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Georges Perec - Ein Roman ohne „E“

Der französischsprachige Autor Georges Perec hat 1969 einen Roman veröffentlicht, der komplett auf den Buchstaben E verzichtet. Eine besondere Herausforderung für Eugen Helmlé, der das Buch ins Deutsche übersetzte. Nun ist die deutsche Ausgabe neu aufgelegt worden

Autoreninfo

Zerpner, Annette

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Anton Voyl war allzu lang schlaflos, musst’ daraufhin zur Stirnhöhl-OP acht Tag’ ins Hospital. Zurück zu Haus litt Anton kaum noch, doch starb im Traum bald unsichtbar als Robinson-Double auf Insula im Monsun. Als Antidot zum Alpdruck plant Voyl nun Schöpfung von Roman mit Ödipusmär. Doch Hauptfigur Prinz Aignan ist plötzlich fort, und dann auch Autor Anton, ganz abrupt. Als Spur nur ’n Satz am Traktatschluss, so klingt’s Voyls Kumpagnon auf Lösungspirsch absurd im Ohr: „Bringt Advokat H., wo im Zoo ständig raucht, acht Whisky von Ia Qualität.“ Wo nur ist Voyl?

Der Versuch, selbst eine kurze Inhaltsangabe des ersten Teils von Georges Perecs berühmtem „E“-losem Roman „Anton Voyls Fortgang“ unter derselben Prämisse zu verfassen, mündet in grenzenlose Bewunderung für den Übersetzer Eugen Helmlé: Das Korsett freiwilliger Beschränkung, das sich der Autor Perec 1969 überstreifte, als er für die weit über 300 Seiten von „La Disparition“ auf den im Deutschen wie im Französischen häufigsten Buchstaben des Alphabets verzichtete, wurde für seinen Übersetzer ein ganzes Jahr lang zur regelrechten „Zwangsjacke“. Nun ist die 1986 erschienene deutsche Ausgabe neu aufgelegt worden.

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Davon, dass Eugen Helmlé keineswegs den Verstand verlor über der Aufgabe, dieses mit Intertexten gespickte „paraliterarische Ungeheuer“ nachzudichten, zeugt sein ebenso amüsantes wie erhellendes Nachwort. Darin spürt er der Wirkung des „lipogrammatischen Romans“ nach, wie die kleine Gattung der um ein Buchstaben-Tabu herumgeschriebenen Erzählwerke korrekt heißt.

Hinter Perecs „Disparition“ steckt aber weit mehr als ein sehr französischer Sprachspieltrieb: Unübersehbar eingeschrieben ist dem Roman der Hinweis auf die Künstlichkeit von Literatur und unserer durch die Sprache begrenzten Weltwahrnehmung. Das verbotene „E“ nimmt Möglichkeiten der Anteilnahme mit sich, übrig bleibt eine rohere „Sprache von Befehlsempfängern und Befehlsgebern“, wie der Übersetzer beobachtet. Oberflächlich betrachtet ist „Anton Voyls Fortgang“ eine wilde, verschachtelte Krimigroteske, in der Blut aus allen Knopflöchern fließt und überdrehte Aufziehpuppen massenhaft auf dem Schafott oder am „Kolossalbandwurm“ zu Grunde gehen. Dahinter jedoch liegen Abgründe, die das Lachen gefrieren lassen – aufblitzende Momente von Revolution, Diktatur, Bombenhagel und Genozid. Sie sind biografisch verankert durch das Verschwinden von Georges Perecs Mutter im Holocaust.

In einem Rutsch wird diese absichtsvolle Roman-Zumutung sicherlich kaum jemand lesen. Einen direkten Effekt auf die eigene Sprachwahrnehmung hat die Lektüre aber unbedingt: Vom „E-liminierungs“-Virus infiziert, beginnt man unwillkürlich, alle Wörter in Reichweite auf ihre „E“-Haltigkeit zu prüfen. In einem Romankosmos ohne Freundschaft, Liebe oder Teekannen, in dem Fenster zum „Wandloch mit Glas davor“ werden, sind Glück und Schönheit selten. Aber auch nicht völlig unbekannt: „Olga sang manchmal Schumann. Olgas Stimmorgan tönt silbrig in Nachtluft.“

Georges Perec: Anton Voyls Fortgang. Roman. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Diaphanes, Zürich 2013. 416 Seiten, 14,95 Euro.
 

 

 

 

 

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