren längst ihre ganz anderen Wege ging. Jahrzehntelang hatte man sich über die Überholtheit der Geopolitik mokiert, jetzt hieß es plötzlich und allenthalben „geography matters“. Überrumpelt war auch eine kritische Sozialwissenschaft, die von der Geschichte großer Männer Abschied genommen hatte, es nun aber mit dem Auftauchen eines Mannes zu tun bekam, der Eskalationsdominanz demonstrierte, das mächtigste Militärbündnis der Welt vor sich hertreibend, und virtuos und pointensicher auf der medialen Klaviatur spielte.

Europa war nicht nur nicht auf die neue Form des Krieges vorbereitet, es ist bis heute auch im Rückstand gegenüber dem im großen Maßstab angelegten Informationskrieg Putins. Man redet von der „Rückkehr zum Kalten Krieg“, während doch der lokale, nichtlineare, sogenannte hybride Krieg des 21. Jahrhunderts bereits im Gange ist.

In den Talkshows sitzt kaum je ein Militärexperte, der uns kompetent etwas über Häuserkampf erklären könnte. Wer sich informieren will, erfährt in Internet und Blogosphäre mehr als durch die dafür zuständigen – und dafür bezahlten – Medien.

Putins völkische Rhetorik beunruhigt
 

Während Europa gerade die Geopolitik entdeckt, geht es Putin bereits um weit mehr. Um etwas, das man bisher noch nicht gehört hat und das einem doch irgendwie bekannt vorkommt. Wenige Wochen nach der Krimannexion sprach er in seiner Rede zur Lage der Nation von einem „spezifischen genetischen Code“ des Russentums, von den über 300 Millionen Russen und russischsprachigen Menschen, die weit über die staatlichen Grenzen der heutigen Russländischen Föderation hinaus lebten und in der einen oder anderen Weise davon geprägt seien. Daraus leitete er das Recht und die Pflicht ab, sich für alle Russen und russischsprachigen Menschen einzusetzen, wo immer sie leben und Bürger welchen Staates auch immer sie seien.

Es ist kein Wunder, dass solche Aussagen Staaten mit russischsprachigen Minderheiten – ob in den baltischen Republiken oder in Kasachstan – berechtigterweise beunruhigen. Hier bilden neoimperiale und völkische Rhetorik eine Mischung, die gefährlich werden kann – auch für die Russische Föderation selbst.

Seit der Okkupation der Krim sind nicht nur die wie selbstverständlich daherkommende dreiste Lüge und die systematische Gräuelpropaganda in die russischen Fernsehkanäle eingewandert, sondern es soll uns klargemacht werden, dass das Bestehen auf dem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge in Zeiten der Postmoderne überholt sei.

Putins als Verteidiger der europäischen Werte
 

Putins Medien haben keine Mühe, den Jargon der Postmoderne mit der Beschwörung des heiligen Russlands zusammenzubringen. Die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten wird als heterogenes, dekadentes Gebilde lächerlich gemacht, unfähig, zu seinen eigenen Werten zu stehen. In seiner Rede am 4. Dezember 2014 im Georgsaal des Kreml hat sich Putin sogar als der wahre Verteidiger der wahren europäischen Werte in Szene gesetzt.

In der bevorstehenden Kontroverse geht es daher nicht nur um die Aufrechterhaltung der Sanktionen, mit denen sich Europa gegen Aggression und Erpressung zur Wehr setzt. Vielmehr geht es um die Aufnahme einer fundamentalen Auseinandersetzung, die uns hinterrücks erwischt hat, ob wir für die Lebensform, die mit Europa bezeichnet wird, einstehen oder sie preisgeben.

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