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(picture alliance) „Dichtung ist ein Weg zum Heil“, fand schon der alte Dichter.

Wallace Stevens - Lyrik auf dem Weg ins Versicherungsbüro

Das Paradies auf Erden zu schaffen, ist eine enorme Aufgabe für die Poesie. Wallace Stevens, Vizepräsident einer amerikanischen Versicherungsgesellschaft und daneben einer der wortgewaltigsten Dichter der USA, ist dies im vergangenen Jahrhundert bewundernswert gelungen

Wenn es um Sinn und Zweck der eigenen Tätigkeit geht, neigt der moderne Poet zuweilen zu erheblicher Selbstüberschätzung. Ein gutes Beispiel dafür ist Wallace Stevens, über dessen Leben sich nur unwesentlich mehr sagen ließe als: dass er 1879 in Reading, Pennsylvania, geboren wurde; dass er ein wenig Philosophie, vor allem aber Jura studierte, um danach als Angestellter, später als Vize-Präsident einer Versicherungsgesellschaft im beschaulichen Hartford, Connecticut, tätig zu sein und schließlich 1955 zu sterben. Dieser Mister Stevens erdachte seine Gedichte nicht nur, wie berichtet wird, häufig auf dem morgendlichen Fußweg ins Büro. Er notierte sich nebenbei auch Aphorismen wie „Dichtung ist ein Weg zum Heil“ oder: „Hat man den Glauben an Gott aufgegeben, ist Dichtung jene Wesenheit, die seinen Platz einnimmt als des Lebens Erlösung.“ Eine Nummer kleiner ginge es gewiss auch.

Aber warum eigentlich? Immerhin gehört die Vorstellung, Dichtung diene zur „Kompensation für alles, was verloren ging“ (Stevens), seit der Romantik zum Grundbestand kunstreligiöser Totalitätsansprüche – und war damit zugleich ein wesentlicher Motor ästhetischer Innovation. Wie sich ein totaler Anspruch in fulminante Poesie verwandelt, kann man nun in einer zweisprachigen Auswahl-Ausgabe von Stevens’ Gedichten nachlesen, fachkundig herausgegeben und – neben den Übertragungen von Hans Magnus Enzensberger, Karin Graf, Durs Grünbein und anderen – übersetzt von Joachim Sartorius.

Arbeit an der höchsten Fiktion

Im Zentrum der Stevens’schen Dichtung steht eine genuin moderne Erfahrung: Einer, der sich als „Schüler auf der Suche / nach himmlischen Rendezvous“ begreift, sieht auf und bemerkt, dass „der Himmel leer ist“. Es ist diese Kluft zwischen dem, was der Einzelne sich erhofft, und dem, was an Erfüllung erwartbar ist, die Stevens immer wieder in seinen bild- und wortgewaltigen Reflexionspoemen umkreist. Die Frage lautet dabei nicht zuletzt, ob „die Erde nicht / Schon alles sein“ wird, „was wir vom Paradies erfahren“, wie es im Gedicht „Sonntag morgen“ aus dem späten Erstling „Harmonium“ (1923) heißt.

Seite 2: Der Bär, / zimtfarbene Masse, brummt auf seinem Berg

Entscheidend für Stevens ist jedoch nicht der Verlust des jenseitigen Paradieses, sondern die Möglichkeit eines irdischen. Und genau hier kommt die Poesie ins Spiel. Sie ist es, die jene Schönheit und Ordnung erfahrbar machen kann, die der prosaischen Wirklichkeit auf den ersten Blick mangelt: „Eine Ordnung zu entdecken, zum Beispiel / eine Jahreszeit, den Sommer zu entdecken und ihn zu kennen, // den Winter zu entdecken und ihn gut zu kennen, zu finden, / nicht aufzuerlegen, überhaupt keine Schlüsse gezogen zu haben, / aus dem Nichts heraus zu dem Wesen des Wetters zu kommen, // das ist möglich, möglich, möglich. Es muss / möglich sein.“ Im trotzigen Insistieren auf der Möglichkeit, die verborgene Ordnung der Welt zu erfahren, fallen metaphysische Tragik und poetischer Wille dieser Dichtung in eins. Denn das diesseitige Paradies, von Stevens auch als „höchste Fiktion“ („supreme fiction“) bezeichnet, ist ein Artefakt, das der Dichter im poetischen Akt erst herstellen muss.

Doch bei Stevens’ Idee einer höchsten Fiktion geht es eben nicht nur um Fiktion, nicht darum, ein weltfernes Refugium aus reiner Phantasie zu errichten. Stevens’ Gedichte sind vielmehr eminent welthaltig, stets auf der Suche nach der besten aller möglichen und also der „höchsten“ Weise, die Wirklichkeit zu sehen, zu hören, zu fühlen – und in Verse zu fassen. Für einen jener flüchtigen „Augenblicke des Erwachens“ mag sich dann eine gleichsam paradiesische Harmonie offenbaren: „Balancen, die einfach geschehen, // so wie eine Frau und ein Mann sich begegnen und fortan lieben.“

Vom Überfluss

Eben darin liegt die Größe dieser Gedichte: dass es in der Begegnung mit ihren Bildern zu Momenten kommt, in denen sich „heftig, zufällig, persönlich“ das Gefühl inniger Vertrautheit und unbedingter Richtigkeit einstellt. Es sind dies Momente, da man bemerkt, dass man diese Bilder „fortan lieben“ wird – Bilder wie dieses zum Beispiel: „Der Bär, / zimtfarbene Masse, brummt auf seinem Berg // den Sommerdonner an und schläft sich durch den Winterschnee.“
Hinter der hehren Rede von ästhetischer Erlösung zeigt sich hier ein beinahe demütiges Programm. „Nur zeigen sollten sie etwas, / mit ihren armseligen Worten“, schreibt Stevens an einer Stelle über seine Gedichte, „und wäre es nur im Dämmerlicht, / von der Gestalt, den Gesichtszügen, und vom Überfluss / des Planeten, auf dem sie zuhaus waren“.

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