- Dankt der Rechtsstaat ab?
Kisslers Konter: Der Staat zeigt Härte, wenn es um Wirtschaftsdelikte, wenn es um die Einnahmeseite geht. Viel zu soft aber verteidigt er die öffentliche Ordnung
Woran erkennt man einen funktionierenden Rechtsstaat? Zunächst einmal daran, dass er das Leben seiner Bürger schützt, dass er die Daseinsfürsorge allen unterschiedslos zuteil kommen lässt und dass vor seinen Gesetzen alle gleich sind. Gerade ein Staat, der sich als liberal begreift – wie es die Bundesrepublik tut –, muss seinen illiberalen Feinden mit Härte begegnen. Vor diesem Hintergrund ist Deutschland derzeit ein Staat ohne Mitte.
Keine sechs Wochen ist es her, da kapitulierte der Rechtsstaat vor islamistischen Freiheitsfeinden. Der Braunschweiger Faschingsumzug fiel aus, weil es Hinweise auf terroristische Anschläge gab. Der öffentliche Raum wurde preisgegeben, die Versammlungsfreiheit kassiert. In der vergangenen Woche kapitulierte der Rechtsstaat vor linksextremen Freiheitsfeinden. Diese verwüsteten die Frankfurter Innenstadt rund um die Europäische Zentralbank, richteten Sachschäden in Millionenhöhe an, verletzten rund 150 Beamte, um auf ebenso kranke wie brutale Weise „ein Zeichen zu setzen“ gegen „das System“. Die Polizisten konnten Schlimmes nicht verhindern, sollten es wohl nicht. Den Grund benannte nun ein beteiligter Polizist, der zufälligerweise mit dem Schrecken davonkam: „Und dann heißt es seitens der Führung immer Rückzug, Rückzug, Rückzug. (…)
Was muss denn noch passieren? Wenn fünf, sechs Streifenwagen brennen, wenn über achtzig Kollegen verletzt sind und zehn Häuser entglast sind – wie lange wollen wir Deeskalation betreiben?“ Immer öfter fühle er, der einen Beitrag für die Gesellschaft leisten wolle, sich von ebendieser in Stich gelassen, er, der „Depp in Uniform.“
Die Relation stimmt nicht
Wehe aber, der Staat hat sein Auge auf Steuerhinterzieher, Mindestlohnbetrüger, Rundfunkbeitragsboykotteure oder Werkvertragstrickser gerichtet. So schnell kann der Delinquent nicht schauen, wie ihm der Staat auf die Pelle und ins Haus rückt. Allein das Hauptzollamt Erfurt setzt 370 Mitarbeiter ein, um – gerne in den Morgenstunden – die Einhaltung des Mindestlohnes zu kontrollieren, peinliche Befragungen vor Publikum inklusive. Zöllner sind offenbar generell unausgelastet, sollen sie laut Sozialministerin Andrea Nahles doch nun auch zu Werkstoren ausschwärmen, dem „Missbrauch von Werkverträgen“ auf der Spur. Zwangsvollstreckung und Kontenpfändung riskiert, wer dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht den vorgeschriebenen monatlichen Obulus von knapp 18 Euro pro Wohn- oder Betriebsstätte entrichten will. Und dass Steuerbetrüger gerne zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, deren Dauer dem Totschläger Respekt abnötigt, wundert uns kaum. Da ist schnell Schluss mit lustig.
Die Vergehen sollen nicht bagatellisiert werden; auch skurril oder überzogen erscheinende Gesetze sind einzuhalten, sofern sie auf demokratischen Pfaden zustande kamen. Doch die Relation stimmt nicht. Der Staat zeigt seine Knute, sobald die Herzkammer seines Wirtschaftens berührt ist, sobald es um die Einnahmeseite geht, den Fiskus, das Geld, die Moneten, den Zaster. Soft tritt er jenen Kräften gegenüber, die ihn verspotten und angreifen, ohne gleich einen Beutezug in seinen Geldspeicher zu planen. Für jedes Vergehen auf den Straßen wider die öffentliche Ordnung gibt es eine mal sozialtherapeutische, mal politiktheoretische, mal kultursensible Entschuldigung. Da weicht der Staat zurück, da gibt er bei, da ist er ein Gerneklein in viel zu großen Hosen, ein Relativist reinsten Wassers. Dogmatisch ist er in Ansehung des eigenen Kontos. Schlössen sich Linksextremisten und Islamisten zu einem internationalen Anti-Fiskal-Bündnis zusammen: der Spuk wäre morgen beendet.
Einstweilen aber drohen sie nur mit brennenden Autos, Synagogen und Bushaltestellen, mit Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der körperlichen Unversehrtheit.
Woher stammt der masochistische Zug? Der bundesrepublikanische Staat hat ein schlechtes Gewissen und ein mieses Gedächtnis. Deeskalation ist die einzige Antwort, die er in jeder Auseinandersetzung zu geben wagt, die auch nur von ferne nach Weltanschauung riecht. Um neutral zu erscheinen, lässt er auch manch falsche Partei auf den Straßen sich austoben. Nichts fürchtet er mehr, denn als Ordnungshüter wahrgenommen zu werden. Ordnungsflüchtig ist er geworden, seit ein Übermaß an Ordnung in zwei Diktaturen ausschlug. Weil seine Erinnerung zu kurz ist und über diese Erfahrungen kaum hinausreicht, ist ihm die Grundlektion des Liberalismus fremd: Kein Pardon darf die Freiheit den Freiheitsfeinden geben. Man schlage nach bei Rüstow oder Lord Acton.
Für die im Frankfurter „Blockupy“-Einsatz gedemütigten Polizisten käme solche Einsicht zu spät: „Man hält seinen Kopf für dieses System, diesen Staat, für die anderen Bürger hin. Aber die Wertschätzung fehlt.“ Nicht nur das. Es fehlt an einer Bereitschaft des Staates, die Prioritätenliste vom Kopf auf die Füße zu stellen. Erst kommt die Sicherheit für alle, die der Freiheit Raum schafft, der Kampf also gegen die kriminellen Feinde der offenen Gesellschaft, danach der eigene Etat, das staatliche Auskommen. Ist das so schwer zu begreifen?
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