
- Offenheit als Kulturprothese
Kolumne Grauzone: Unsere pluralistische Gesellschaft wird gern als besonders integrationsfähig angesehen. Dabei ist Integration ohne Kultur nicht möglich. Leider ist die uns verlorengegangen, schreibt Alexander Grau
In Sachen Erinnerungskultur macht uns Deutschen niemand etwas vor. Jahrestage sind unsere Königsdisziplin. Entsprechend ausführlich wurde in dieser Woche des 30. Augusts 2015 gedacht, jenem Tag, an dem Angela Merkel die deutsche Öffentlichkeit mit der frohgemuten Botschaft beglückte: „Wir schaffen das“.
Wer ist dieses „wir“?
Seit jenen Spätsommertagen des letzten Jahres erleben wir eine mediale Dauerreflexion. Kommentatoren überbieten sich darin, zu beurteilen, wie integrationsfähig die Einwanderer sind, welche Schwierigkeiten einer erfolgreichen Integration entgegenstehen, welche Chancen sie birgt und welche Risiken. In schon manischer Weise widmet man sich Fragen der Religion, der Kultur, der Mentalität der Migranten.
Nur mit einer Gruppe befasst sich interessanter Weise kaum jemand: mit uns, den Aufnehmenden, dem ominösen „wir“ der Kanzlerin. Es ist ein beredtes Schweigen. Wie selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass „wir“ aufnahmefähig sind, guten Willens und ausreichend offen. „Wir“, so hat man den Eindruck, „wir“ sind überhaupt kein Problem – ein paar fremdenfeindliche Wirrköpfe einmal ausgenommen. Die soziologische These, die stillschweigend hinter dieser optimistischen Einschätzung „unserer“ Aufnahmefähigkeit steht, lautet in etwa: Die deutsche Gesellschaft ist ganz überwiegend so tolerant, weltoffen, pluralistisch, modern und multikulturell, dass es ihr leicht fällt, Menschen fremder Kulturen aufzunehmen und einzugliedern.
Pluralismus hemmt Integration
Was ein rührendes Bild. Und ein naives dazu. Denn der Kurzschluss von „weltoffen“ und „pluralistisch“ zu „integrationsfähig“ ist voreilig und fahrlässig. Immerhin stellt sich die Frage: In was genau wollen pluralistische Gesellschaften Menschen eigentlich integrieren? Schließlich sind Pluralismus und Multikulturalismus selbst keine Kultur, sondern das Ergebnis sozialer Ausdifferenzierungen. In welche der vielen Lebenswelten und Kulturmilieus sollen die Einwanderer sich eigentlich einleben?
Es keimt ein böser Verdacht: Vielleicht sind pluralistische Gesellschaften nur eingeschränkt integrationsfähig – eben weil sie pluralistisch sind. Und umgekehrt: Womöglich sind homogene, traditionsorientierte Gesellschaften viel integrationsfähiger, eben weil sie klare Richtlinien bieten und klare Orientierung – zumal für Menschen, die aus traditionsverwurzelten Gemeinschaften stammen.
Hinzu kommt: Was bitteschön haben wir diesen Menschen eigentlich zu bieten? Freiheit, Toleranz, Offenheit? Klingt gut. Doch das sind Meta-Werte. Im praktischen Alltag ist das schwammig und seltsam inhaltsleer. Was aber bleibt darüber hinaus? Auf die Gefahr hin, kulturpessimistisch zu klingen: Es bleibt nichts. Die Ideologie der Offenheit ist uns zur Kulturprothese geworden.
Integration ohne Kultur geht nicht
Man zappe sich an einem beliebigen Tag durch das deutsche Fernsehprogramm, noch immer ein guter Spiegel dieses Landes. Wem, so muss man ketzerisch fragen, will man eigentlich zumuten, in diese Gesellschaft integriert zu werden?
Kulturelle Integration setzt Kultur voraus – bei den Aufnehmenden. Aber welche Kultur haben wir unseren neuen Mitbürgern anzubieten? Kuppelshows? Dschungel-Camps? Sex-Talk in der Endlosschleife? Man kann jeden Einwanderer verstehen, der sich angewidert abwendet und den Eindruck hat, in eine Schwundstufe menschlichen Miteinanders geraten zu sein, die das Label „Pluralismus“ als Feigenblatt vor die eigene Sinnleere hält.
Wie integrationsfähig Einwanderer sind, sei einmal dahin gestellt. Eines muss man ihnen aber zugute halten: Sie kommen immerhin aus Gesellschaften, denen man noch so etwas wie Kultur attestieren kann. Anders bei uns. Hierzulande überwiegt das Plumpe, Laute und Vulgäre – im Alltag auf der Straße, im Miteinander, im Fernsehen, vom so genannten „Kulturbetrieb“ ganz zu schweigen. Kultur? Das hatten wir einmal. Sie ist Anfang des 20. Jahrhunderts untergegangen.
Wir haben uns verloren
Integration in eine Kultur kann es nur dort geben, wo es ein verbindliches kulturelles Angebot gibt. Postmoderne pluralistische Gesellschaften als besonders integrationsfähig darzustellen, ist daher Augenwischerei. Sie können Einwanderern per definitionem nichts anderes bieten, als Nischen, also die Etablierung weiterer Sub- und Parallelgesellschaften.
Alternativen hierzu? Kaum. Denn wie soll eine Gesellschaft, die sich selbst verloren hat, fremden Menschen Halt und Orientierung geben?