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Cedric Rehman

Ukraine - „Es gibt kein Rechts und Links mehr“

Die Revolutionäre in Kiew sind in den Schatten der Ereignisse auf der Krim und in der Ostukraine gerückt, doch die Stimmung auf dem Unabhängigkeitsplatz ist wenige Wochen vor den Wahlen explosiv. Ein Bericht über eine Bewegung am Rande der Panik

Autoreninfo

Cedric Rehmann besuchte während des Libyenkriegs die Flüchtlingslager an der Grenze zu Tunesien. Nun kehrte er in das schwer zugängliche Land zurück.

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Das Handy auf dem Küchentisch bimmelt, als das erste Feierabendbier bereits getrunken ist. „Auf dem Maidan passiert etwas. Falls du heute nacht rausgehst, pass auf dich auf“, sagt Dasha Tsymbaluk. Sie scheint das Handy am Ohr zu haben, während sie schnellen Schritts irgendwo hinläuft. Hastig erzählt sie, was geschehen ist. Es habe auf dem Platz angefangen zu brennen, dann plötzlich Schüsse. Eigentlich wollte Dasha nur Freunde in einem der Zelte besuchen. Jetzt eilt sie zur U-Bahn-Station. Sie habe Angst, dass die Metro wieder geschlossen wird wie am 20. Februar, sagt sie. Damals verwandelte sich Kiews Unabhängigkeitsplatz auch deshalb in eine tödiche Falle, weil der Weg in den Untergrund mit einem Eisengitter versperrt war.

Dashas Sorge ist unbegründet, die U-Bahn hält wie üblich unter dem Maidan an. Doch die Treppe von der Metrostation auf den Platz führt direkt in eine Kriegszone. Männer in Uniformen und mit Gasmasken und Sanitäter mit Rot-Kreuz-Binden laufen aufgescheucht durcheinander. Wo der Maidan-Platz endet und die Institutskaya-Straße beginnt, hat ein Kordon von Uniformierten einen Riegel gebildet. Eine Gruppe mit Fackeln bewegt sich den Hügel herunter vom Hotel Ukraina in Richtung Maidan. Sind das wirklich die Tituschki, die Anhänger des alten Regimes?

Familien sollen Kiew verlassen


Seit Tagen wird auf dem Maidan und auf sozialen Netzwerken gemunkelt, dass vor den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai in Kiew etwas passieren wird. Die Tituschki würden Rache nehmen für den Sturz Janukowitschs und verhindern, dass es in Kiew eine von den Wählern legitimierte Regierung gibt. Eltern sollten ihre Kinder nehmen und die Hauptstadt bis dahin verlassen, schreibt ein Aktivist auf Facebook.

Doch am Ende sind es nicht die Tituschki, die mit Fackeln anrücken, sondern „Idioten“. So nennt sie Igor Mykhailyshin. Auch er trägt Uniform und hat eine Hacke in der Hand, mit der sich ein Blumenbeet umpflügen lässt. „Wir wussten am Anfang nicht genau, wer uns angreift“, sagt er. Aber es seien keine Regimeanhänger, sondern eine rechte Gruppe, die sich Weißer Hammer nenne und auf den Maidan wolle. „Wir wollen sie aber hier nicht, und deshalb ballern sie jetzt mit Gummigeschossen rum und verletzen unsere Männer“, sagt Mykhailyshin. Als die Neonazis am Eingang zur Institutskaya-Straße auf die Verteidiger des Platzes treffen, wird es laut. Flaschen fliegen durch die Luft und zerplatzen auf den Pflastersteinen der Institutskaya-Straße.

Unweit vom Tumult kommt ein Mädchen mit Gitarre aus einem der Zelte. Sie fängt an zu spielen und singt mit der Stimme bis zum Anschlag das Lied „Zombies“ von der Band Cranberries über den Nordirlandkonflikt. „What´s in your head, Zombies?“ schreit sie über den Platz, während um sie herum die Menschen johlen. Am Ende rückt die Samooborona aber zur Seite, die Fackelträger dürfen eine Runde über den Unabhängigkeitsplatz drehen und werden dabei kräftig ausgepfiffen.

Kunststudenten und Revolutionäre


Am nächsten Tag sitzt Dasha Tsymbaluk auf einem Sessel vor einer Holzhütte auf dem Maidan-Platz. Sie hat eine Palette mit Farben in der einen Hand, einen Pinsel in der anderen, so als wäre gestern Nacht nichts geschehen, das sie in Panik versetzt hat. Vor ihr entsteht ein Kosakengesicht. „Sorry, dass ich gestern übertrieben habe. Wir sind alle ziemlich nervös zurzeit“, sagt sie und legt das Malzeug zur Seite. Ihr Freund Igor Mykhailyshin hat die Uniform der Samooborona wieder gegen Jeans und T-Shirt getauscht. Er liegt müde von der Nacht auf einer Holzbank und sonnt sich.

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Dasha Tsymbaluk und Igor Mykhailyshin kennen sich von der Kunstakademie in Kiew. Beide leben seit Monaten mehr in der Zeltstadt auf dem Maidan als in ihren Studenten-WGs. Noch vor einem Jahr hatten beide nur das Ziel, einen möglichst guten Abschluss zu machen, um dann einen Job im Ausland zu finden. Jetzt wollen sie auf jeden Fall bleiben, obwohl ein Krieg vor der Tür zu steht. „Für mich war die Ukraine vor dem Maidan nicht mal ein Land“, sagt Dasha Tsymbaluk.

Sie hat lange im Ausland studiert. Irgendetwas Positives, das sie über die Ukraine hätte erzählen können, sei ihr in der ganzen Zeit nicht eingefallen, sagt sie. Ihr Freund nennt nur den Slogan der Punk-Generation, um das Befinden der ukrainischen Jugend unter Viktor Janukowitsch zu beschreiben: „No Future“, sagt er. „Wir haben uns nicht für Politik interessiert oder Zeitung gelesen, wozu denn auch?", sagt er. Selbst die Proteste gegen die Nichtunterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der Europäischen Union Anfang November seien vielen jungen Ukrainern egal gewesen, sagt er.

Das Wunder vom Maidan


Dasha Tsymbaluk nickt. Doch dann sei etwas geschehen, das weder Dasha Tsymbaluk noch ihr Freund, noch viele andere Ukrainer erwartet hätten: Die Demonstranten auf dem Maidan seien nicht eingeknickt, als die Staatsmacht am 30. November zum ersten Mal zu den Knüppeln griff, sondern aus Trotz noch zahlreicher auf dem Platz erschienen. Danach sei ein Wunder geschehen, sagt die Kunststudentin. Schwule und Lesben standen neben orthodoxen Priestern in der Winterkälte auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz.

Linke Autonome verteidigten Barrikaden gemeinsam mit rechten Fußballultras. Für Dasha Tsymbaluk, die nie etwas mit der Ukraine anfangen konnte, waren die ersten Wochen der Proteste eine nachgeholte Geburtstunde für ihr Land, und der Anfang einer Zivilgesellschaft, die laut Nein sagt, wenn ihr etwas nicht passt. Doch die Euphorie der allgemeinen Verbrüderung sei mit immer mehr Toten dem Schmerz gewichen und einem immer noch gegenwärtigem Schock.

Die braunen Flecken der Revolution


Heute gäbe es eine Mischung aus allen drei Gefühlslagen in den Köpfen der Maidan-Aktivisten, sagt Dasha Tsymbaluk. Und auch der Trotz existiere noch. Zum einen wird er genährt von der Gewissheit, dass Janukowitsch zwar gestürzt ist, aber nicht die vielen, die sein Regime getragen haben. Die Macht der Oligarchen, die hinter Janukowitsch standen, tastet zum Beispiel niemand an. Die Wut des Maidan richtet sich inzwischen gegen die Interimsregierung unter dem Übergangspräsidenten Oleksandr Turtschinow und die Politiker der Opposition aus den Janukowitsch-Zeiten.

Vitali Klitschko ist in der Versenkung verschwunden. Die rechtsgerichtete Swoboda-Partei und der militante Rechte Sektor, werden von nicht wenigen Maidan-Aktivisten als Provokateure wahrgenommen, die den Bildern der Revolution braune Flecken zugefügt haben. Kritik wird geäußert an der von Swoboda durchgesetzten Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache der Ukraine. Ein Geschenk an Putin sei das gewesen, genau wie der gestrige Aufmarsch mit Fackeln. „Wunderbare Bilder sind das doch für die russischen Medien“, sagt Igor Mykhailyshin.

Und Julia Timoschenko, der als Präsidentschaftskandidatin neben dem Milliardär Pjotr Poroschenko die besten Chance bei den Wahlen am 25. Mai eingeräumt werden, müsste inzwischen um ihre Sicherheit fürchten, sollte sie den Maidan-Platz betreten, sagt er. Das Misstrauen gegen sie geht soweit, dass ihre Partei verdächtigt wird, an dem Blutbad vom 20. und 21. Februar beteiligt gewesen zu sein. Dasha Tsymbaluk erinnert sich mit Abscheu an den Auftriit Julia Timoschenkos auf dem Maidan nach ihrer Freilassung aus der Haft in Charkiw im Februar. „Diese Frau ist das pure Böse!“, sagt sie.

Gestorben sei während der Revolution niemand für Klitschko, Timoschenko oder die Swoboda-Partei, sagt Oleg Vereemenko, sondern nur für das, was er eine auf dem Maidan für wenige Wochen Wirklichkeit gewordene Utopie nennt: Eine kleine Republik des gegenseitigen Respekts und Miteinanders, die mit Gewehrsalven vernichtet werden sollte. Veremeenko läuft mit dem Smartphone in der Hand die Straßen im Zentrum Kiews ab. Wenn er an Straßenlaternen oder Bushaltestellen Zettel sieht, auf denen das Foto eines Gesichts, ein Name und eine Telefonnummer vermerkt sind, bleibt er stehen und drückt auf die Kamera an seinem Mobilitelefon.

Beweise oder Fiktion?


Es sind die Vermissten vom Maidan, die dem Rechtsanwalt keine Ruhe lassen. Er und andere Aktivisten wollen aufdecken, was aus ihrer Sicht die Interimsregierung verschweigen will, das wahre Ausmaß der Opfer des Maidans. Weil das alte Regime im Grunde noch intakt sei, wären die Untersuchungen der neuen Regierung über die blutigen Ereignisse eine Farce, sagt Vereemenko. Kaum jemand auf dem Maidan glaubt im Moment daran, dass nur 100 Demonstraten im Februar auf dem Unabhängigkeitsplatz und in den anliegenden Straßen erschossen worden sind.

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Die vielen Vermisstenanzeigen auf dem Platz selbst und anderswo in Kiew sind für viele Beleg für angeblich Tausende von Toten, die in den Wäldern um Kiew verscharrt oder in den Dnepr gekippt worden seien. Im Mariinsky-Park am Parlament Werchowna Rada soll es Massenexekutionen gegeben haben. Auf Youtube kursieren Fotos von Friedhöfen, die es angeblich außerhalb Kiews geben soll. Sie zeigen frisch ausgehobene Gräber mit Kreuzen ohne Namen. All das klingt nach purer Fantasie. Aber es sind nicht nur die Fantasten unter den Revolutionsanhängern, die von solchen Gräueln überzeugt sind, sondern auch Männer wie Oleg Vereemenko.

Niemand kennt die genaue Zahl der Opfer


Der Rechtsanwalt hat sich in den Zeiten des Regimes einen Namen gemacht, weil er Opfer von Polizei- und Justizwillkür vertreten hat. Er war es gewohnt, Fakten unter widrigen Umständen zu sammeln. Manchmal hatte er sogar Erfolg. Doch nun hat er keine Fakten in der Hand. Die Erklärung der Organisation Euromaidan SOS, die Zahl der wirklich noch ungeklärten Fälle betrage 113, tut er als lächerlich ab. Es gäbe viele Ukrainer gerade außerhalb von Kiew, die weder Internet, noch Telefon, noch den Mut besitzen würden, um sich mit Euromaidan SOS in Verbindung zu setzen. Viele würden die Organisation gar nicht kennen und der Polizei vertraue ohnehin niemand. Es sind nicht einmal schlechte Einwände, nur Beweise sind es nicht.

Nach seiner Tour entlang der Vermisstenanzeigen in den Straßen der Innenstadt will Oleg Vereemenko noch ein Bier trinken im Café Kupidon an der Pushkinska-Straße. Es ist ein Treffpunkt für Maidan-Aktivisten, leicht erkennbar an den Guy-Fawkes-Masken an den Wänden. Der Sprecher des Rechten Sektors gehe in dem Lokal ein- und aus, obwohl sich hier auch Linke treffen, sagt er. „Es gibt kein Rechts und kein Links mehr seit der Revolution“, sagt sein Freund Alex Zakletsky. Der freischaffende Foto-Reporter hat sich an den Tisch dazugesetzt.

Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Bilderbuch-Alternativer aus Berlin-Kreuzberg: Lange Haare, Ziegenbart und eine Che-Guevara-Mütze auf der Wuschelfrisur. Von einem Kreuzberger Linken dürfte ihn aber unterscheiden, dass er Nationalismus inzwischen in Ordnung findet, solange kein Judenhass oder Rassismus im Spiel ist. Er denke so, nachdem die Ukraine gesehen habe, zu welchen Mitteln die andere Seite greife, sagt er. Die „andere Seite“ - Janukowitschs Regime und Russland – sind für Zakletsky offensichtlich identisch. Denn er schlägt einen Bogen von den Ereignissen auf der Krim und in der Ostukraine und in Odessa zu dem, was ihm selbst am 1. Dezember wiederfahren ist.

"Die wollten mich kaltmachen"


Nur einen Tag nach dem ersten Polizeieinsatz am 30. November auf dem Maidan macht der Fotoreporter Aufnahmen von einem Protestzug. Plötzlich umringen Berkut-Männer ihn und andere Journalisten, drängen die Gruppe mit Pfefferspray in einen Hinterhof. Dann kommt der Befehl an die Reporter, sich hinzuknien. Tritte, Schläge und Knüppelhiebe gehen über den Reportern nieder. Auf dem Boden krümmt sich Zakletsky in Embryohaltung um seine Ausrüstung zu schützen. Zuerst renken die Berkut-Männer ihm die Schulter aus, dann zielen sie mit dem Knüppel immer wieder auf seine Nieren. „Die wollten mich kaltmachen, um an die Kamera zu kommen“, sagt er. Seine Fingernägel krallt er in seine Oberarme, während er die Tortur schildert.

Als er zum Bier greift, werden halbmondförmigen Abdrücke in der Haut sichtbar. Oleg Vereemenko holt sein Smartphone aus der Tasche und stellt den Rekorder ein. Alles, was über die Gräuel des Regimes berichtet wird, scheint er dokumentieren zu müssen wie im Zwang. Alex Zakletsky spricht mittlerweile vom kommenden Krieg und von seiner Angst, dass die Berkut-Männer auf russischen Panzern zurückkommen nach Kiew. Er sieht sich wohl selbst schon wieder gekrümmt auf den Boden liegen, ohne Chance, den Knüppeln auszuweichen. Die seelischen Wunden der Maidan-Revolution haben noch nicht einmal begonnen zu heilen, da reißt der drohende Krieg sie wieder mit aller Brutalität auf.

Die Holzhütte, die Dasha Tsymbaluk mit Kosakengesichtern bemalt, ist auch mit einem Poster von Nelson Mandela geschmückt. Politische Figuren, die das Format Mandelas haben und das Trauma eines tief verwundeten Landes zu heilen vermögen, stehen in der Ukraine am 25 Mai nicht zur Wahl, da sind sich die Beobachter einig. Sie existieren bisher nur als ferne Ikonen.

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