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(picture alliance) Es gibt sie, die Exit-Strategie für die Piraten

Nach dem Parteitag - Die große Chance der Piraten

Ja, dieser Parteitag war chaotisch. Und nein, er bedeutet nicht das Ende des Schwarms. Nicht einmal einen neuen Tiefpunkt: Die Piratenpartei könnte sogar wegen, nicht trotz Bochum bei der Bundestagswahl 2013 Erfolg haben

Was waren die Erwartungen hoch: Monatelang haben sich die Piraten auf ihren Bundesparteitag vorbereitet, haben an Programmanträgen gefeilt, im Netz diskutiert, geklickt, über ihre Lieblinge abgestimmt. Es sollte der große Wurf vor der Bundestagswahl werden. Mindestens. Nicht nur das Wahlprogramm, auch das Grundsatzprogramm galt es zu füllen. Die Piraten – in ihrer eigenen Metapher – zogen als majestätischer, glitzernder Schwarm vorbei; noch jeder Hecht, der an der Seite schwamm, wollte sich anschließen.

Doch dann das. Der Parteitag verliert sich in endlosen Debatten. Immer wieder stellt jemand die Tagesordnung in Frage, immer wieder neue Anträge zur Geschäftsordnung oder zur Satzung. Der Vorschlag eines Piraten, Zeitreisen intensiv zu erforschen, schafft es tatsächlich ins Plenum. Da hat sich der Wahlleiter aber schon erkrankt verabschiedet.

Der Parteitag wirkt, als würde man von oben Brötchenkrümel ins Wasser hineinwerfen: Plötzlich bricht die Form auseinander, sie zerfällt in Individuen, die sich bekämpfen. Und am Rand schwimmt irgendwo noch ein Raubfisch – der politische Widersacher –, der sich schon auf die Überreste der Schlacht freut. Ein heilloses Durcheinander.

So zumindest blicken nach dem Wochenende viele frustrierte Basispiraten und Journalisten auf diese Partei.

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Doch man könnte die Geschichte auch anders erzählen. Bei anderen Parteien gab es in der Vergangenheit ebenfalls chaotische Parteitage: Unvergessen etwa der Wasserpistolen-Einsatz bei den Grünen in Neumünster 1991. Danach verließ die Radikalökologin Jutta Ditfurth genervt die Partei. 2002 bekämpften sich bei der PDS in Gera Reformer und Traditionalisten. Jedes Mal sprach die Presse von einer „Zerreißprobe“, orakelte über den Untergang. Zu Unrecht, wie wir heute wissen.

Bei den Piraten könnten sich die scheinbaren Schwächen noch als Stärken entpuppen – weil nicht das Ziel, sondern der Wille zählt. Nicht die konkrete Forderung, sondern die Idee. Nicht der Fisch auf dem Teller also, sondern das ökologische Gleichgewicht im Meer.

Da wäre erstens das leidliche Thema Basisdemokratie. Wie oft haben wir uns alle das ultimativ gerechte Demokratieexperiment in unseren Köpfen vorgestellt, an den Schulen diskutiert? Ab auf die Insel, keine Hierarchien, stattdessen gleiche Mitbestimmung für alle: Kann eine solche Gesellschaft funktionieren? Bislang durfte man das nur denken. Der Praxistest verbot sich schon wegen der sozialen Unerwünschtheit solcher des Anarchischen verdächtigen Ideen. Doch während die Grünen die Basisdemokratie mit ihrer Urwahl jüngst aus einer kalten Machtblockade heraus taktisch anordneten, ist sie das Lebensprinzip der Piraten.

Ja, sie haben deren Grenzen auf dem Parteitag schmerzlich erfahren: Wie soll es bitte möglich sein, mehr als 1.800 Piraten zu jedem Thema zu Wort kommen zu lassen? Bochum aber ist nicht das Ende der Basisdemokratie. Die Piraten sind im Labyrinth der Demokratie in eine Sackgasse geraten, aber deswegen geben sie nicht auf. Sie drehen um und suchen neue Wege: dezentrale Parteitage etwa, eine ständige Mitgliederversammlung im Netz. Vieles wird diskutiert. Und im vorprogrammatischen Raum dürfen längst Nicht-Mitglieder mitentscheiden.

Seite 2: Wenn sie unspezifisch bleiben, können sie überall einsammeln

Bei der Programmatik verhält es sich genau andersherum. Jede klare Aussage – auch wenn sie geeignet ist, neue Gruppen anzuziehen – stößt potenzielle Wähler ab. Das mussten die Piraten lernen, als sie in Chemnitz 2010 das bedingungslose Grundeinkommen einführten: Viele Mitglieder verließen daraufhin die Partei; in Brandenburg löste sich gar der gesamte Landesvorstand auf .

Mit jeder Festlegung im Wahlprogramm wird die Klippe für die sich anschließende Realpolitik schärfer. Was dem Bürger versprochen wird, fordert er anschließend auch ein. Aber im Parlamentsbetrieb werden viele Forderungen schon sehr bald pulverisiert. Übrig bleibt der Frust des getäuschten Wählers.

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Genau hier liegt die Chance der Piraten. Sie leben vom Misstrauen gegen das System und gegen andere Parteien. Und wenn sie unspezifisch und luftig bleiben, können sie überall einsammeln: bei den Nichtwählern, den nebulösen Wechselwählern oder den enttäuschten Stammwählern anderer Parteien. Viele dieser Leute lesen sowieso keine Parteiprogramme. Und für diejenigen, die sie doch lesen, würden sich die Piraten mit einem allzu spezifischen Programm allen anderen Parteien angleichen.

Deshalb ist es sogar gut, dass alles, was in Bochum beschlossen wurde, in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung konsensfähig ist. In der Wirtschaftspolitik war das etwa das Bekenntnis zu Ökologie, Globalisierung und zum Mindestlohn. Das überraschendste Bekenntnis – der Abschied von der Vollbeschäftigung – ist für ein Programm neu und originell, aber ebenfalls innerhalb des demokratischen Parteienspektrums universell anschlussfähig. Auch bei der Außenpolitik haben die Piraten nicht etwa eine konkrete Forderung formuliert, sondern eine Idee: Die Europapolitik sei keine „Außenpolitik“ mehr, sondern vielmehr Innenpolitik.

Darin drückt sich auch ein kosmopolitisches Lebensgefühl aus. Die Piraten begreifen die Welt nicht atomisiert, sondern vernetzt. Damit ist nicht nur das Internet gemeint, sondern auch das globale Handeln, der freie Zugang zu öffentlichen Gütern.

Und genau darin liegt die Chance der Piraten: Sie sollten weiter Protestpartei sein, nach der Basisdemokratie suchen und ihr Lebensgefühl bedienen. Sie müssen eine Projektionsfläche für die Wünsche und Hoffnungen der Wähler bleiben.

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