Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

„Cindy aus Marzahn” - Die neue Gottschalk

Ilka Bessin alias „Cindy aus Marzahn” ist die fleischgewordene Einheit – und eine nationale Therapeutin

Autoreninfo

Daniel Haas lebt als freier Autor in Hamburg. Zuletzt war er Kulturkorrespondent der NZZ in Berlin.

So erreichen Sie Daniel Haas:

Die Monstren der Unterhaltungsindustrie haben Kulleraugen, zumindest in der Hauptstadt. Da glotzt einen jetzt auf Plakaten eine Blondine an, mit eingefrorenem Lächeln und Haut aus Silikon. Barbie, das Plastikgeschöpf, zieht tatsächlich nach Berlin. Ende März soll ihre Villa bezugs- und besuchsfertig sein. Das kriegen sie nur an der Spree hin: Das rosa glitzernde Spielzeugdomizil einer Plastikpuppe wird in veritabler Lebensgröße nachgebaut.

Wir haben zum Glück auch die Gegenfigur im Angebot, ebenfalls ein pink ausstaffiertes Prinzesschen, allerdings mit dem Körper von Hulk Hogan und der Mimik eines Bullterriers: Cindy aus Marzahn, bürgerlich Ilka Bessin, 42 Jahre alt, Deutschlands erfolgreichster Comedy-Star. Eine Zeit lang sah es aus, als sei sie nur ein weiterer Spleen der hiesigen Prollversessenheit, das weibliche Pendant zu Dieter Bohlen und Mario Barth. Das Derbe, Unverblümte schätzt man ja gerade in Zeiten komplexer Lebenszusammenhänge. Bei all den „Friends“ des virtuellen Online-Lebens ist es gut zu wissen, wen man verabscheuen kann.

Bessin kommt nicht aus Marzahn, einer Plattenbausiedlung im Osten Berlins, entstammt aber genau jenem Milieu, das RTL gerne als Fundus nutzt für seine Depraviertheitsshows. Geboren in Luckenwalde (Arbeitslosenquote 11,6 Prozent), Tochter eines LKW-Fahrers und einer Näherin, stückelt sie sich keine Erwerbsbiografie zusammen, sondern einen Desintegrationshintergrund. Köchin gelernt, Kellnerin geworden, rausgeflogen, jahrelang arbeitslos, Hartz IV. 2005 will man sie zu einer Stelle als Skilehrerin verdonnern, bei 30 Kilogramm Übergewicht.

[gallery:Es war einmal bei „Wetten, dass...?“: Gottschalk und seine Politiker]

Wenn dich sogar das Transferleistungssystem zur Witzfigur erklärt, dann mach es doch lieber selbst: Bessin bewirbt sich beim „Quatsch Comedy Club“, der ersten Komikerbühne des Landes, der Rest ist moderne Folklore: Auftritte bei „TV total“, eigene Sendung bei RTL, Solotourneen, ausgefüllte Hallen. Da stapft sie dann über die Bühne, eine schnaufende Presswurst im Frotteekostüm. Das Stilprinzip heißt ordinärer Narzissmus, es geht um Sex- und Geldmangel, Sucht und Einsamkeit. „Ich habe Alzheimer-Bulimie“, sagt sie mit regloser Miene. „Ich fresse und vergesse hinterher zu kotzen.“ Da wiehern alle, unabhängig vom Body-Mass-Index. „Für Geld mach ich alles“, geht es weiter. „Auch Playboy, klar. Das Geld hat auch gestimmt. 500 Euro hab ich denen bezahlt.“

So eine wird also zu „Wetten, dass ...?“ berufen, der letzten großen Renommiershow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. „Was kommt als Nächstes?“, fragte sich der verblüffte Kulturbürger. Ersetzt Bushido demnächst Günther Jauch? Folgt Daniela Katzenberger auf Maischberger? Ist das eine weitere Volte jener Medienpostmoderne, die uns Trash immer als Ironie verkauft und Kalkül als Kreativität?

Nächste Seite: Cindy, die nationale Therapeutin

Sieht man genauer hin, stellt sich die Personalie als vollkommen stimmig heraus. Das ZDF hat, vermutlich aus Versehen, das genau Richtige getan und einen der wenigen Entertainer bestallt, der heute noch zur Konsensbildung fähig ist. Dass das ausgerechnet eine übergewichtige Exköchin aus dem deutschen Osten ist, kann man deprimierend finden oder, wie die New York Times, die Bessin ein Porträt widmete, einfach nur amüsant. In Amerika kommen sie mit solchen Karrieren besser zurecht. Dort weiß man, dass symbolischer und materieller Gewinn in Zeiten strauchelnder Volkswirtschaften für viele nur noch im Sport oder in der Unterhaltungsbranche zu finden ist.

Cindys Kniff: Sie fungiert als nationale Therapeutin und mildert das lebenswelt­liche Leid gleich mehrerer Zielgruppen. Der Bürger kann sich gruseln und gleichzeitig sicher wähnen. Die Angst des Mittelstands, ins Subproletariat abzurutschen, wird nach dem Modell des magischen Denkens gebannt: Wenn ich es mir nur eklig genug ausmale, tritt es nicht ein.

Die Prekarisierten hingegen haben eine Bestätigung, dass ihr Elend vielleicht nicht mehr subventionsfähig, dafür aber medial verwertbar ist. Das ist das Glücksversprechen, das auch Castingshows in Gang hält. Jeder kann es demnach schaffen, soziale und ethnische Handicaps bergen ein Karrierepotenzial. Und Frauen freuen sich über eine Wuchtbrumme, die Rucola für einen Mädchennamen hält. Das hilft über die Komplexe hinweg, die man sich beim Konsum von „Sex and the City“ eingefangen hat. Jetzt, da selbst Brigitte zu Size-Zero-Models zurückgekehrt ist, lässt man sich gern trösten im XXL-Format.

Diese Qualität, einen Kulturausgleich unterschiedlicher Milieus herbeizuwitzeln, hatte auch Thomas Gottschalk. Mit seinen exzentrischen Anzügen und der Lockenmatte war er ein Dandy für Arme; sein Auftreten war exklusiv, und weil es zugleich billig wirkte, war es sympathisch. Gottschalks Weltläufigkeit, seine Duzfreundschaften mit Stars aus Hollywood, machten ihn satisfaktionsfähig für die gehobene Klientel. Das Grelle aber, das Kumpelhafte, das waren seine Gesten für jedermann. Wenn mal ein Scherz unter die Gürtellinie rutschte, umso besser. Cindy ersetzt deshalb nicht Michelle Hunziker, die ehemalige Assistentin, sondern Gottschalk. Das ist die bislang größte Pointe dieser rundweg erstaunlichen Karriere.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.