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(picture alliance) Frank Schirrmacher über die Linke, die recht hat

Gesellschaftskritik - Frank Schirrmacher und die Erosion des Bürgertums

Schirrmachers Text über die „Linke, die recht hat“, ist nicht einfach eine bedenkenswerte Analyse, sondern ein Dokument tiefer Verunsicherung. Ein Versuch, die geistige Situation der Zeit zu verstehen. Dabei geht es vor allem um die Erosion im bürgerlichen Milieu selbst.

„Es hat mehr als dreißig Jahre gebraucht, bevor ich mir als Journalist selbst diese Frage gestellt habe, aber in dieser Woche, so empfinde ich es, muss ich es einfach machen: Hat die Linke nicht am Ende recht?“ Mit diesem Satz hat ein renommierter britischer Journalist – konservativ, Autor einer unveröffentlichten autorisierten Biographie Margret Thatchers – im Telegraph seine Kolumne eröffnet.

„Die Reichen, fährt er fort, befördern ein globales System, das ihnen erlaubt, Kapital anzuhäufen und den geringstmöglichen Preis für Arbeit zu zahlen. Die Vielen müssen härter arbeiten, unter zunehmend unsichereren Bedingungen, damit die Wenigen sich bereichern können. Demokratische Politik, die behauptet, zum Wohlstand der Vielen beizutragen, liegt tatsächlich in den Händen jener Banker, Medienbarone und anderer Moguls, die alles in Händen halten und denen alles gehört. “Das ist, für einen Konservativen, mehr als ein Alarmruf, es grenzt an schiere Verzweiflung. Frank Schirrmacher, einem der Herausgeber der FAZ, ist zu danken, den Blick auf Charles Moores Hilferuf gelenkt zu haben.

Mehr als das: In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schloss er sich Moore geradezu emphatisch an. Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppe sich „als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik“, zürnte er. Die Krise der sogenannten bürgerlichen Politik entwickle sich zur „Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus“. Sätze, die falsch waren, würden plötzlich richtig. Wörtlich: „Dann beginnen die Zweifel, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang.“

Ich lese Schirrmachers Text über die „Linke, die recht hat“, nicht einfach als eine bedenkenswerte Analyse, sondern als Dokument einer tiefen Verunsicherung. Etwas davon haftete auch einer Rede Erwin Teufels an, der jüngst beklagte, dass in seiner Partei, der CDU, die heiligsten Güter und Glaubenssätze vom Tisch gewischt würden, kein Respekt vor Grundsätzen und Werten, nirgends. Schon Teufel drückte mehr aus als ein Unbehagen beim Versuch, die Irrungen und Wirrungen Angela Merkels begreifen zu wollen. Dabei helfen nun Moore/Schirrmacher: Was sie machen, ist ein allererster Anlauf, „die geistige Situation der Zeit“ zu verstehen.

Der Philosoph Karl Jaspers hatte im Jahr 1931, Zeiten tiefster Verunsicherung in Deutschland und Europa, in einem berühmten Göschen-Bändchen zu deuten versucht, was gerade geschieht und sich anzubahnen droht. 1979 gab Jürgen Habermas daran angelehnt zwei wunderbare Suhrkamp-Bände unter dem Titel „Stichworte zur 'geistigen Situation der Zeit'“ heraus, Zeiten größter Unsicherheit, ob die Entspannung zwischen den Supermächten zu retten und ein nuklearer Konflikt in Europa zu vermeiden sei. Ich erwähne das, weil ich glaube: mit ähnlich großen Ungewissheiten sind wir heute konfrontiert.

Es gibt also wirklich allen Anlass, dieser „geistigen Situation der Zeit“ auf den Grund zu gehen. Dabei geht es vor allem um eine Erosion im bürgerlichen Milieu selber. Die Politik, schreibt Schirrmacher, habe das Wort „Bürgertum“ so gekidnappt wie einst der Kommunismus den Proletarier. Es gehe – unter dem Deckmantel „bürgerliche Politik“ – nicht um falsches oder richtiges Handeln, sondern darum, dass „die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind“. Zum Teil stützt er sich dabei auf Moore, der die Belege auf der Perlenschnur sammelt: Murdoch; die Kredit-Praktiken; die Banken-Gier. Kurzum, die Leute hätten ihren Glauben an den freien Markt, an die westliche demokratische Ordnung verloren. Aus ökonomischen Problemen würden so unweigerlich moralische Probleme.

Sicher, Schirrmacher skizziert nur die Oberfläche der Krise. Zum Ausdruck kommt dabei aber immerhin eine ins Mark getroffene, gespaltene Bürgerlichkeit. Seiner Zeitung, der FAZ, war das bereits abzulesen, als sie entgeistert eine Kanzlerin erlebte, die Karl Theodor zu Guttenbergs plagiierte Doktorarbeit durchwinken wollte. Das schärfste und, wie ich meine, beste Buch über Thilo Sarrazin und die neuen Fundamentalisten, die bei einer haltlosen Bürgerlichkeit Jubel auslösten, verfasste Patrick Bahners, Feuilleton-Chef des Frankfurter Blattes. Die anständige Bürgerlichkeit, der maßstäbliche Konservatismus hatten es satt, sich im Schatten einer immer windschnittigeren Politik alles gefallen zu lassen – auch den Verlust des eigenen Kanons. Assistenz leisteten die Ordo-Liberalen, die einen geordneten Marktprozess gegen jeden Marktradikalismus verteidigten.

Moore wird am Ende trotz aller Enttäuschung nicht die Seiten wechseln – und Schirrmacher wird gut bleiben für Überraschungen. Was sie beide in ihren ersten Eruptionen nicht leisten, ist, den Wurzeln für diese neue Unsicherheit nachzuspüren. Auffallend ist ja, dass trotz dieses anschwellenden Bocksgesangs von der „Linken, die (vielleicht) recht hatte“, in Europa praktisch nur Mitte-Rechts oder die Konservativen in der Politik dominieren. Die ökonomischen Krisen und Selbstenthüllungen haben gerade nicht zu einer Renaissance der Linken geführt. Woher dieses Paradox?

Seit 1989/90, dem Ende des Systemkonflikts, scheint der Kapitalismus westlicher Provenienz gesiegt zu haben. Dem Urteil, wir seien am „Ende der Geschichte“ angelangt, ist zwar klug widersprochen worden – und dennoch: auch die demokratische Linke wurde gebeutelt von diesem Gefühl, da sei etwas dran. Alle Konflikte müssten künftig innerhalb dieser westlich-kapitalistischen Denkungsart ausgetragen werden. Der Neoliberalismus kam tatsächlich nicht wie eine Gehirnwäsche über uns, da hat Schirrmacher recht. Ja, er „bediente sich im imaginativen Depot des bürgerlichen Denkens: Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Achtung von individuellen Werten… bei gleichzeitiger Zähmung des Staats und seiner Allmacht“.

Alle arrangierten sich damit, alle Milieus versuchten, nach diesem „Ende der Geschichte“ mitzuspielen. Die einen beschleunigten das Tempo, die anderen bremsten ein wenig oder feilten scharfe Kanten ab, aber im Prinzip war die Sache gelaufen. Es setzten sich die Stärksten durch, in der Hobbesianischen Welt von heute trug die Politik die letzten Barrieren weg, um dem Markt Spielräume zu eröffnen. Sie baute nicht den Staat, sie baute sich ab. Alle sind Verlierer. Der politische Konservatismus trägt aber das aus, weil er 1989 und in der Ära der Globalisierung übrig blieb. Daher jetzt das jähe Erschrecken.

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