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Kunst nach dem Terror - Wir Davongekommenen

Die sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach werden selten gespielt. Gestern interpretierte sie Yo-Yo Ma im Rahmen der Festtage der Berliner Staatsoper. Er widmete sie den Opfern von Brüssel. Die Botschaft eines bewegenden, beklemmenden Abends: Weil Kunst Freiheit ist, protestiert Kunst gegen Unfreiheit

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wir Davongekommenen saßen still, hielten still, fast zweieinhalb Stunden lang. Einmal aber, für eine ganze lange Minute, war die Stille nicht mehr zu steigern, verschwanden 2400 Menschen, die gekommen waren, um einem Mann und seinem Cello zuzuhören, ganz in einer Wolke aus Schweigen, allesamt. Es war ein lastendes, ein beklemmendes Schweigen gestern Abend um 21 Uhr 23 in der ausverkauften Berliner Philharmonie. Der amerikanische Cellist Yo-Yo Ma hatte gerade Bachs fünfte Cellosuite in c-Moll beendet. Immer länger zog er den Bogen über die Saiten, bis er zum Halten kam und da blieb, in absoluter Waagerechte, eine ganze Minute lang. Es war eine stumme Verneigung der 2400 Menschen vor den Toten von Brüssel.

Das Instrument ist das Leben, das der Künstler gestalten muss
 

Kunst kann das Schöne bannen, weil sie das Schreckliche kennt: Kein Künstler bestritte es. Hat Johann Sebastian Bach sich je tiefer in die Trauer des Einzelnen versenkt als in der vorletzten seiner sechs Cellosuiten? Das Instrument ist das Leben, das der Künstler und also der Mensch sich packen, das er gestalten muss. Nicht immer bringt es ihm Freude zurück. Das Programmheft sprach vom „verhaltenen, nachdenklichen Charakter des Werkes“, selbst das Prélude der fünften Suite sei „in sich gekehrt und zurückgenommen.“ Ja, so ist es, ist es oft, etwa bei Mstislav Rostropovich.

Gestern und bei Yo-Yo Ma war es nicht so. Zornig, nicht betrachtend stürzte sich der 60-jährige Ausnahmekünstler in den Vortrag, rang dem Instrument, dem Leben, grimmige, schroffe Töne ab, zog die Tempi an, setzte die Rhythmen hart aneinander. Wurde dieses Muster an Melancholie je irdischer gespielt? Ein Schrei war es, kein Wimmern. Ein Beben, kein Weinen.

Zuvor hatte Yo-Yo Man aufrecht und in makellosem Deutsch erklärt: „Meine Damen und Herren, ich möchte die fünfte Suite den Opfern widmen, die heute in Brüssel ums Leben gekommen sind.“ Damit war ausgesprochen, was 2400 Köpfe, Herzen und Seelen bewegte. Am Abend eines unfassbar mörderischen, unendlich traurigen islamistischen Attentats war die riesige Philharmonie ausverkauft für denkbar intime Lektionen der Strenge, des je aufgeschobenen und dann doch unvermeidlichen Endens, des Ringens um Leidenschaft in aller Form, um Form in aller Verworfenheit, den ganzen Korpus dieser sechs Wundersuiten.

Musik, die Trost spendet an einem Tag des Terrors
 

War das Eskapismus? Feiger Rückzug in die Innerlichkeit an einem Tag, da die äußere Welt zerbarst? Yo-Yo Mas Schuhe schienen zu schweben, immer mal wieder, über dem bis auf ihn, das Cello, einen Stuhl, ein Beistelltischlein und ein Wasserglas leeren Bühne, einen Fingerbreit zu schweben über der Angst, die uns die Kehle schnürte am Tag von Brüssel.

Zuvor hatten wir die furiose erste und die grüblerische zweite und die kraftvoll tanzende dritte und die schmetterlingsleicht gaukelnde vierte Suite gehört; die mal spröde, mal kinderliedhafte sechste sollte folgen. Als Dreingabe spielte er den „Gesang der Vögel“ des katalanischen Komponisten und Cellisten Pablo Casals, mit dem dieser den Schrei der Vögel nach „Frieden, Frieden, Frieden“ imaginierte.

Die fünfte Suite aber öffnete das Fenster weit in eine Welt des Schreckens, die wir in uns wie um uns spüren, und des Trosts, der nur kommt, wenn wir Trauer zulassen. Sie war keine Selbsteinkehr der glücklich Davongekommenen, 650 Kilometer Luftlinie entfernt, was ist das schon.

Schönheit als großes Bedürfnis des Menschen
 

Nein, sich zusammenfinden, um gemeinsam für eine einmalige Weile zu schauen und zu lauschen, was da vor fast 300 Jahren ein Köthener Hofkapellmeister erfunden und also in sich gefunden hatte, Klänge zu vergegenwärtigen, denen das bloße Lauschen nicht gerecht wird: Genau das ist die Freiheit, die dem Menschen geschenkt ist und die nun unter Feuern steht, die Freiheit der Kunst, die Freiheit des öffentlichen Lebens, die Freiheit der individuellen, der friedlichen Lebensgestaltung. „In Wirklichkeit“, sagte Benedikt XVI. einmal, „in Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“

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