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EU - Deutschland braucht Europa

Deutschland sollte endlich aufhören, den europäischen Partnern mit erhobenem Zeigefinger zu begegnen

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Klaus Harpprecht ist Publizist und Schriftsteller.

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Der Euro, raunzte Spiegel-Gründer Rudolf Augstein kurz vor seinem Tod, sei für Deutschland schlimmer als „Versailles“ – jener verhängnisvolle Vertrag des Jahres 1919, der Europa keinen Frieden bescherte, sondern ein Gewächshaus der Ressentiments war, die Adolf Hitler 1933 an die Macht in Berlin beförderten. Die Fantasien des großen Polemikers Augstein, der im Grund seiner Seele ein Deutschnationaler war, erfüllten sich gottlob nicht.

Die nationalistischen ­Ressentiments wuchern heute aber von neuem. Sie könnten die Europäische Union am Ende gar ersticken: diese produktivste Leistung unserer Völker nach der zweiten Katastrophe, dem Vernichtungskrieg, dem Millionenmord, der Verwüstung unserer Städte, dem Elend der Austreibung. 60 Jahre Frieden: ein Segen, der unserem Kontinent niemals zuvor zuteil geworden ist. 60 Jahre ohne Hunger: Auch das gab es nie. 60 Jahre des wachsenden Wohlstands, trotz aller Rückschläge und Krisen: zuvor nicht denkbar.
Das alles droht vor die Hunde zu gehen. Wenn wir die Signale nicht sehen wollen. Wenn wir blind und taub weiterstolpern, beleidigt und hochmütig zugleich – zumal die Deutschen und neben ihnen (oder hinterdrein) die Franzosen, die beiden, auf die es in Europa ankommt.

Frankreichs Präsident hat nach einem Jahr lähmenden Schweigens ein Konzept für Europa vorgelegt – eine verspätete Antwort auf Angela Merkels knappe Skizzierung ihrer europäischen Ziele vor gut einem Jahr. Wird die Bundesregierung sich bereit zeigen, eine Wirtschafts- und Finanzregierung für Euroland zu akzeptieren – so lautet Hollandes Vorschlag –, mit einem permanenten Präsidenten, der seine Minister (oder was immer sie sein mögen) wenigstens einmal im Monat um sich versammelt? Das wäre der Anfang einer politischen Union, deren Notwendigkeit sich aus der Wirtschaftsregierung ergibt. Großbritannien würde sich diesem Prozess vermutlich verweigern, aber das wäre kein allzu großer Verlust: Es will den gemeinsamen Markt, mehr nicht.

Zustimmung fände Frankreich gewiss beim Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die in Spanien 50 Prozent der jungen Menschen und in Frankreich ein Viertel aussperrt. Vielleicht gelänge auch eine Verständigung über die Grundlinien einer „Energiegemeinschaft“, obschon der deutsche Ausstieg aus der Nuklearenergie und die französische Abhängigkeit vom Atomstrom sich schwer miteinander verbinden lassen. Gegen die „Eurobonds“ und damit die Schaffung einer Schuldengemeinschaft wird sich die Kanzlerin samt der Bundesbank mit allen Mitteln sträuben. Der Plan scheint den Generalverdacht der Deutschen zu bestärken, sie müssten für die Misswirtschaft der „mediterranen Faulpelze und Verschwender“ aufkommen.

Es ist leider wahr: Die Deutschen lassen, wenn es darauf ankommt, die Partner ihre (derzeitige) Dominanz spüren. Zugleich gefallen sie sich – ein Zustand der Schizophrenie – in der Rolle des ausgebeuteten Opfers, obwohl sie von jedem europäischen Schritt zu einer Bündelung der Interessen bisher nur profitiert haben. Zu Recht fragte der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, ob sie noch „das Volk der guten Nachbarn“ seien, das einst Willy Brandt versprochen hatte. Steinbrück fordert einen „Marshall-Plan“ für Europa, der den Krisenländern das Wachstum bescheren soll, ohne das sie nicht auf die Beine kommen können. Nur mit einem Sparprogramm nach Berliner Diktat ist es gewiss nicht getan. Andernfalls droht in der Tat ein Absturz der gesamten Europäischen Union in die Depression. Deutschland nicht ausgenommen, das von den Märkten der Partner lebt.

Anders als die meisten deutschen Meinungsdirigenten wich eine Handvoll französischer Journalisten der bitteren Wahrheit des miserablen Zustands der Union nicht aus. Laurent Joffrin, Chefkommentator des Nouvel Observateur, erinnerte daran, dass Frankreichs verstorbener Präsident François Mitterrand einst gelobt hatte, Europa werde seine Bürger vor den Bocksprüngen der internationalen Geldwirtschaft schützen. In Wirklichkeit aber lieferte es mehr als 20 Millionen Menschen der Arbeitslosigkeit aus. Die Union verliere ihre Vitalität im Sumpf der Stagnation, schrieb Joffrin, sie entfremde sich ihren Bürgern. Würde über Europa in Volksabstimmungen entschieden, wäre es in den meisten der Mitgliedsländer zum Scheitern verurteilt. Tatsache ist: Der nationale Etatismus ist die schwierigste Barriere auf dem Weg zur europäischen Finanz- und Wirtschaftsregierung.

Es ist freilich nicht völlig undenkbar, dass dieser Part von den Deutschen übernommen wird. Die Europagegner stehen in Karlsruhe vor dem Verfassungsgericht Schlange, vornan der Präsident der Bundesbank Jens Weidmann mit seinem Gutachten zur Klage Peter Gauweilers. Weidmann lehnt – gegen die geschlossene Mehrheit seiner Kollegen – die Kreditpolitik der Europäischen Zentralbank ab.

Noch hält eine Mehrheit der Deutschen die Vorzüge Europas für größer als die Nachteile. Was sich allerdings mit dem Bruch der Konjunktur rasch ändern könnte. In Frankreich hingegen dominieren die antieuropäischen Ressentiments. Doch François Hollande – vermutlich Vernunft-Europäer wie Angela Merkel – hat endlich verstanden, dass die Kluft zwischen Frankreich und Deutschland nicht noch größer werden darf. So pfiff er den Präsidenten der Nationalversammlung Claude Bartolone zurück, der eine Konfrontation mit den Deutschen und ihrer obsessiven Sparreligion gefordert hatte.
 

Bisher bestand der Währungsbund die Zerreißproben, obschon ihm die Medien, allen voran Spiegel und Bild, Woche für Woche, ja Tag für Tag den Untergang vorhersagten. In Europa werde wieder deutsch gesprochen, hörten die Nachbarn aus Berlin. Jens Weidmann erhofft vom Bundesverfassungsgericht vermutlich, dass die Richter in den roten Roben seinen Argumenten mit Sympathie begegnen, weil sie selber sich gegen die Einsicht sträuben, dass ihnen der Europäische Gerichtshof als letzte Rechtsinstanz übergeordnet ist. Wolfgang Ischinger, Direktor der Sicherheitskonferenz in München, erklärte Frédéric Lemaître, dem hellsichtigen Korrespondenten von Le Monde in Berlin, vordem sei es akzeptabel gewesen, dass sich Deutschland mit einer sekundären Rolle hinter Frankreich und Großbritannien begnügt habe, doch müsse es nun – dank seiner starken Position in der Finanzkrise – den Mut haben, sich in der internationalen Szene mit dem gleichen Recht wie die Franzosen und Engländer zu Wort zu melden. Als habe es bisher nur verlegen zu lispeln gewagt! Als sei es nicht gehört worden, wenn es auch nur diskret gehüstelt hat!

Es ist wahr: Ohne die Solidarität des reichen Deutschland, das sich am Ende stets stöhnend zu den Milliardengarantien bereitfand, ginge Europa zugrunde. Mit ihm aber auch der kraftstrotzende Riese in seiner Mitte. Warum reckt sich dann der deutsche Zeigefinger, der die darbenden europäischen Brüder und Schwestern mahnt, noch mehr zu sparen? Das ökonomische Muskelspiel vermengt sich ungut mit der nervenden Schulmeisterei, die es dringend nahelegt, mit Berlin und in Berlin Fraktur zu reden.

Seit der Gründung des großpreußisch-kleindeutschen Reiches – ausgerechnet in Versailles – ist das innereuropäische Gleichgewicht gefährdet. Die Diplomatie Bismarcks nach den drei „Einigungskriegen“ war vom Bemühen bestimmt, dennoch eine Art von Balance zu schaffen, die eine friedliche Koexistenz der Großmächte erlaubte. Sein Werk überdauerte ihn nicht lang.

Trotz der ungeheuerlichen Verluste, die der Koloss im Zweiten Weltkrieg erlitt – von denen seiner Opfer zu schweigen –, ließ sich voraussehen, dass er eines Tages seine Nachbarn wieder überragen werde. Zumindest durch sein wirtschaftliches Potenzial und die Masse seiner Menschen. Wache Akteure wie Winston Churchill, Jean Monnet, Robert Schuman oder Konrad Adenauer verstanden die Vereinigung Europas als die einzige Chance, das Ungetüm dauerhaft zu zähmen. Indes, der Zusammenschluss stockte nach der Geburt der gemeinsamen Währung. Folgerichtig setzt sich der böse Mechanismus wieder in Gang: Die ökonomische Leistungsfähigkeit des Riesen weckt die Furcht vor seinem bisher gottlob nicht klar formulierten hegemonialen Ehrgeiz.

Der Ausbruch aus dem Teufelskreis kann uns nur durch den radikalen Abschied von der ohnedies illusionären Unabhängigkeit der Nationalstaaten gelingen. Dies verlangt von Frankreich – dem Partner, ohne den nichts gelingen kann –, dass es über seinen Schatten springt und sich zu einer Bündelung der Souveränitäten in einer Föderation der Eurostaaten entschließt. Die Gleichberechtigung der Mitglieder des Bundes müsste ein Senat garantieren, in dem – nach amerikanischem Vorbild – jeder Staat, ob klein oder groß, durch zwei Repräsentanten vertreten ist. Die Föderation verlangt einen inneren Finanzausgleich, der so selbstverständlich sein muss wie die gegenseitige Hilfe unter den deutschen Bundesländern.

Das ist die Lage: Die Union wird zerfallen, wenn sich die Eurostaaten – mit ihnen Polen und, wenn es denn angeht, auch Tschechien – nicht zu einem Bundesstaat zusammenfügen. Nirgendwo wären die Interessen der Deutschen besser aufgehoben als in der europäischen Föderation. Jede Etappe der Vereinigung hat ihr Wohl gesteigert. Europa soll endlich Glück mit den Deutschen haben – und die Deutschen mit Europa.

 

 

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