Neugier und Bazillen

Stefan Kaufmann ist einer der renommiertesten Immunologen der Welt. Darüber hinaus verfügt der Begründer und Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie über eine erlesene Sammlung medizinhistorischer Werke, die bis in die Renaissance zurückreicht.

Was macht einen großen Forscher aus? „Ich habe keine besondere Begabung“, bekannte Albert Einstein, „sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“ Ebenso wusste Galileo Galilei, dass Neugier „immer an erster Stelle eines Problems“ steht, „das gelöst werden will“. Ein leidenschaftlicher, übermäßiger Wissensdrang treibt auch den Mediziner Stefan Kaufmann an. Er hat ihn nicht nur zu einem international renommierten Tuberkuloseforscher gemacht, sondern auch zum Besitzer einer erlesenen Sammlung historischer Medizinbücher. Denn, so Kaufmann, „ich möchte als Wissenschaftler mit eigenen Augen lesen, was unsere Vorgänger wirklich gedacht und geschrieben haben“. Wer Stefan Kaufmanns Schätze sehen will, muss ihn in seinem Arbeitszimmer am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie auf dem Gelände der Berliner Charité besuchen. In einem etwas seltsam wirkenden Bau, dessen gezackte Tannenbaum-Fassade architektonisch an die Giebel der neogotischen Klinikgebäude rundherum anknüpft. Hier wird modernste Spitzenforschung betrieben, und gleichzeitig ist der Boden durchtränkt mit Geschichte: Wo sich heute die meterlangen Verankerungspfeiler des Neubaus in den sumpfigen Untergrund am Spreeufer bohren, standen um die vorige Jahrhundertwende noch die Krankenbaracken, in denen Dr. Robert Koch die Versuche mit Tuberkulin betrieb, dem Impfstoff, den er gegen das gefürchtete Lungenleiden zu entwickeln suchte. Stefan Kaufmann sucht nun, 100 Jahre später, immer noch nach einem effizienten Impfstoff gegen die wieder gefährlicher werdende, weil durch mittlerweile oft resistente Bazillen ausgelöste Infektionskrankheit. Die klinischen Studien laufen – mehrere Tausend Labormäuse bewohnen das Dachgeschoss des Max-Planck-Instituts –, aber ob das neue Mittel hält, was es verspricht, wird man erst in acht Jahren wissen. Dass Kochs Tuberkulin nur zur Diagnostik taugte, trägt der 63-jährige Professor mit den wachen braunen Augen seinem berühmten Vorgänger nicht nach. Im Gegenteil, als passionierter Fan hat er alle Veröffentlichungen des Nobelpreisträgers gesammelt – die Originalausgabe der Berliner Klinischen Wochenschrift etwa, in der Koch am 10. April 1882 seinen bahnbrechenden Text über „Die Aetiologie der Tuberculose“ publizierte. Er besitzt eine Nummer des Scientific American von 1890 mit einer Reportage über einen Laborbesuch bei Koch. Sogar einen vergilbten Zettel mit der handschriftlichen Steuererklärung des Tuberkulose-Entdeckers hat eine Studentin für ihn in den Archiven ausgegraben. Darin verzeichnete der Forscher neben der Pension von 10080 Goldmark als „Remuneration von der South Africa Company“ sehr stattliche Bezüge von 160000 Goldmark. Unten auf den Zettel hatte Kochs junge Ehefrau Hedwig empört mit Bleistift gekritzelt: „Und ich musste um ein Paar neue Schuhe kämpfen wie eine Proletarierfrau.“ Versonnen blickt nun die überlebensgroße Gipsbüste des legendären Forschers auf das herrlich vollgestopfte Arbeitsgemach seines Nachfolgers. Vor der gläsernen Fensterfront stapeln sich zahllose Fachmagazine und Lehrbücher. Ein Buddha hockt im Lotussitz auf einem Tischchen. An den Wänden hängt eine Grafik von Christos verpacktem Reichstag und ein wundervolles großformatiges Ölgemälde des preußischen Impressionisten Theo von Brockhusen. Daneben steht eine einen Meter hohe Wäscheklammer aus Holz, die Kaufmann von einem jungen Künstler beim Urlaub an der Ostsee gekauft hat. Die Schreibtischunterlage vor dem Computer ist über und über mit Telefonkritzeleien verziert. Seitlich vom Computer steht eine 30000-Lux-Lampe gegen das Jetlag, dahinter ein riesiger schwarzlederner Massagesessel und ein modernistisches Stehpult. Die eigentlichen Preziosen, die alten Bücher, verbergen sich hinter den getönten Scheiben einer deckenhohen Einbauwand. Wie jeder stolze Sammler liebt es der Professor, sie vorzuführen. „Hier, schauen Sie sich das an!“ Eine schwere Schwarte im Schweinsledereinband klappt wie von selbst an der Stelle auseinander, die er zeigen will. Da sieht man eine kleine Zeichnung, einen Kreis mit zwei, drei länglichen Stäbchen darin – „das“, ruft Kaufmann strahlend, „ist die erste Darstellung eines Bazillus überhaupt!“ Das Buch, erschienen im Jahr 1685, ist verfasst von Anthonius van Leeuwenhoek und trägt den Titel „Ontdeckte Onsigbaarheden“. Leeuwenhoek, erzählt Kaufmann, war Tuchhändler in Delft. Als Hobby schliff er nebenbei Linsen zu – und zwar schärfere als alle seine Zeitgenossen – und betrachtete durch die selbst gebastelten, winzigen Mikroskope, was ihm so unterkam: die eigene Spucke, Schuppen, Haare, Samenfäden, Mückenhirne, Läuseaugen, Pflanzenpollen oder Regenwasser. Darin sah er zu seinem eigenen Erstaunen zahlreiche kleine Lebewesen herumwuseln. „Er war der erste Mensch, der Bakterien sah.“ Seine Beobachtungen schrieb und zeichnete Leeuwenhoek sorgfältig auf und schickte die in niederländischem Platt verfassten Episteln an die 1660 neu gegründete Royal Society in London, was ihn zum Urvater der Mikrobiologie und bald weltberühmt machte. Versteht er denn niederländisches Platt? Nein, das nicht, lächelt Kaufmann, aber er hat natürlich auch die lateinische und deutsche Version des Buches. Und das Lateinische kann er lesen? „Na, das ist schon harte Arbeit. Dazu komm ich nur in den Weihnachtsferien.“ Und wo buddelt er seine Schätze aus? „Über das ZVAB“, sagt er und weist auf den Computer, „findet man ja heutzutage fast alles.“ Das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher im Internet habe das Stöbern in staubigen Buchkisten und Hinterzimmern von Antiquariaten überflüssig gemacht. Was Kaufmann wiederum auch schade findet, denn so habe er mit dem Sammeln begonnen: „In Breslau, Wien, Prag, Budapest, immer wenn ich dort auf Kongressen war.“ Auf 300 bis 500 Bände schätzt er seine Sammlung. Die Erstbeschreibung der Lepra ist darunter, erstaunlicherweise aus Norwegen, „wo die Krankheit im 19. Jahrhundert endemisch war“, kostbare lateinische Werke des englischen Arztes Thomas Sydenham von 1661 und des Franzosen Franciscus Deleboe Sylvius von 1677 – „und die Tuberkulosensammlung ist inzwischen ziemlich vollständig. Hier, wenn Sie schreckliche Lungen sehen wollen.“ Liebevoll öffnet Kaufmann ein paar großformatige Ausgaben mit kolorierten Handzeichnungen. Die schauerlichsten Krankheitssymptome sind dort zu sehen, scheußliche Geschwüre und pustelübersäte Körper. Was den Laien abschreckt, scheint den Arzt mit tiefer professioneller Zufriedenheit zu erfüllen. Hat er sich nie geekelt vor solchen Monstrositäten? „Doch“, sagt der gebürtige Ludwigshafener, Sohn eines BASF-Chemikers: „Sogar so sehr, dass ich mich einmal entschieden habe, lieber doch nicht Medizin zu studieren. Das war, als ich als Jugendlicher das Hunterian Museum in London besuchte, das Museum der Royal Surgeons of England.“ Zum Glück blieb es nicht bei der Entscheidung. Und was die Briten einen „acquired taste“ nennen, lässt ihn nun über seine Bücher reden wie einen Sommelier über seine Grands Crus. „Virchows ‚Cellularpathologie‘ habe ich zu Hause, aber dies hier sind die ‚Geschwülste‘, die sind auch sehr gut.“ Mehr noch, diese Sammlung an körperlichen Verunstaltungen ist für Kaufmann ein nicht enden wollendes Projekt. Den Nachlass von Paul Ehrlich hat er kürzlich aufgekauft. Der Nobelpreisträger und Begründer der Immunologie hatte im Berlin der vorigen Jahrhundertwende mit Robert Koch zusammengearbeitet. „Das war wie eine Wundertüte.“ Manches, was beim besten Willen nicht mehr als Original zu erwerben ist, wie die berühmte Anatomie „De humani corporis fabrica“ des Flamen Andreas Vesalius von 1543, besitzt der Professor zumindest in einer Edition, welche die anatomischen Zeichnungen aus der Renaissance in all ihrer Pracht zur Geltung kommen lässt. Gibt er viel Geld aus für seine Sammlung? „Ach, die Bücher kosten zwischen 200 und 5000 Euro“, sagt Kaufmann. „Das ist immerhin viel billiger als ein Porsche. Ich habe gar kein Auto und brauche auch keines. Ich wohne hier um die Ecke.“

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