- „Bundespräsident hätte mich schon gereizt“
Warum EM-Boykottaufrufe kontraproduktiv sind, Denkmäler im Fußball schnell angepinkelt werden und warum Messis Demütigkeit vorbildlich ist. Trainerlegende Hans Meyer im Interview
Herr Meyer, Sie werden 70 Jahre alt in diesem Jahr, sind
so gesehen im besten Alter. Otto Rehhagel wurde mit 70 noch
Trainer, der Bundespräsident ist über 70 und auch Adenauer ist mit
über 70 erst Kanzler geworden. Reizt es Sie nicht noch mal, die
heimischen vier Wände gegen das Grün einzutauschen?
Bundespräsident hätte mich schon gereizt. Aber ich bin mir nicht
sicher, ob meine Weste dafür weiß genug ist. Und mit 70 bin ich
zuhause bei meinem Hund und mit meinen Freiräumen, die mir das
Rentnerdasein lässt, viel besser aufgehoben.
Sie
haben mal gesagt: „Wollten Sie mir einen Heiligenschein aufsetzen,
ich würd ihn sofort runterreißen“…
… Nein, das habe ich so nicht gesagt, das klingt ja falsch
bescheiden. Den Heiligenschein, zumindest symbolisch, hätte ich
schon verdient. Ich habe etwas anderes gesagt, das auf dasselbe
hinaus läuft: Im Fußball baut man Dir schnell ein Denkmal, aber
genauso schnell pinkelt man es an. Aber Heiligenschein im Fußball,
das meinen Sie jetzt doch bitte nicht ernst.
OK, bleiben wir beim Denkmal. Jetzt zur EM werden wieder
fleißig Denkmäler errichtet, nur, um sie dann schnell wieder
einzureißen. Spielt beispielsweise die Nationalmannschaft zwei
Spiele schlecht, wird sie verrissen, spielt sie wieder gut, folgt
Lob in höchsten Tönen. Fußball ist doch irgendwie
extrem.
Das ist er ohne Zweifel. Wir sind Mitfavorit. Für 70 Prozent der
deutschen Fans sind wir sogar der einzige. Die Medien fordern zum
Teil böswillig – in jedem Fall aber ganz massiv – den
Europameistertitel und blenden aus, dass Löw mit seiner Mannschaft
eine Vorbereitung hatte, die aus objektiven, aber auch aus
subjektiven Gründen alles andere als optimal gelaufen
ist.
Konnte Jogi Löw sicher damit rechnen, dass durch das DFB-Pokalfinale mit einem Großteil seiner Nationalspieler seine Teamvorbereitung gestört wird, so war nicht automatisch geplant, dass die Bayern das Zweite Mal in drei Jahren das größte Clubfinale erreichen. Soweit die notwendigen Einschränkungen des Bundestrainers. Als überflüssig wie einen Kropf empfand ich aber das zusätzlich verzögerte Eintreffen der Bayernspieler bei der Nationalmannschaft durch das Zusatzspiel gegen Holland.
[gallery:Fußball trifft Politik]
Und am Ende ist der Trainer, ist Jogi Löw, die ärmste
Sau. Er muss die Verantwortung für einen möglichen Misserfolg
tragen.
Er arbeitet seit Jahren mit so großem Erfolg an seinem Team, dass
ich nicht glaube, dass er sich im Falle des von Ihnen erwähnten
möglichen Misserfolgs hinter solch einer Detailfrage versteckt. Ich
meine nur, dass die Clubs sich bei beißenden Terminfragen
(August-Abstellung) berechtigt beim Verband bzw. bei den
Föderationen beschweren und dann selbst nicht vorbildlich
handeln.
Soweit zum Negativen aus sportlicher Sicht. Lassen Sie
uns auch über die politische Dimension sprechen. Das Gruppenspiel
gegen die Niederlande findet in Charkiw statt, nicht unweit des
Stadions ist Frau Timoschenko inhaftiert. Wie erleben Sie die
Boykottdiskussionen?
Ich finde es nicht in Ordnung, dass immer bei bedeutenden
Sportereignissen die Probleme der Weltpolitik gelöst werden sollen.
Bei der Unterschiedlichkeit der Regierungsformen in der Welt und
den von uns angelegten Maßstäben dürfte mit Sicherheit China nicht
der größte Exportpartner von Bayern sein, und müsste eigentlich ein
Aufschrei durch unsere Medien gehen, wenn wir mit Angela Merkel in
Länder (mit sehr zweifelhaften Menschenrechtsauffassungen)
Wirtschaftsdelegationen (einschließlich Rüstungsproduzenten)
schicken. Und können Sie mir mit Sicherheit sagen, dass Frau
Timoschenko allein aus politischen Gründen und nicht vielleicht
doch für kriminelle Vergehen in Haft genommen wurde?
Kann ich nicht, aber zumindest hat sie doch ein
gerechtes Verfahren verdient.
Sie meinen ein gerechtes Verfahren nach unserer Rechtsauffassung.
Das wäre schön. Ich habe gelesen, dass deutlich mehr Regierungen
Ländern vorstehen von denen massive Menschenrechtsverletzungen aus
gehen als nur die Ukraine. Insofern müsste doch eigentlich alles,
was international an Sportveranstaltungen läuft, in Frage gestellt
werden. Und zwar vorher, wenn die Wahl stattfindet. Dass es in der
Ukraine Probleme gibt, wissen wir nicht erst seit heute. Wir
wussten es bereits, als die EM vergeben wurde und es hat sich
niemand gestört - niemand. Zumindest hat es die Presse nicht so
rübergebracht.
Insofern kann es nicht die Aufgabe des Sportlers sein,
geradezurücken, was die Politik versäumt hat. Aber man darf doch
zumindest von den Funktionären erwarten, dass sie sich klar
positionieren.
Es ist nicht Aufgabe der Funktionäre, es ist Aufgabe der Politik,
konsequent zu sein. Was sollen denn die Funktionäre machen? Sollen
sie zu Platini gehen und sagen „Platini, du, pass auf, wir bleiben
zuhause“? Ich darf doch mal kräftig lachen. Und glauben Sie nicht,
dass auch nur ein Fußballer, außer Lahm, während der EM daran
denken wird, dass irgendwo eine politische Gefangene oder auch eine
tatsächlich Kriminelle in der Nähe sitzt. Gehen Sie auch ruhig
davon aus, dass niemand registrieren wird, ob irgendein
Mittelklasse- oder Spitzenpolitiker einem Spiel fern bleibt
oder nicht. Das ist populistisch und wird vielleicht bei einigen
Wählern im nächsten Wahlkampf honoriert.
Wenn man aber diesen Populismus umgehen will, müsste man
doch politische Überlegungen und Erwägungen bereits bei der
Bewerbung einfließen lassen.
Aber bereits diese politischen Erwägungen sind doch auch in einer
unglaublichen Art und Weise fadenscheinig und problematisch. Warum
muss ausgerechnet der Sport, der so viel für positive Kontakte und
Verständigung zwischen den Völkern tut, als Präzedenzfall
politischer und moralischer Konsequenz herhalten. Politik und
Wirtschaft sollten sich da nicht so einfach raus machen.
Sie waren jahrelang in der DDR aktiv. Haben Sie da auch
Negativerfahrungen gemacht?
Aber permanent. Fragen Sie Ihren Vater, die Politik ist doch
ständig eingeschritten in sportliche Dinge. Einmal sind die
olympischen Spiele in Moskau von den USA und ihren Verbündeten,
einmal vom ganzen Ostblock in den USA boykottiert worden. Was
meinen Sie, wie das bei den Sportlern ankam? Da trainiert
irgendeiner sein ganzes Leben und dann kommt die Politik und sagt
„nein“.
Ich wollte auf Ihre persönliche Situation zu sprechen
kommen. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Mensch wie Sie, der
seine Meinung mit einer gesunden Portion Ironie und Sarkasmus
äußert, in einer real existierenden Diktatur nicht
aneckt.
Es würde sicher zu weit gehen, mit Ihnen darüber zu reden, wie sich
die DDR in ihrer Gesamtheit dargestellt hat. Gehen Sie davon aus,
dass ich in der Partei war, dass ich im Leistungssport gearbeitet
habe, über Jahrzehnte mit Funktionären zu tun hatte, also mit
Leuten hinter diesem System. Ich war kein Freiheitskämpfer
und habe ich mich auch nie so eingeengt gefühlt, dass ich
gesagt hätte, mir ist dieses Leben der DDR eine richtige Fessel
gewesen. Ich habe meine Familie gehabt, mein Auskommen. Ich habe
die bequemen Seiten dieses Systems auch genossen und hatte
zusätzliche Privilegien als Fußballer. Ungleich größer allerdings
waren die Privilegien, wie ich sie durch meinen Beruf nach der
Wende in der freien Marktwirtschaft hatte.
Dennoch vermute ich, dass Sie damals wahrscheinlich auch
schon ein politisch denkender Mensch waren.
Bei den Grundprinzipien – den großen Teil des Volkes mit sozialen
Sicherheiten auszustatten und eine der freien Marktwirtschaft total
widersprechende Arbeitsplatzpolitik zu betreiben – habe ich mich
schon ziemlich schnell gefragt, wie das gehen soll.
Resultiert Ihr Sinn für Ironie und schroffe Subtilität
daraus, dass Sie innerhalb einer Diktatur früh lernen
mussten, das Eigentliche mit dem Uneigentlichen
auszudrücken?
Nein, das sollten Sie nicht auf die politische Ebene ziehen.
So war ich schon von klein auf, als ich noch nicht wusste,
dass die Politik eine Hure ist.
Im Sport galten Sie als gefürchteter Interviewpartner.
Besonders mit den Boulevardmedien standen Sie auf Kriegsfuß. Die
BILD mieden Sie irgendwann ganz. Wie schwierig ist es im Fußball,
die wohl einflussreichste Zeitung zu boykottieren?
Im Grunde genommen habe ich versucht, ganz normal mit den Medien
umzugehen. Irgendwann durchschaut man aber das System bestimmter
Blätter. Es wurde teilweise nicht nur falsch, sondern auch
böswillig berichtet. Und wenn irgendjemand mir gegenüber böswillig
ist: Welchen Grund sollte ich haben, weiterhin Interviews zu geben?
Ich hab mich dann irgendwann mal entschieden mit dieser einen
Zeitung nicht mehr zu sprechen. Und habe übrigens nie darunter
gelitten. Dabei heißt es doch immer, ohne die geht es nicht. Ich
war danach aber noch an vier Stationen Bundesliga-Trainer. Es ging
also trotzdem.
Zurück zum Sport: Welcher Spieler verkörpert für Sie den
perfekten Fußballer und was macht diese Perfektion
aus?
Das ist schwer. Du kannst Pele nicht mit Johann Cruyff, du kannst
Cruyff nicht mit Beckenbauer vergleichen. Wenn ich Cruyff habe
spielen sehen – mit Carl Zeiss Jena durfte ich sogar einmal gegen
ihn antreten – ging mir das Herz auf. Das geht mir mit Messi
ähnlich. Diese Jungs haben in einer Art und Weise Fußball im Blut,
in ihren Bewegungen, einfach fantastisch. Die Beweglichkeit, die
Klasse, den Instinkt im Rhythmuswechsel, die Schnelligkeit, die
Leichtigkeit in den Bewegungen. Und wenn ich an Messi denke, in der
bescheidenen Art und Weise wie er auftritt, das sind Spieler, die
muss man einfach gerne haben.
Der heutige Typus Star-Spieler ist ein anderer als noch
vor zehn Jahren. Einer wie George Best wäre heute doch undenkbar.
Wie viel Individualismus verträgt der Fußball?
Er verträgt eine ganze Menge. Der zurzeit beste Fußballer, Messi,
ist trotz dieser unglaublichen Lobhudelei so viel demütiger
und bescheidener, als man es glauben mag. Messi spielt mit bei
Ballverlust, hat keine Allüren, sondern weiß ganz genau, dass es
ohne die Mitspieler nicht geht. Oder nehmen sie Raul. Wie dieser
Weltfußballer auf Schalke aufgetreten ist, war sensationell. In
dieser Hinsicht verträgt der Fußball sehr viel Individualität. Aber
wenn Individualität heißt, Extravaganzen zur Schau zu stellen, wenn
es bedeutet, dass ein Spieler zwei Tage vor einem Spiel nach Wien
fliegt, um in irgendeiner Bar durchzusaufen, dann verträgt der
Fußball weniger davon.
Sie trainierten die deutsche Autoren-Nationalmannschaft.
Was unterscheidet denn die Literaten von den
Ballkünstlern?
Nicht so sehr viel. Auch bei den Literaten spielen Eitelkeiten und
Egoismen eine Rolle. Das gibt es auf allen Ebenen. Da gibt es
Wasserträger, die froh sind dabei zu sein und andere, die vom
Niveau her in der Dritten Liga spielen könnten. Dann gibt es
Spieler, die du als Trainer eigentlich nicht bringst, wenn du
gewinnen willst, dort kann man es aber tun. Das hat mir gefallen.
Insgesamt eine im Grunde schöne Sache, Fußball und Kultur
zusammenzubringen. Gut, wenn die große Öffentlichkeit mitbekommt,
dass im Grunde genommen der Fußballer auch lesen kann und dass
viele der früheren entstandenen Klischees eigentlich nicht mehr
tragen.
…und gut, dass der Lesende auch Fußball
spielt.
Gut, dass er sich nicht in sein Stübchen zurückzieht und nur in
seinen eigenen intellektuellen Ansprüchen schmort.
Herr Meyer, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Timo
Stein
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