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Diversitätsgerechte Lehre - Falsches Mitleid mit Arbeiterkindern

Kisslers Konter: Die FU Berlin sorgt sich um Kinder aus „Nicht-Akademiker-Haushalten“. Um diese optimal betreuen zu können, werden sie zu Dummköpfen erklärt. Das zeigt: Die Gleichstellungsindustrie basiert auf Stolz und Vorurteil

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Auf einmal sind sie verschwunden: Wo bis vor wenigen Tagen die „Empfehlungen zur Gestaltung von Lehrveranstaltungen mit heterogenen Studierendengruppen“ an der Freien Universität Berlin einsehbar waren, heißt es nun „Fehler 404: Seite nicht gefunden.“ Das ist schade. Der Fortschritt muss warten, die „diversitätsgerechte Lehre“ kommt nicht voran.

Das neueste Spitzenprodukt aus dem Sprachumerziehungskombinat will besagen: Unterrichte stets so, liebe Lehrende, lieber Lehrender, dass jeder und jede mitkommt. Herze alle, lerne die Unterschiede kennen und gib jeder und jedem das gute Gefühl, in der Mitte angekommen zu sein, was auch immer er reden oder tun mag. Das Diverse soll weichen, das Eine werden. Sei immer diversitätsgerecht.

Nur sprachliche Einwände sind statthaft, wenn das Ringen um Diversitätsgerechtigkeit Kranken oder Behinderten gilt. „Erhöhte Toilettenbesuche“ (meint: häufige Gänge zum stillen Örtchen) sollten selbstverständlich nicht zu schlechten Zensuren führen. „Veranstaltungen in berollbaren Räumen“ (meint: in Räumen ohne Stufen und mit breiten Gängen) sollten selbstverständlich organisiert werden. Und dass „Studentinnen und Studenten mit Migrationshintergrund/Migrationserfahrung“ nicht gegenüber „Bildungsinländerinnen und Bildungsinländern“ diskriminiert werden dürfen, ist die Weisheit der Binse. Ob die Zugewanderten deshalb automatisch „hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit anderen Studentinnen und Studenten gleichgestellt sind“ und nicht mal besser, mal schlechter, sei aber bezweifelt.

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Skurril, bizarr, dreist und dumm, wenn nicht gar diskriminierend ist hingegen der empfohlene Umgang mit einer frisch entdeckten Minderheit, den „Studentinnen und Studenten aus Nicht-Akademiker-Haushalten“. Bekanntlich hat die staatliche Betreuungs- und Beratungsindustrie einen derart gefräßigen Magen, dass sie immer neue Minderheiten produziert, die sie erst einmal in den Stand der Überforderung setzen muss. Nur Überforderte rechtfertigen Betreuung. An der FU Berlin sind es die „Studentinnen und Studenten aus Nicht-Akademiker-Haushalten“, die zu Tröpfen erklärt werden, damit man sich ihrer annehmen kann. So funktioniert das Spiel der Gleichheitslobbyisten: Wir erklären dir deine Defekte, dann reden wir über deine Dummheiten, und alles wird gut.

Menschen, deren Eltern keine Universität besuchten, sind laut diesen „Empfehlungen“ sehr schwierige, fast bemitleidenswerte Fälle. Ihre offenbar vererbte „geringere kulturelle und soziale Sicherheit im akademischen Milieu“ macht sie zu ängstlichen, mundfaulen Wesen, die manchmal sehr dummes Zeug reden. Sie haben eine „eventuelle Ehrfurcht vor der akademischen Welt“.

Der diversitätsgerechte Dozent weiß sich zu helfen, sofern er durch gezieltes Ausfragen die Familienbiographie entschlüsselt hat: Er wird dann „jeden Redebeitrag – unabhängig von der Qualität – wertschätzen“. Kolumbus hat im 19. Jahrhundert Kolumbien gegründet? Lächle und freue dich, ein Nicht-Akademiker-Kind spricht zu dir. Die diversitätsgerechte Dozentin wird „akademische Fach- und Fremdwörter unaufgefordert definieren.“ Subjekt und Diskurs war gestern, sprich von Hauptwort nur und von Gespräch, vermeide auch „kategorischen Imperativ“, es war „Kants Befehl“! Und außerdem weiß der diversitätsgerechte Prof, dass es „keine dummen Fragen gibt“: Ein Student will wissen, warum Adenauer die Berliner Mauer baute und was sich Lothar Matthäus mit dem Evangelium dachte? Lächle abermals und freue dich, Nicht-Akademiker-Kinder schauen dich an.

Nun gut, es heißt jetzt, die „Empfehlungen“ wollten eine „Diskussionsgrundlage“ sein, zusammengestellt von den „Arbeitsbereichen Qualitätssicherung in Studium und Lehre“ zweier Fachbereiche. Und ist es nicht ein Zeichen von Einsicht, dass das Papier nach diversen Entrüstungswellen im Internet entfernt wurde und die FU um Entschuldigung bittet für „generalisierende Formulierungen“?

Der Rückzug ändert freilich nichts am langen Atem, mit dem das Elitenprojekt der Gleichstellung vorangetrieben wird. Unter dem Mantel der Fürsorge verbergen sich oft Stolz und Vorurteil. Die Jäger nach immer neuen Ungleichheiten halten sich für gleicher als die anderen.

 

 

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