
- „Die Debatte ist unwissenschaftlich“
Die deutsche Familienpolitik sollte sich lieber an England und Frankreich orientieren, sagt Familiensoziologe Hans Bertram. Denn das hochgelobte schwedische Kitamodell sei fehlbar. Im Cicero-Online-Interview kritisiert der Forscher zudem den Streit über verschiedene Lebensformen
Professor Bertram, Deutschlands Familienpolitik ist
gescheitert, befindet eine viel beachtete Studie. Elterngeld, Kindergeld,
Ehegattensplitting – jeglicher Sinn dieser staatlichen Leistungen
wird angezweifelt. Wie ordnen Sie diese Debatte ein?
Ich empfinde sowohl die Untersuchung als auch die Debatte als
ziemlich unwissenschaftlich. Man kann das an der Kritik am
Ehegattensplitting sehen. Da wird nicht erkannt, dass es nicht zur
Geburtenförderung eingeführt wurde, sondern als Nachteilsausgleich
für Verheiratete, die bei einer Zusammenveranlagung höher besteuert
wurden als Nicht-Verheiratete. Das war der einzige Hintergrund für
dieses blöde Splitting. Aber kein Mensch wäre bei der Einführung
auf die Idee gekommen, es hinsichtlich der Familienplanung zu
prüfen.
Was
ist heute anders?
Heute haben sich die Lebensverläufe
verändert. Frauen bekommen mit 30 Jahren ihr erstes Kind, geben
sich Mühe, mit 32 das zweite zu bekommen. In früheren Jahrzehnten
haben sich die Frauen mehr Zeit gelassen. Sie fingen mit 23, 24 an
und waren erst mit 35 fertig. Das Ehegattensplitting ist für diese
Lebensläufe nicht geeignet.
Wo sollte man mit der Debatte eher
ansetzen?
Ich finde es viel interessanter, über
Lösungen nachzudenken, als jetzt darüber zu sprechen, was unsere
Altvorderen vor 40 Jahren unter ganz anderen Bedingungen falsch
oder richtig gemacht haben. Ich kann Geschichte nicht verändern.
Ich kann aber darüber nachdenken, wie ich die Zukunft gestalten
will. Deswegen finde ich die Diskussion ziemlich blöd.
Was müsste die Politik ändern?
In unserer
Studie haben wir vorgeschlagen, eine
Kindergrundsicherung von 300 oder 350 Euro einzuführen, die man von
der Steuerschuld abzöge. Das Kind des Millionärs wäre dem Staat
dann genauso viel Wert wie das Kind der Familie, die keine Steuern
zahlt. Hier käme das Finanzamt für die Grundsicherung auf. Damit
gäbe es auch keine Hartz-IV-Kinder mehr. Der Kinderschutzbund
schlägt vor, zu dieser ökonomischen Grundsicherung noch etwa 200
Euro für Bildungsgutscheine draufzulegen. So könnten die Eltern
entscheiden, was sie in Bildungsangeboten anlegen, ob sie davon die
Kita zahlen oder der achtjährigen Tochter Musik-, Nachhilfe- oder
Sportunterricht ermöglichen. Die Zahlungen gäbe es dann bis zum 18.
Lebensjahr.
Und alle anderen Leistungen der Familienpolitik fielen
weg?
Richtig. Alle Leistungen für Kinder würden
entfallen, es gäbe nur noch eine Kindergrundsicherung mit dem
Bildungsgutschein. Aber so etwas ist politisch nicht
durchsetzbar.
Gibt es denn keine Untersuchung der Bundesregierung in
diese Richtung?
Ich weiß natürlich nicht, was die
Bundesregierung genau tut. Soweit ich es aber einschätze, tun sich
die CDU und die SPD in Bezug auf die Kindergrundsicherung schwer
und zwar deswegen, weil die Grünen sie im Parteiprogramm haben.
Damit ist es eben nicht mehr eine vernünftige Lösung, sondern eine
grüne Lösung. Und das, obwohl der Sozialdemokrat Tony Blair das
Modell in England eingeführt hat. Ähnliches kennen wir auch von der
Regierung Clinton in den USA. Auch dort gab es früher diese
Splitting-Systeme. Man überführte sie damals alle in ein
Grundsicherungssystem, genannt Family Tax. Unsere gegenwärtige
Diskussion bewegt sich aber viel zu sehr im Gefängnis der alten
Lebensvorstellungen, um neue Perspektiven entwickeln zu können.
Was sagen die Kritiker der Grundsicherung?
Man hat immer Angst, die Falschen würden von so einer Politik
profitieren, lauter Kinder kriegen und sich in die soziale
Hängematte legen. Dabei gibt es dafür keinerlei Hinweise: Nur fünf
Prozent aller Mütter haben keinen Berufsabschluss. Deutschland
hatte noch nie eine so gebildete und gut qualifizierte
Mutterschaft. In den 70er Jahren noch hatte die Hälfte der
deutschen Mutterschaft keine Berufsausbildung. Heute steht
Deutschland mit der Frauen-Erwerbsquote an vierter Stelle in
Europa. In den vergangenen zehn Jahren hat sich eine stille
Revolution ergeben – und wir diskutieren die Probleme der 50er
Jahre.
Sie hantieren nun mit vollkommen anderen Zahlen als die
aktuellen Kritiker der Familienpolitik. Auch bei der viel
beschworenen niedrigen Geburtenrate kritisieren Sie und andere
Forscher, man müsse berücksichtigen, dass Frauen immer später
Kinder bekommen. Wenn man diesen „Tempo-Effekt“ einberechnete,
ergäbe sich auch eine viel höhere Geburtenrate…
Richtig.
Aber das Problem, dass es in der Arbeitswelt voller
unbefristeter Stellen und Unsicherheiten noch immer schwierig ist,
Job und Kinder zu vereinbaren, kann auch eine Kindergrundsicherung
nicht lösen, oder?
Ja, wir haben für den Nachwuchs in Deutschland ein hohes Maß an
Unsicherheit erzeugt. Im öffentlichen Dienst Anfang der 90er Jahre
hatte eine junge Frau durchschnittlich vier Jahre Berufstätigkeit
hinter sich, bevor sie sich fürs erste Kind entschied. Heute sind
es sieben Jahre. Im Pressewesen haben 60 Prozent keine Kinder, bei
einem großen Teil, etwa 70 Prozent, geht man davon aus, dass sie
partnerlos leben. Junge Frauen und Männer warten ab, bis sie eine
sichere Lebensperspektive haben. Erst dann entscheiden sie sich für
Kinder. Das ist in der Frage der Geburtenrate viel wichtiger als
die ganze Diskussion um finanzielle Umverteilungsprozesse.
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Sind wir an der hohen Partnerlosigkeit nicht auch selber
schuld, weil wir uns nicht entscheiden wollen, nicht fest
binden?
Es gibt in Amerika die Debatte des „Emerging Adulthood“, des sich
entwickelnden Erwachsenenalters. Früher war klar: Ökonomische
Selbstständigkeit, eigenes Haus, Heirat, Kinder. Durch die
verlängerte Ausbildung, die unsicheren Berufe dauert dieser Prozess
der Selbstständigkeit und eigenständigen Lebensführung sehr viel
länger. Deshalb spielen auch die Eltern länger eine Rolle. Sie
unterstützen die Kinder ökonomisch, die ziehen zwar aus dem
Elternhaus, kommen aber hin und wieder zurück. Es sind also
vielfältige Verhältnisse.
Und das wirkt sich auf unsere Beziehungen
aus…
Das traditionelle Modell hat Partnerschaft und
Sexualität eng verknüpft. Das ist in den letzten 50, 60 Jahren
aufgelöst worden. Heute hat man den ersten Partner mit 17 bis 18,
man heiratet aber mit 30. Die Frau hat dann im Durchschnitt vier
Partner gehabt. Sexualität wurde billiger, ist leichter verfügbar –
und keine Treueprämie mehr. Wir wissen noch nicht, welche
Konsequenzen sich aus diesem sich verändernden Lebensmuster für
langfristige Partnerbindungen ergeben. Wir können nur sagen: Wir
müssen akzeptieren, dass es heute viel schwieriger ist, eine
längere Partnerschaft zu haben, in der wir uns auch für Kinder
entscheiden.
Die Politik versucht noch immer, das Zusammenleben in
Kategorien zu bündeln. Die Wissenschaft sagt, die sind völlig
egal?
Ja, das tun wir. Es geht nicht um eine spezifische Lebensform, es
geht um die verbindliche Fürsorge für einen Dritten. In diesem Fall
um das schwächste Glied der Gesellschaft, nämlich die Kinder. Egal,
wie diese verbindliche Fürsorge organisiert ist, ob das ein
homosexuelles Paar, eine alleinerziehende Mutter oder die
Großeltern sind. Der Staat hat nur sicher zu stellen, dass dieses
schwächste Glied auf die verbindliche Fürsorge bauen kann.
Darunter könnte man dann auch die Pflege für Ältere
fassen?
Genau. Wenn zwei ältere Damen zusammenziehen
und sich umeinander kümmern wollen und die eine wird krank, wird
die andere nicht ausreichend informiert. Das sind Dinge, die in
unserer Gesellschaft nicht debattiert werden. Wir streiten über
Lebensformen, aber keiner fragt danach, wie Fürsorglichkeit
organisiert werden kann. Das ist das entscheidende Element. Und
diese private Solidarität kann ich nicht durch den Staat
ersetzen.
Jutta Allmendinger, Präsidentin des Berliner
Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, spricht von einer
32-Stunden-Woche, die für sie „die neue Vollzeit“ bedeutet. Ist das
Wunschdenken?
Die Diskussion um Stundenzeiten ist totaler Blödsinn, weil wir
heute eine projektorientierte Arbeit haben. Wenn Sie in einem Team
eine Computersoftware entwickeln, können Sie nicht sagen: Ich habe
meine 32 Stunden voll. Dann erwartet die Projektgruppe, nicht
einmal der Arbeitgeber, dass Sie das gemeinsam zu Ende machen. Das
Problem ist, dass wir noch keine wirkliche Antwort haben, wie diese
Projektarbeit gestützt werden kann.
Mit der flächendeckenden Kinderbetreuung ab einem Jahr
versucht die Politik es dem Vorreiter Schweden
nachzumachen.
Wir bauen die Kinderbetreuung institutionell aus. Es wäre aber
vielleicht viel besser, wie es die Franzosen gemacht haben: Dort
hat man auf hoch qualifizierte Tagesmütter gesetzt. Wenn Sie in
dieser anderen Situation jemanden haben, der hoch qualifiziert ist,
dann kann der in einer Woche ranklotzen, weil er sein Kind in guten
Händen weiß. In der darauffolgenden Woche wiederum kann er sich
mehr mit dem Kind beschäftigen. So etwas ließe sich mit einer
Tagesmutter besser aushandeln. Wir übernehmen jetzt das schwedische
System und nicht das französische. Und da ist die Variationsbreite,
die Flexibilität gering. Ich denke, auch darüber müssten wir eine
Debatte führen.
Herr Bertram, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Marie Amrhein
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