
- Wenn die Leber brennt
Viele der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind traumatisiert. Doch für sie gibt es genauso wenig therapeutische Angebote wie für die Deradikalisierung von IS-Sympathisanten. Jan Kizilhan bildet im Irak Psychotherapeuten aus und kennt die Schwierigkeiten der transkulturellen Behandlung
Sie erklären die Grausamkeit des IS damit, dass seine Ideologie den Menschen entmenschlicht und seine Opfer daher nur als Objekt wahrnimmt. Warum ist der Psyche des Menschen so etwas prinzipiell inhärent?
Dafür muss man lange in die Geschichte zurückblicken und die ersten Menschengruppen, die sich gebildet haben, betrachten. Dabei spielt die Angst als Überlebensstrategie eine wichtige Rolle. Die Angst definiert uns und wenn sie unser Überleben sichert, ist sie zunächst etwas Positives. Ist sie allerdings dysfunktional, weil es eigentlich keine Gründe gibt, Angst zu haben, dann liegt ein Problem vor. Das trifft zum Beispiel auch auf Personen mit Angststörungen zu, die beispielsweise das Haus nicht verlassen, weil sie glauben zu sterben, obwohl es realistisch keinen Grund dafür vorhanden ist. Menschen haben in mehreren Jahrtausenden Ängste entwickelt, gekoppelt an Überlebensstrategien. Diese sind gleichzeitig an Aggressionen gebunden. Die Menschen haben durch Gewalt Erfahrungen des Erfolgs gesammelt: Sie haben einen Anderen getötet und konnten ihm seine Beute wegnehmen – dadurch überlebten sie selbst länger. Später hat man territoriale Kämpfe geführt und mit Gewalt Gebiete verteidigt oder erobert. Der Mensch hat in seiner Existenz von Anfang an gelernt, Menschen zu töten. Durch die Kultivierung und Sozialisation müssen wir heute jegliche Art von Tat und Gewalt legitimieren. Wenn die Räume und Bedingungen gegeben sind, sind Menschen aber grundsätzlich in der Lage, Andere zu töten. Die Mehrheit der Menschen kann töten.
Sie haben gesagt, die Täter des IS hätten größere Chancen, psychisch gesund zu bleiben, als die Opfer. Sie entgingen einer Traumatisierung, weil sie das, was sie tun, als richtig erachten. Ganz allgemein: Wie bekämpft man eine Ideologie?
Eine Ideologie zu bekämpfen ist schwierig. Man muss Gegenargumente finden, die tatsächlich diese Ideologie infrage stellen und von diesen Ideologie-Anhängern angenommen werden. Erst dann ist es möglich, an die Personen heranzukommen. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Ideologie dysfunktionale Überzeugungen hat, dann müssen diese mit funktionalen Einstellungen ersetzt werden. Das ist eine große Herausforderung, vor allem dann, wenn Personen in Gruppen zusammen sind. Gruppen definieren Einstellungen und tragen zur Identität bei. Dabei empfindet eine Peer-Group die „Anderen“ als Feinde und projiziert ihre Schwächen auf sie. In ihrem Wahn glauben die Ideologie-Anhänger, dass die Schuld für ihre Misere oder das Unrecht, welches sie vielleicht erlebt haben, bei „den Anderen“ liegt.
Wie können diese Gegenargumente im Bezug auf die Ideologie des IS aussehen?
Menschen aller Religionen und Kulturen glauben an Gerechtigkeit und Menschenrechte, diese müssen aber auch für die Anderen und nicht nur in der eigenen Gruppe gelten. Humanität, Freiheit und Solidarität sind Ansätze einer Diskussion, die mit Radikalen geführt wird. In der Regel müssen wir so lange richtige Fragen stellen, bis die eigenen dysfunktionalen Kognitionen erkannt werden. Hierzu brauchen wir aber einen Kontakt, Dialog und Geduld, um mit diesen Personen daran zu arbeiten. Medien und Politik können hier eine wichtige Rolle spielen, indem sie nicht spalten und stereotypisieren. Das führt dazu, dass diese Ideologie-Anhänger sich in ihren dysfunktionalen Überzeugen bestärkt sehen und sich eine Konfliktspirale entwickelt, die dann schwierig zu lösen ist.
Gibt es Menschen, bei denen man sagen muss: Wir können sie von ihrer Ideologie nicht mehr abbringen oder besteht immer Hoffnung?
In der Theorie besteht immer Hoffnung. Eine Veränderung der Position ist zum Beispiel durch Erfahrungen in einer anderen sozialen Umgebung möglich. Wenn Menschen aber sehr früh in eine solche Ideologie einsteigen, über Jahrzehnte so sozialisiert werden und die Ideologie durch kulturelle Werte unterfüttert wird, dann ist es sehr schwierig. Dann ist die Ideologie nämlich Teil der Identität geworden.
Wie beurteilen Sie die Infrastruktur der Behandlung von traumatisierten Opfern des IS in Deutschland?
Wir haben weder ausreichend Personal noch ausreichend Institutionen. Ich gehe davon aus, dass von den Geflüchteten, die allein 2015 zu uns gekommen sind, 20 bis 30 Prozent traumatisiert sind, also rund 200.000 Menschen. Diese Personen brauchen eine ambulante oder stationäre Therapie. Wir haben zu wenig muttersprachliche Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter und Dolmetscher. Das alles müsste von der Bundesregierung und den Ländern stärker finanziert werden. Wir haben sogenannte Trauma-Zentren für Flüchtlinge, aber sie sind unterbesetzt und bekommen keine finanzielle Unterstützung. Teilweise warten 100 bis 2.000 Personen und haben Glück, wenn sie einmal im Monat drankommen. So kann eine Psychotherapie nicht funktionieren.
Und wie steht es um die Deradikalisierungsprogramme?
Wir müssen uns verstärkt mit Deradikalisierungsmaßnahmen in den Gefängnissen beschäftigen, denn die meisten Rekrutierungen durch den IS finden in Moscheen, sogenannten Kulturvereinen und Gefängnissen ab. Ich habe dort viele Interviews mit Personen geführt, die in die Richtung des Terrors gehen. Das zeigt, dass die Psychologen und Sozialarbeiter dort viel stärker ausgebildet werden müssen, aber auch das Personal muss erkennen: Was sind das für Bücher, die der Insasse da bestellt, mit welchen Gruppen spricht er? Nicht umsonst sagen die Vertreter des IS: „Unsere Universitäten sind die Gefängnisse.“ Sie bilden die Leute dort regelrecht aus. Die Maßnahmen müssen außerdem viel langfristiger gedacht werden, gerade wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Wir müssen sie engmaschiger begleiten – in Kooperation mit den Schulen, Sozialarbeitern und gegebenenfalls Therapeuten. Diese Personen müssen zwei bis drei Jahre begleitet werden, damit man sicherstellen kann, dass sie wieder ein Teil dieser Gesellschaft sein können.
Wo liegen die Schwierigkeiten, Opfer aus dem Nahen und Mittleren Osten mit westlich geprägter Psychotherapie zu behandeln?
Wir haben in einigen Ländern Gruppen, denen der Begriff der Psyche fremd ist. Dort gibt es natürlich dennoch Menschen mit einer Trauma-Störung oder einer Depression, aber die Vorstellung von Gesundheit und Krankheit ist eine völlig andere. Wenn im Arztgespräch die Symptome dargestellt werden, müssen wir diese richtig einordnen können. Die Menschen haben möglicherweise eine andere Körper-Codierung für Emotionen, denn sie ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Während bei uns das Herz etwas Emotionales ist, ist es bei den Arabern die Leber. Jemand, der über eine brennende oder schmerzende Leber berichtet, ist nicht alkoholkrank. Es kann sein, dass er traurig ist und mit etwas nicht zurechtkommt und deshalb immer wieder sagt: „Meine Leber brennt.“ Wenn es um Traumata durch sexualisierte Gewalt geht, stehen wir noch vor einer weiteren Hürde. Ich habe bereits mehr als 2.000 Frauen untersucht, die von Anhängern des IS vergewaltigt wurden. Diese Frauen geben zunächst einmal nur ihre körperlichen Schmerzen an und wollen nicht über ihr Trauma und die Vergewaltigung sprechen. Sie kommen aus einer Schamkultur und nicht aus einer Schuldkultur. Die Frauen schämen sich dafür, über die Tat zu sprechen – genau das müssen sie aber tun. Hier können wir narrative Formen ihrer Kultur gut in die moderne Psychotherapie integrieren. Hier brauchen wir transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, die die Kultur und Ressourcen dieser Menschen in der Behandlung einzusetzen sucht.
Seit März 2017 bilden Sie im Nordirak Psychotherapeuten mit dem Schwerpunkt Traumatologie aus. Wie erfolgreich ist das Projekt bislang?
Ich nehme in diesen Tagen mündliche Prüfungen per Skype ab, denn wir konnten aus Sicherheitsgründen nicht in den Irak fliegen. Bislang sieht alles toll aus: Wir haben 30 Studierende, 19 Frauen und 11 Männer. Es handelt sich um Psychologen mit einem Bachelor-Abschluss. Mit uns machen sie nun eine Doppelqualifikation nach deutschen Kriterien: Einen Masterabschluss und die gleichzeitige Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten. Die Studierenden müssen dafür 4.200 Stunden Unterricht haben, 1.800 Stunden Patienten behandeln, Supervisionen und Selbsterfahrungen durchführen. Wir wollen die Qualität hochhalten – so wie wir hier auch Therapeuten ausbilden – mit der Idee, dass ein Teil dieser Gruppe das Institut weiterführen kann, sodass im Irak und hoffentlich auch in Syrien Psychotherapeuten ausgebildet werden. Die Universität, an der wir das Institut nun gegründet haben, liegt in der Provinz Dohuk. Auf die zwei Millionen Menschen, die dort leben, kommen fünf Psychiater. Hinzu kommen hunderttausende Flüchtlinge. Wie sollen fünf Psychiater fast 2,5 Millionen Menschen behandeln? Es ist etwas völlig Neues für den Nahen und Mittleren Osten, nie zuvor wurden Psychotherapeuten in dieser Form ausgebildet. Meine Hoffnung ist, dass wir mehrere Kurse an verschiedenen Universitäten anbieten können und es zu einem Regelstudiengang wird. Es wäre schön, wenn wir im Irak zukünftig nicht 30, sondern 1.600 Therapeuten hätten, um in Richtung einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu gelangen. Es ist nicht einfach, denn man muss viele Leute überzeugen, um dies durchzuführen. Aber durch die Gräueltaten des IS und die Traumatisierung ganzer Gesellschaften sind irakische und kurdische Politiker auf uns zugekommen und haben gesagt: „Sie müssen etwas tun, wir kommen damit nicht mehr zurecht.“
Wie werden die irakischen Psychotherapeuten die Opfer des IS künftig behandeln?
Wir bilden sie verhaltenstherapeutisch aus – nach der CBT – der sogenannten cognitive behavioural therapy. Das ist eine allgemeine Ausbildung, denn Iraker haben natürlich auch Krankheiten wie Depressionen, Angst- oder Essstörungen. Zusätzlich legen wir aber den Schwerpunkt Psychotraumatologie, da dies die dringlichste Thematik ist. Im Augenblick haben all unsere Studierenden sechs bis zehn Patienten, die sie behandeln. Wir sind ständig in Kontakt mit ihnen und machen die Supervisionen – entweder von Deutschland aus oder im Irak selbst. Wir sind regelmäßig mit einer Gruppe deutscher, englischer und schwedischer Professoren und Dozenten im Irak und unterrichten vor Ort. Durch die Spannungen wegen des Referendums haben wir zwei Wochen ausgesetzt, aber wir gehen davon aus, bald wieder anreisen zu können.
Sie haben die Gefahr beschrieben, dass IS-Kämpfer als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und ihre schädliche Absicht hinter einer geschauspielerten Maske verbergen. Wie können wir uns davor schützen und wie können Psychologen diejenigen demaskieren?
Der IS-Terror hat der westlichen Welt den Krieg erklärt und wird mit allen Mitteln und Wegen versuchen, uns Schaden zuzufügen. Dabei töten IS-Kämpfer auch bewusst Kinder, weil sie wissen, dass wir sehr emotional reagieren, wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Kinder zu schützen. Sie werden dafür sowohl die Wege nutzen, über die Flüchtlinge zu uns kommen, als auch auf diesen Wegen Flüchtlinge für sich rekrutieren. Diese Rekrutierungen laufen häufig auf dem Fluchtweg und in Flüchtlingsheimen ab, in denen wir wenig Kontrolle haben. Oft wissen wir nicht, woher jemand kommt, wie er sich entwickelt hat und ob er psychisch krank ist. Wir müssen deshalb hier neue Untersuchungsleitfäden schaffen, insbesondere der Verfassungsschutz, der BND und die verschiedenen Polizeidienste. Wir müssen anders damit umgehen, wenn es darum geht, Terroristen ausfindig zu machen: Hier müssen die nationalen und internationalen Sicherheitskräfte und Geheimdienste zusammenarbeiten, was bisher nicht gut läuft. Wir wissen, dass sie sich in bestimmten Räumen bewegen und diese müssen stärker kontrolliert werden. Was die Flüchtlingsentscheidungen betrifft, brauchen wir andere Interviews – von ausgebildeten Polizisten, Dolmetschern und Richter, die schnell Widersprüche erkennen und zuverlässige Gefährdungsprofile und -analysen erstellen können. Jetzt schon haben die Behörden gelernt, an den Dialekten die Herkunft zu erkennen. Das Alter der Gefährder liegt in der Regel zwischen 18 und 26. Außerdem müssen wir die muslimischen Gemeinden dazu motivieren, sich nicht zu schämen oder als Verräter zu fühlen, wenn sie gefährliche Leute erkennen. Im Gegenteil: Sie müssen wissen, dass es ihre Bürgerpflicht ist, solche Personen der Polizei zu melden. Es dient zum Schutz aller. Die Terroristen machen keinen Unterschied, ob ein Muslim oder Deutscher bei einem Anschlag getötet wird.
Ein Zitat von Ihnen lautet: „Die islamische Welt muss das Problem des IS erledigen. Wir sind Zuschauer und zum Teil auch Opfer dieses Terrors. Der Islam befindet sich in einer tiefen Krise.“ In welcher Form muss sich der Islam positionieren?
Der Islam muss die Rolle der Gewalt klären und deutlich machen, dass in einer Religion keinem Menschen Gewalt angetan wird oder er getötet wird. Der Islam muss überzeugend darlegen, dass Menschen nicht gezwungen werden, zu konvertieren, wie es in der Vergangenheit passiert ist. Frauen wurden zu diesem Zwecke etwa vergewaltigt. Historisch gesehen hat der Islam ein Problem mit Gewalt und der Legitimierung von Gewalt und Religion. Ein Hauptproblem liegt auch in der Reformablehnung. Der Islam vertritt den Standpunkt, dass das, was im Koran steht, nicht verändert werden darf. Seit der Entstehung des Korans gab es aber eine 1.400-jährige Entwicklung mit gesellschaftlichen und technischen Veränderungen. Ich erlebe bei meinen Besuchen in Syrien und im Irak, dass die Menschen dort dieses Dilemma erkennen. Bei jeder Veränderung im Islam entstehen jedoch radikale Bewegungen wie der IS, der Reformen mit aller Gewalt verhindern will. Das gab es schon im 18. Jahrhundert mit den Wahhabiten in Saudi-Arabien, den Muslimbrüdern und später mit Al-Qaida und anderen Organisationen im 20. Jahrhundert. Sobald der Islam versucht sich in Richtung Reform und Demokratie zu entwickeln, entstehen solche Gruppen. Das ist ein Problem, was innerhalb des Islam gelöst werden muss. Einige Gruppen projizieren diese Schwäche aber auf die Anderen – den Westen.
Vernachlässigt die Rolle des Westens als Zuschauer nicht die militärischen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten, die in den vergangen Jahrzehnten zur aktuellen politischen Situation beigetragen haben?
Wir sind natürlich nicht immer nur Zuschauer gewesen. Aber jetzt ist es zu spät, zu sagen, wir hätten nach dem Ersten Weltkrieg anders handeln müssen. Der Westen ist ein Teil des Problems im Nahen und Mittleren Osten geworden und kann sich nicht herausziehen. Wenn wir so tun als seien wir nur Beobachter, verleugnen wir die Realität. Deswegen plädiere ich dafür, dass die westliche Welt sich dort viel stärker zu erkennen gibt, politische Versionen zeigt und demokratische Strukturen unterstützt. Wenn wir als Europäer davon überzeugt sind, dass Demokratie das beste System ist, dann müssen wir dafür auch kämpfen, nicht nur in Europa. Wir können nicht an der griechischen oder bulgarischen Grenze sagen, „das ist Demokratie“, und alles andere interessiert uns nicht. Wir haben eine historische Verantwortung im Nahen und Mittleren Osten, weil wir in den vergangenen 100 Jahren sehr viel falsch gemacht haben. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir in den nächsten zwei oder drei Generationen dort erfolgreiche Friedensprozesse entwickeln können, aber für das langfristige Ziel demokratischer Strukturen müssen wir jetzt damit beginnen, vor allem Entwicklungsprojekte und Außenpolitik und zugleich Friedenspolitik zu betreiben.
Prof. Dr. Dr. Jan Kizilhan ist Orientalist und transkultureller Psychotherapeut. Er hat mit traumatisierten Opfern ebenso gesprochen wie mit Schlächtern und Henkern des Islamischen Staates.