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Tröglitz-Debatte - Es gibt keinen demokratischen Rassismus

Die Gewalt gegen Migranten und Flüchtlingen nimmt zu. Rassistische Vorurteile und aggressive Fremdenfeindlichkeit sind nicht Ausdruck „berechtigter Sorgen“, sondern Bausteine rechtsextremer Ideologie. Rassismus bleibt Rassismus

Autoreninfo

ist Journalist und Buchautor. Er hat Politikwissenschaft, Journalistik und Neuere Geschichte studiert und ist Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule. Am 1. März erscheint im freiraum-verlag sein Roman "Vorhofflimmern", der von der Gewöhnung an rechte Gewalt in Ostdeutschland erzählt.

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Auch Tröglitz ist nun also stigmatisiertes Synonym. So wie Rostock-Lichtenhagen zum Symbol für ein Pogrom wurde, dem die Polizei tatenlos zusah. Wie Mölln und Hoyerswerda bis heute für die enthemmte rassistische Gewalt der 90er Jahre stehen, so wird die gewaltbereite Abwehr von Flüchtlingen über den Tag hinaus mit dem Namen eines kleinen Ortes in Sachsen-Anhalt verbunden sein. Ein Ortsvorsteher, der vor Neonazis kapituliert. Morddrohungen gegen den Landrat. Brandstiftung in der geplanten Asylunterkunft. Danach: Der politische Aufschrei. Die Warnung vor dem Ansehensverlust im Ausland. In seiner austauschbaren Alltäglichkeit ist Tröglitz ein beinahe willkürlicher Aufhänger für eine überfällige deutsche Debatte. Gemeint ist damit wohlgemerkt der Diskurs um Rassismus – nicht eine Asyldebatte.

Ist Tröglitz überall?
 

Tröglitz steht nicht für eine neue Qualität von Fremdenfeindlichkeit oder rechter Einschüchterung. Morddrohungen und rechte Gewalttaten sind alltäglich geworden. Opfer sind seit langem Migranten, Obdachlose, alternative Jugendliche, Politiker, Journalisten. Für die Frage, welche Zustände im Land herrschen, ist beinahe unerheblich, wer in Tröglitz als Brandstifter der künftigen Asylunterkunft ermittelt wird. Die Frage, ob Tröglitz überall ist, wie von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) behauptet, lässt sich sowohl mit ja als auch mit nein beantworten. Ja, überall in Deutschland gibt es Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten. Und in allen Regionen gibt es Solidarität und Hilfsbereitschaft.

Wie verbreitet gewalttätiger Hass auf Fremde ist, darf weder als bauchgefühlte Ansichtssache noch als politisch motivierte Entschuldigung verhandelt werden, sondern lässt sich mit Zahlen belegen. Im vergangenen Jahr gab es nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) mit 162 rechtsextrem motivierten Angriffen auf Asylunterkünfte fast drei Mal so viele wie im Jahr 2013. Mehr als die Hälfte davon, nämlich 92, wurden in den ostdeutschen Bundesländern verübt. Das ist eine Folge der gesellschaftlichen Klimaverschärfung.

Seit Pegida steht die Frage unbeantwortet im öffentlichen Raum, wo in der pluralistischen Gesellschaft einerseits die Grenze zur Intoleranz gezogen werden müsse und was man andererseits ja wohl noch sagen dürfe. Der ehemalige Innenminister Otto Schily (SPD) hat dazu erklärt, Ängste seien eine politische Realität. Das Wort von den „berechtigten Sorgen und Ängsten der Bürger“ ist ein politisch geflügeltes geworden, das sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten mitunter gern benutzen, um jene nicht als ausländerfeindlich zu stigmatisieren, die gegen „Islamisierung“, „Überfremdung“ oder „Asylanten“ auf die Straße gehen. In dieser Sichtweise verläuft die Grenze zwischen Neonazis und empörten, aber „gutwilligen“ Bürgern, was auch immer gutwillig heißen mag. Was zur Folge hat, dass zwischen guter und böser Ausländerfeindlichkeit, zwischen neonazistischem und bürgerlichem Rassismus unterschieden wird. Als ließe sich der Grad von Radikalität allein daran erkennen, wer ein und dasselbe Argument benutzt.

Konservative flankieren die Debatte um die deutsche Identität mit dem Diskurs um eine angebliche „Meinungsdiktatur“ der political correctness, wonach es in Bezug auf Migranten eine geradezu monolithische Einheitsberichterstattung gebe, die abweichende Positionen unterdrücke. Empirisch lässt sich das kaum belegen. Im Gegenteil, nichts sorgt für mehr Aufmerksamkeit als der kalkulierte Tabubruch. Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ wurde in Auszügen nicht nur von Bild, sondern auch vom Spiegel vorab gedruckt. Kaum jemand war in den politischen Talk-Runden präsenter als Sarrazin, der nicht mundtot gemacht wurde, sondern im Gegenteil in aller Munde war. Allerdings gibt es den Tabubruch nicht ohne Widerspruch. Sarrazins Eugenik wurde nicht mit der Moralkeule erschlagen, sondern argumentativ zerlegt.

Angriff auf Menschenwürde muss tabu sein
 

Parallel zur anwachsenden Pegida-Bewegung wurde in Presse und Fernsehen breit über die ansteigende „Flüchtlingswelle“ und daraus resultierende Probleme für die Kommunen berichtet. Leitartikler forderten, Abschiebungen zu forcieren. Der kriminelle Ausländer ist sogar ein Klassiker unserer Populärkultur. Die mörderische Kriminalität ausländischer Mafia-Clans ist ein beliebter Topos im sonntäglichen „Tatort“. Auch in Bürgeranhörungen gegen geplante Asylunterkünfte kann man erleben, dass es die behaupteten Sprachverbote in Bezug auf Migranten vielerorts nicht gibt. Bei solchen Veranstaltungen werden Asylbewerber bisweilen pauschal als Kriminelle, Vergewaltiger, Drogendealer und Krankheitsüberträger angeprangert.

Noch drastischer wird in Internetforen formuliert, wo Flüchtlinge nicht selten „Dreckspack“ genannt werden, das es verdient habe, abgeknallt oder angezündet zu werden. Wo jeder Asylbewerber ein „Scheinasylant“ ist, der auf „unsere“ Kosten lebt. Etliche Forenbeiträge wären durchaus strafrechtlich relevant, wenn sie denn jemand anzeigen würde. In den überhitzten öffentlichen und virtuellen Debatten braucht es gerade nicht jene Tabulosigkeit, die von Kritikern einer vermeintlich diktatorischen political correctness eingefordert wird. Im Gegenteil: Der Angriff auf die Menschenwürde muss tabu sein. Wie es der erste und wichtigste Artikel des Grundgesetzes vorsieht.

Diese Würde aber ist antastbar geworden. Die neue Qualität der Post-Pegida-Debatte um Flüchtlinge, Asyl und „Überfremdung“ ist, dass erstmals eine offen rassistische Bewegung als relevanter gesellschaftlicher Akteur auftritt, deren Anhänger sich freilich selbst nicht als rassistisch betrachten. Die gleichwohl das vorurteilsgespeiste Ressentiment zum ernst zu nehmenden Argument erheben möchten. In Demokratien gibt es Rassismus. Es gibt aber keinen demokratischen Rassismus. Wer Flüchtlingen oder Muslimen unabänderliche Kollektivmerkmale zuschreibt und daraus politische Forderungen ableitet, denkt und handelt rassistisch, egal, ob er organisierter Neonazi oder empörter Bürger ist.

Irrationalität darf auch dann nicht politisches Handeln steuern, wenn sie populär ist. Genauso wenig wie eine von Blockupy-Aktivisten beschworene „Wut“ die Gewaltexzesse von Frankfurt legitimieren kann, haben diffuse Ängste vor Flüchtlingen per se dadurch einen rationalen Kern, dass sie existieren. Der Grat zwischen der Sorge, ob die Aufnahme von Flüchtlingen sozial verträglich organisiert wird, und einem aggressiven Abwehrreflex ist schmal. Fest steht, dass die anschwellenden Proteste vor Asylbewerberunterkünften keinen kathartischen, befriedenden Effekt hatten. Das Bundesinnenministerium erkennt einem Sprecher zufolge einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Demonstrationen vor Asylunterkünften und dem Anstieg von Angriffen. Rechtsextremismus-Forscher Oliver Decker analysiert, fremdenfeindliche Straftäter handelten in dem Glauben, lediglich den „Volkswillen“ zu exekutieren.

In seiner aktuellen Studie „Die stabilisierte Mitte“ bestätigt Decker einen seit Jahren anhaltenden Trend. Die Mitte-Studien messen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung rechtsextreme Einstellungen, nämlich Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Befürwortung einer Diktatur, Antisemitismus und Verharmlosung der NS-Diktatur. Der Befund: Zwar nehmen rechtsextreme Einstellungen insgesamt ab. Dafür werden bestimmte Gruppen wie Asylsuchende, Muslime sowie Sinti und Roma seit geraumer Zeit besonders massiv abgewertet. Trotz des allgemein rückläufigen Trends ist demnach ein Viertel der Bundesbürger ausländerfeindlich eingestellt. In Ostdeutschland, wo deutlich weniger Ausländer leben, ist es sogar ein Drittel. 31,5 Prozent der befragten Ostdeutschen stimmen der Aussage zu, die Bundesrepublik sei durch „die vielen Ausländer in gefährlichem Maß überfremdet“, was das Ideal einer ethnischen und kulturellen Homogenität voraussetzt.

Decker nannte Ausländerfeindlichkeit einmal die „Einstiegsdroge“ in den Rechtsextremismus. Das Modell der Leipziger Forschergruppe liefert trennscharfe Kategorien. Denn in der Tat lehnt nicht jeder, der ausländerfeindlich eingestellt ist, die Demokratie ab oder verherrlicht den Nationalsozialismus. Umgekehrt ist eine völkisch motivierte Ausländerfeindlichkeit jedoch der wichtigste gesellschaftspolitische Ideologiebaustein des Rechtsextremismus. Selbst die NPD hat über Jahre nicht offen gegen die parlamentarische Demokratie agitiert, sondern ist aggressiv für das Recht auf eine homogene deutsche Volksgemeinschaft eingetreten, inklusive „Rückführung“ von Ausländern. Wenn nunmehr Bürger mit Neonazis gemeinsam gegen vermeintliche „Überfremdung“ auf die Straße gehen, dann ist das kein zufälliges Bündnis, sondern eine inhaltlich begründete Interessengemeinschaft gegen die pluralistische Gesellschaft.

Der Versuch, das Problem auf Extremismus zu reduzieren, ist gescheitert. Nicht eine allgemeine Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung fordert seit Jahren immer wieder Todesopfer, sondern zielgerichteter Hass auf Ausländer, Obdachlose oder Menschen mit dunkler Haut. Die ostdeutschen Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt haben im vergangenen Jahr einen rasanten Anstieg rassistischer Gewalttaten registriert. Die Gesetzesnovelle der Bundesregierung, wonach bei einer Straftat ein ideologisches Motiv strafverschärfend berücksichtigt werden kann, reicht nicht aus, um Strafverfolger zu sensibilisieren. Um sicher zu stellen, dass Staatsanwaltschaften rassistische oder sozialdarwinistische Motive nicht ignorieren, könnte ein eigener Straftatbestand helfen. Die landläufig „Hasskriminalität“ genannten Delikte beruhen auf gruppenbezogenen Vorurteilen. Diese werden zum Beispiel bei den Ermittlungen von Tötungsdelikten an Obdachlosen – so eine Zeit-Recherche vor einiger Zeit – regelmäßig ignoriert. Der Schock über den NSU-Terror hat daran nichts geändert.

Ausländerfeindlichen Taten gehen Stimmungen voraus. „Häufig bleibt es nicht bei Hassreden, oft sind Worte die Vorstufe von Taten“, so Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD). Wer sich ausländerfeindlichen Positionen politisch anbiedere, legitimiere sie, warnt Rechtsextremismus-Forscher Decker. Der ehemalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye fordert, die Gesellschaft müsse sich „ehrlich machen“, was die Verbreitung von Alltagsrassismus angeht. Dazu gehört zuallererst, Rassismus beim Namen zu nennen. Nicht jede Kritik an der Asylpraxis ist ausländerfeindlich. Aber kollektive Stigmatisierungen bleiben auch dann rassistisch, wenn das Gegenteil behauptet wird. Noch immer sympathisieren viele mit Pegida und sind mit sich im Reinen, obwohl an der Spitze der Bewegung ein Rassist steht, der Flüchtlinge als „Dreckspack“ und „Viehzeug“ bezeichnet hat.

Entgegen des offenbar weit verbreiteten Eindrucks angeblich herrschender Sprach- und Denkverbote findet derzeit eine gefährliche Entgrenzung statt. Diese lässt sich daran ablesen, dass Berührungsängste gegenüber Neonazis gefallen und diese von allzu vielen als Bündnispartner akzeptiert werden. Und sie lässt sich am Verbalradikalismus auf Demonstrationen und in Internetforen ablesen: an Vokabeln wie Lügenpresse, Volksverräter, Scheinasylant, Wirtschaftsflüchtling, Schmarotzer. Wer diese Verrohung der politischen Kultur als Befreiung feiert, muss sich fragen lassen, worin der gesellschaftliche Nutzen liegen soll. Positive Effekte sind nicht erkennbar, der Anstieg fremdenfeindlicher Gewalt ist hingegen messbar.

Tradition des Wegschauens
 

Es gibt eine lange bundesrepublikanische Tradition, Rassismus wegzudeuten. Nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wurde das Asylrecht verschärft. Die rassistische Gewalt wurde als jugendlicher „Frust“, als Ausdruck von „Perspektivlosigkeit“ und Nachwende-Verunsicherung interpretiert. Richtig ist, dass sich die gesellschaftliche Lage Anfang der 90er Jahre deutlich von der heutigen unterscheidet. Umso beunruhigender ist, dass sich die neue Welle von Rassismus in einer Phase sinkender Arbeitslosenzahlen Bahn bricht. Sozialforscher Decker spricht von „sekundärem Autoritarismus“.

Aggressionen richten sich demnach nicht gegen das System, weil dieses immerhin wirtschaftliche Stabilität produziert, sondern gegen Zugezogene und Flüchtlinge. Migranten werden allein daran gemessen, ob sie Deutschland einen monetären Nutzen bringen. Diese Ökonomisierung von Humanität wird spätestens in Krisenzeiten brandgefährlich. Dann erscheinen Minderheiten als nutz- und wertlos. Es ist absehbar, dass schon bald nicht nur gut ausgebildete Fachkräfte zu uns kommen werden, sondern auch andere. Die Politik muss Lösungen erarbeiten, wie ehrgeizige, aber ungenügend Ausgebildete sinnvoll integriert werden können. Die Rezepte Spracherwerb und schnelle Arbeitserlaubnis sind bekannt und müssen ausgebaut werden.

Täglich beweisen engagierte Bürger, Bürgermeister, Kirchengemeinden und Vereine, dass es trotz finanzieller und räumlicher Engpässe, großer Flüchtlingszahlen und interkultureller Probleme, die sich aus verschiedenen Erfahrungen und Sozialisationen ergeben, möglich ist, Flüchtlinge respektvoll und menschlich aufzunehmen. Es gibt weder eine kollektive, quasinatürliche Aufnahmebereitschaft, noch eine objektive Grenze, wann diese erschöpft ist.

Wie Asyl und Migration gesetzlich zu regeln und zu organisieren sind, muss öffentlich debattiert und parlamentarisch entschieden werden. Derzeit stehen sich zwei unversöhnliche Lager gegenüber. Die einen, denen Flüchtlinge und Migranten Angst machen und die weniger von ihnen im Land haben möchten. Und die anderen, die Zuwanderung nicht nur als Realität akzeptiert haben, sondern sie zur Grundlage einer modernen deutschen Gesellschaft machen möchten. Einwanderungsgesetz? Punktesystem? Das sind Fragen von demokratischen Mehrheiten. Nach dem „Asyl-Kompromiss“ der 90er Jahre haben alle Parteien das Thema Zuwanderung gemieden, um den Furor nicht zu wecken. Jetzt ist der Furor geweckt. Wir müssen reden, werben, überzeugen, Kompromisse finden. Auch streiten. Aber bitte mit Respekt.

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