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Gerechtigkeitsdebatte - In unserer Demokratie regiert der Sozialneid

Kolumne Stadt, Land, Flucht: Eigentlich sollten Mitgefühl und Vertrauen für eine Solidargemeinschaft prägend sein. Doch stattdessen beäugen wir misstrauisch unser Umfeld: Haben andere mehr als ich?

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Wie das so ist, wenn man dem Elektriker zuhört, während der seine Weltsicht darlegt: Leicht abwesendes Nicken zur Krise, zu faulen Kollegen und der schlechten Materialverarbeitung heutzutage. Plötzlich aber wird es politisch: „...und schon kann jeder Krausgelockte, der ein bisschen Bongo Bongo spricht, hier ankommen und bekommt sein Geld in den Rachen geschmissen.“ Zusammenzucken, Abbruch des Gesprächs, man sei dann ja fertig für heute, nicht wahr?

Der Sozialneid in Deutschland ist allgegenwärtig. Wir sehen es zurzeit in vielen Kommunen der Republik, in denen sich Einwohner gegen anreisende Flüchtlinge in Stellung bringen. Nach oben und nach unten wird eifersüchtig verglichen. Paradox, dass in einer wohlstandsgeprägten Solidargemeinschaft diese „Schamteile der menschlichen Seele“ (Nietzsche) nicht auszumerzen sind. In einer zutiefst ungerechten hierarchischen Ständegesellschaft war der Bauer dagegen nicht neidisch auf den König, wie der Psychiater François Lelord schreibt. Er fand sich mit seinem Schicksal ab.

Dabei ist das Schauen auf den Vorteil des anderen nicht immer schlecht. Die Psychologen Sarah Brosnan und Frans de Waal haben sich einer Sammlung von bereits bestehenden Studien angenommen, um ihre These zu untermauern, dass das Feingefühl für Gerechtigkeit evolutionäre Vorteile eröffne. Ohne kooperatives Verhalten würden die Gewinne einer Gemeinschaft schließlich nicht geteilt. Und dieses Wissen wiederum biete den Menschen Sicherheit. Was mit Kindern und bunten Smarties bestens funktioniert, bewiesen auch die Kapuzineräffchen im Versuch der beiden Wissenschaftler: Bekam einer der Affen eine süße Traube und der andere lediglich ein Stück Gurke, raste letzterer vor Wut. In weiteren Experimenten beobachteten sie, dass Schimpansen ihr Futter teilten, selbst wenn sie selbst dadurch weniger bekamen – ein Zeichen für Fairness.

Was wird als gerecht empfunden?


Ohne Mitgefühl, Vertrauen und einen kollektiven Sinn für Gerechtigkeit funktioniert unser gesellschaftliches Konstrukt aus Wohlstand und wirtschaftlichem Erfolg also nicht.

Was aber wird als gerecht empfunden? Das versuchten kürzlich Michael Norton von der Harvard Business School und Sorapop Kiatpongsan von der thailändischen Chulalongkorn University zu eruieren. Sie befragten Menschen in 40 Ländern darüber, welcher Gehaltsunterschied zwischen einem einfachen Mitarbeiter und dem verantwortungsvollen Job des Chefs als angemessen empfunden wird. Das Ergebnis: Weltweit wünschten sich die Befragten ein Verhältnis des 4,6-Fachen. In Wirklichkeit aber verdienen CEOs weit mehr. Der Lohn des VW-Chefs Martin Winterkorn etwa betrug im Jahr 2011 rund 17,5 Millionen Euro. Das war das 350-Fache eines durchschnittlichen Mitarbeiters.

Aber es gibt noch etwas anderes, das in den Studien nicht erwähnt wird. Bei all dem Rufen nach Fairness und Gerechtigkeit geht es nicht nur um vergleichbare Gehälter, um Smarties oder Gurkenscheiben. Es geht um die Möglichkeit, den Kopf oben zu tragen. Um Selbstwert und Würde. Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat diese „Politik der Würde“ beschrieben, in der neben der gerechten Verteilung von Ressourcen, von Wohlstand und der ebenbürtigen Wertigkeit vor dem Gesetz vor allem jene Würde des Menschen unverletzbar bleiben muss.

Ein Herr Winterkorn kann uns den Buckel runterrutschen, ein Nachbar mit protzigem Schlitten auch und der Flüchtling, dem wir Hilfe gewähren, ist nicht länger ein Feind, wenn wir selbst uns nur wertig und würdig fühlen. Daran wiederum kann jeder selbst arbeiten: An seinen Beziehungen, am Zusammenhalt in der Familie, an dem Gefühl, gebraucht zu werden. Man braucht dafür nicht mal mehr Geld auf dem Konto.

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